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Schier unlösbare Probleme gehören zum Alltag der Vision-Branche

Industrielle Bildverarbeitung: Jede Anwendung ist für den Hersteller eine neue Herausforderung
Schier unlösbare Probleme gehören zum Alltag der Vision-Branche

Dem Ingenieur ist nichts zu schwör. Das gilt vor allem für diplomierte Techniker, die in der industriellen Bildverarbeitung zu Hause sind. Mit Mut und Kreativität schrauben sie das Prozessniveau in der Fertigung nach oben.

Von unserem Redaktionsmitglied Uwe Böttger uwe.boettger@konradin.de

Zehn Stunden Bildverarbeitung pur haben die rund 70 Teilnehmer des „Solution Day“ bei dem Vision-Hersteller Quiss GmbH in Puchheim hinter sich. „Wir können nichts und können alles.“ Mit diesem merkwürdigen Satz, der fast von Nietzsche stammen könnte, fasst Marketingleiter Holger Hofmann die Erkenntnisse des Tages zusammen. Was meint er damit? Ganz einfach: Den Alltag der industriellen Bildverarbeitung.
Wir können nichts! Das ist oft der erste Gedanke der Entwicklungs-Ingenieure einer kleinen Bildverarbeitungs-Firma angesichts eines neuen Problems. Die Aufgabe ist dermaßen gespickt mit Schwierigkeiten und Stolperfallen, dass eine wirtschaftliche und zuverlässige Lösung mehr als fragwürdig erscheint. „Tut uns leid, das können wir nicht.“
Aber nur im Moment. Ist der erste Schreck überwunden, tauchen schon Ideen und Lösungsansätze auf: Mit Hilfe einer ausgeklügelten Beleuchtungstechnik (siehe auch Interview) erscheint die Sache nur noch halb so wild. Verfügbare Algorithmen, leicht modifiziert, könnten auch bei diesem Problem greifen. Erste Tests laufen ganz gut. Spätestens jetzt wird der zweite Halbsatz von Holger Hofmann Wirklichkeit: Wir können alles!
Mut wird belohnt. Deswegen ist die Vision-Branche schon seit Jahren auf Erfolgskurs. Manfred Hock vom Verband Deutscher Maschinen und Anlagenbau (VDMA), Fachabteilung industrielle Bildverarbeitung, belegt das mit Zahlen: „Im Jahr 2000 lag der Umsatz der deutschen BV-Branche erstmals über einer Milliarde Mark. Für dieses Jahr peilen wir 0,9 Milliarden Euro an. Ein jährliches Wachstum von mindestens 25 Prozent halten wir für realistisch.“
Und noch etwas wird aus der Marktstudie des VDMA ersichtlich, die immer pünktlich zur Hannover Messe auf den neuesten Stand gebracht ist: Rund zwei Drittel des Umsatzes stammen aus Bildverarbeitungs-Systemen – also kompletten Vision-Anlagen, die beim Anwender spezifische Aufgaben lösen, meist in der Qualitätssicherung. Das Komponenten-Geschäft betreiben historisch bedingt mehr die Amerikaner und Japaner. Denn vor allem in Japan werden schon wesentlich länger Kameras und Objektive gebaut als hier zu Lande.
Komplette BV-Systeme sind demnach die Stärke deutscher Vision-Firmen. Quiss-Geschäftsführerin Gabriele Jansen betont, dass solche Lösungen immer auf den Kunden zugeschnitten sind: „Dafür sind eine intensive Projektarbeit und viel Branchenwissen notwendig. Wir müssen uns richtig in die Rolle des Kunden hineinversetzen und sein Problem von Grund auf verstehen – sonst funktioniert das nicht.“
In die Rolle des Kunden hineinschlüpfen – das war sicher auch bei der Buckbee-Mears Europe GmbH in Müllheim notwendig. In dem südbadischen Unternehmen riecht es zuweilen wie in der Dunkelkammer eines Fotolabors. Kein Wunder, denn durch die gesamte Fabrik wandert ein extrem dünnes Stahlband, das ähnliche Prozeduren durchläuft wie ein Schwarzweiß-Film bei der Entwicklung (siehe Kasten). Nach einem komplexen Ätzprozess verlassen filigrane Meisterwerke die Fertigungslinie: hauchdünne Filter für Einspritzdüsen oder Profile für medizinische Anwendungen. Durch einseitige Halbanätzungen bringen die Müllheimer sogar feinste Strukturen in die Oberfläche ein.
Kernprodukt der Ätz-Künstler sind die so genannten Schattenmasken. Sie nehmen den größten Teil der Fertigungskapazitäten ein. Schattenmasken sind Bestandteil eines jeden Bildschirms, der mit einer Braunschen Röhre arbeitet. Dabei kann es sich um einen Computer-Monitor oder einen Fernseher handeln. Die Schattenmaske fokussiert den Elektronenstrahl und definiert einen scharfen Bildpunkt auf der Phosphorfläche der Mattscheibe. Die Größe des Produkts orientiert sich an der Bildschirm-Diagonalen und liegt zwischen 14″ und 38″.
Eine Maske ist so dünn wie eine Rasierklinge (100 bis 250 µm), am Rand zum Glück nicht ganz so scharf. Trotzdem ist das Tragen von dicken Schutzhandschuhen bei Buckbee-Mears Pflicht, um Schnittverletzungen beim Handling vorzubeugen. Kommt die Maske in einem Monitor zum Einsatz, besitzt sie bis zu 1,2 Millionen kreisrunde Löcher. Bei einem Fernsehgerät sind es noch rund 500000 Ausätzungen, die dann eine ovale Form haben. Für bewegte Bilder ist diese Form von Vorteil.
Die Qualitätsanforderungen bei Buckbee-Mears sind enorm. Bei ovaler Formgebung hat die Ausätzung eine Breite von rund 200 µm und ist etwa 600 µm lang. Geschäftsführer Michael Sillmann duldet keine Ausrutscher: „Jedes Loch muss perfekt sein, sonst wird der Bildpunkt auf dem Schirm beschädigt und schließlich beim Endkunden als Fehler sichtbar.“ Perfekt heißt: Ist nur ein Loch um 5 % größer oder kleiner als gefordert, wird die ganze Maske unbrauchbar und wandert in die Entsorgungstonne.
Es geht noch weiter. Für die Maskenproduktion gönnt Sillmann sich und seinen Mitarbeitern nicht mehr als 500 ppm (parts per million). Das heißt: Bei einer Produktionsmenge von einer Millionen Masken dürfen nicht mehr als 500 Blindgänger dabei sein. Bei 500000 Ausätzungen pro Maske dürfte demnach nur eines von einer Milliarde Löchern eine Macke haben. Aber das ist nur ein mathematisches Modell. Sillmann: „Wir denken in Masken, nicht in einzelnen, geätzten Features. Das müssen wir, sonst würden wir hier verzweifeln.“
Früher wurden sämtliche Masken visuell an Leuchttischen kontrolliert. „Das menschliche Auge kann sehr gut integrieren“, umschreibt Sillmann diese Vorgehensweise. „Mit einem Blick erfassen wir einen winzigen Schmutzfleck an der Wand. Bei den Schattenmasken ist das nicht anders.“ Die einen Fehler verraten sich im Durchlicht, andere werden unter einem Winkel sichtbar. Reflexionen und Unregelmäßigkeiten wurden von den einstigen Masken-Spähern bei Buckbee-Mears fast immer entdeckt. Aber eben nur fast. Sillmann: „Bei der manuellen Prüfung hatten wir 10 Prozent Schlupf. Das war nicht mehr zu verbessern.“ Der erfahrene Chef glaubt nicht an das Märchen, dass sich Schlupfraten durch Mehrfachprüfung drücken lassen: „Dann kommen Handlingfehler hinzu und am Ende verlässt kein Produkt mehr das Haus.“
Wollte Buckbee-Mears die Qualität weiter verbessern – und 100 ppm ist das Ziel für dieses Jahr – dann musste das Kontrollverfahren am Ende der Fertigung automatisiert werden. Aber mit welcher Technik lassen sich Millionen winziger Löcher in ein paar Sekunden prüfen? Die Antwort kann nur lauten: Mit einem Vision-System.
Auf der Fachmesse Vision in Stuttgart suchten die Mitarbeiter von Buckbee-Mears einen guten und zudem abenteuerlustigen Systemhersteller – und fanden das Puchheimer Unternehmen Quiss. In einem ersten Brainstorming wurden Ideen zusammengetragen, die dann ein fleißiger Student an der FH Köln im Rahmen seiner Diplomarbeit wissenschaftlich ausformulieren durfte (wenig später war er bei Quiss angestellt). In einem abschließenden Meeting über zwei Tage mit Technikern von Quiss wurden alle Anforderungen endgültig beschrieben. Michael Sillmann: „Das wurde immer komplexer. Aber wir haben durchgehalten. Von da an gab es keine großen Überraschungen mehr.“
Inzwischen wird bei Buckbee-Mears jedes Loch einer jeden Schattenmaske im Durchlicht einzeln unter die Lupe genommen. Hierfür hängen am Ende der Produktionslinie mehrere Kameras parallel über dem fertigen Produkt. Jede Kamera verfügt über einen eigenen Pentium-Prozessor. Die aufgenommenen Daten fließen in einem Mini-Rechenzentrum zusammen und werden dort aufbereitet und ausgewertet. Manager Sillmann weiß, was hier für eine Rechenleistung zusammenkommt: „Das Vision-System hat nicht die Intuition des menschlichen Auges und erkennt nicht den Fleck an der weißen Wand mal eben so. Da muss schon die ganze Wand Zeile für Zeile untersucht werden.“ Und so funktioniert das auch bei den Schattenmasken: Loch um Loch dem Fehler auf der Spur.
Das System von Quiss liefert nicht nur eine bessere Produktqualität, sondern zudem eine Fehlerstatistik, die in der Vergangenheit undenkbar war. Hierzu zählt zum Beispiel die geometrische Verteilung der Fehler. So genannte Festfehler, die sich immer an der gleichen Position wiederholen, werden farbig dargestellt. Auch Fehlerspuren in Laufrichtung des Bandes kommt der Schichtleiter jetzt per Mausklick auf die Schliche. Das war früher, wenn überhaupt, nur mit großem Aufwand möglich. Geschäftsführer Sillmann erinnert sich an die damaligen Rituale: „Der Inspektor musste den Verdacht äußern, dass er das Gefühl habe, es gäbe eine Häufung. So ungefähr muss man sich das vorstellen. Dann wurden die Masken nebeneinander gelegt und mit viel Glück entdeckten die Mitarbeiter tatsächlich eine Fehlerspur. Diese ganzen Informationen bekommen wir heute online mitgeliefert.“
Auch temporäre Verunreinigungen der Anlage, die sich schnell von alleine er-ledigen, werden heute erkannt. Früher hätten die Müllheimer gleich dagegen gesteuert und das Ganze möglicherweise verschlimmert. Sillmann: „Unser Prozessniveau hat sich durch die Bildverarbeitung deutlich erhöht.“
Fotoätzung : Strukturen wie aufgehaucht
Buckbee-Mears ist eines der weltweit führenden Unternehmen auf dem Gebiet der Fotoätzung. Die Produktionsanlage für Präzisionsteile arbeitet nach dem patentierten Inline-Verfahren. Dabei durchwandert das fortlaufend abgespulte Metall mit einer Geschwindigkeit von 5 bis 10 m/min die Fertigungsstufen in der Anlage ohne manuelle Eingriffe:
Nachdem das Material durch eine alkalische Reinigung von Rostschutz und Öl befreit wurde, wird eine fotoempfindliche Schicht aufgetragen.
Ein so genannter Printer trägt das „Image“ auf. Dies ist das Muster, das am Ende aus dem Stahl herausgeätzt werden soll.
Das Band wird belichtet. Der belichtete Fotolack ist resistent gegen den Ätzangriff.
Ein Entwicklerbad härtet die belichtete Schicht.
Die nicht entwickelten Bereiche werden weggeätzt.
Am Ende kann das Produkt bei Bedarf nachbearbeitet werden (Formgebung, Bonding, Beschichtung, Schweißung oder Montage).
Nachgefragt: „Die Kamera sieht nur das, was sie sehen soll“
Für Bernhard Gruber, Entwicklungsleiter bei der Quiss GmbH in Puchheim, steht und fällt eine Vision-Lösung mit der Beleuchtungstechnik.
Herr Gruber, warum ist die richtige Beleuchtung bei Bildverarbeitungs-Lösungen so wichtig?
Das ist einfach: Was Sie nicht sehen, können Sie nicht auswerten. Die beste Software nutzt nichts, wenn das zu messende Objekt nicht ausreichend kontrastiert ist. Es gibt ausgefeilte Algorithmen, bei denen es schon sehr dunkel werden kann – aber irgendwann ist Schluss.
Welche Bedeutung hat die Beleuchtung innerhalb des gesamten Vision-Systems?
Früher sagte man: Wenn ich die Lampen an der richtigen Stelle aufhänge, dann habe ich das Problem zu 90 Prozent gelöst. Das hat sich etwas verändert. Heute sind es eher 70 Prozent. Eine gute Beleuchtung ist weit mehr als die halbe Miete.
Kostet sie den Anwender auch so viel?
Überhaupt nicht, das ist das Tolle daran. Bei einer Standard-Applikation macht eine perfekte Beleuchtung maximal fünf Prozent der Gesamtkosten aus.
Gibt es Grenzen der Beleuchtungstechnik? Sind manche Probleme so komplex, dass selbst die beste Beleuchtung nicht weiterhilft?
Es gibt immer Ausnahmen, aber im Grunde ist so ziemlich alles möglich. Für jede Aufgabenstellung gibt es eine bevorzugte Art von Beleuchtung. Gerade reflektierende Objekte wie Alu-Bleche oder glänzende Verpackungsmaterialien erscheinen dem Laien als problematisch. In diesem Fall reicht eine so genannte diffuse Beleuchtung aus, und Sie haben einen sicheren Kontrast. Oft werden auch Filter eingesetzt, die Licht aus einem bestimmte Frequenzbereich sperren, so dass es nicht zur Kamera zurückkehrt. Alle Techniken haben ein Ziel: Am Ende soll die Kamera nur das sehen, was sie sehen soll. Alle störenden Elemente sind ausgeblendet. Dann ist die Auswertung vergleichsweise einfach. ub
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