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Wenn Alu und Keramiken Verstärkung brauchen

Verbundwerkstoffe: Nie wieder Bremsscheibe wechseln
Wenn Alu und Keramiken Verstärkung brauchen

Werkstoffentwickler verbessern die Leistungsfähigkeit von Leichtmetallen und Keramiken, indem sie Verstärkungskomponenten zugeben. Für den Mercedes AMG 55 CL kreierten sie auf diese Weise eine maßgeschneiderte keramische Bremsscheibe.

Marcus Speicher ist Mitarbeiter des Institutes für Fertigungstechnologie keramischer Bauteile (IFKB) an der Universität Stuttgart, Direktor: Prof. Rainer Gadow

Viele technische Innovationen sind nur mit thermisch und mechanisch hochbelastbaren Leichtbau-Werkstoffen zu verwirklichen: sei es, um den Wirkungsgrad von Verbrennungsmotoren zu erhöhen oder die Emissionen durch Gewichtseinsparung zu senken. Oft müssen die Materialien zusätzlich chemisch beständig und verschleißfest sein. Bei solchen komplexen Lastenheften ist die Leistungsgrenze monolithischer Werkstoffe schnell erreicht. Abhilfe schaffen Verbunde mit metallischer oder keramischer Matrix. Dazu wird in das Grundmaterial eine Verstärkungsphase eingebracht.
Die Motivation dafür ist je nach gewähltem Matrixmaterial sehr unterschiedlich: Bei Matrices aus Polymeren und Metallen sollen die eingebrachten Verstärkungsteilchen oder -fasern die mechanische Festigkeit und Steifigkeit verbessern. Bei keramischen Werkstoffen hingegen liegt das Hauptaugenmerk auf einer Erhöhung der Schadenstoleranz. Denn monolithische Keramiken weisen bereits sehr hohe spezifische Festigkeiten auf. Ihre ausgeprägte Sprödbruchanfälligkeit verhindert jedoch, dass sie auf breiter Basis industriell genutzt werden. Lagert man nun spröde Fasern oder Teilchen in diese spröden Materialien ein, so kommt es zu einer „Quasi-Duktilisierung“: Die Verstärkungselemente erschweren durch energieverzehrende Prozesse die Rissausbreitung. Ein Beispiel dafür ist der „Faser-pull-out“, bei dem die Faser kontrolliert aus dem Matrixmaterial gezogen und Energie durch Reibung dissipiert wird.
Fasern und Partikel machen Keramik quasi-duktil
Die unterschiedlichen Verbundwerkstoffe grenzen sich allein schon durch ihre maximalen Einsatztemperaturen voneinander ab: Die meisten Polymer Matrix Composites (PMC) – also Verbundwerkstoffe mit Polymermatrix – erlauben nur Temperaturen bis etwa 250 °C. Darüber beginnen sie, sich thermisch zu zersetzen und können ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Bei hohen Temperaturen ist ihr Einsatz daher unmöglich, auch wenn sie wegen ihrer geringen Dichte das größte Leichtbau-Potenzial aufweisen. Etwas weiter gesteckt sind die Einsatzgrenzen von Metal Matrix Composites (MMC) – Verbunde mit Matrices aus Leichtmetallen: Der 3l-Lupo besitzt zum Beispiel eine Trommelbremse aus Siliziumcarbid-verstärktem Aluminium. Sie ist laut Volkswagen um 47 % leichter als die Standard-Ausführung. Wegen des relativ niedrigen Schmelzpunktes von Leichtmetallen können MMC aber nur selten über 450 °C eingesetzt werden. Für höhere Temperaturen kommen daher nur noch Leichtbau-Strukturwerkstoffe mit keramischer Matrix in Frage: Ceramic Matrix Composites (CMC). Der Porsche GT2 und der Mercedes AMG 55 CL sind beispielsweise mit Bremsscheiben aus Kohlenstofffaser-verstärktem Siliciumcarbid ausgerüstet. Allerdings sind die CMC-Werkstoffe wegen ihres aufwendigen und zeitintensiven Herstellungsprozesses auch die teuersten. Dies liegt an dem Hochtemperaturprozess, der die keramische Matrix verdichtet.
Bei den MMC-Bauteilen mit Leichtmetallmatrix kann der Entwickler wählen, ob er die Verstärkungskomponenten in die flüssige oder feste Phase der Matrix einbringen will: Bei der Festphasen-Herstellung werden Gelege aus Metallfolien und Langfasern laminiert und bei erhöhten Temperaturen unter hohen Drücken zusammengefügt („Diffusion Bonding“). Eine Alternative sind pulvermetallurgische Methoden: Metallpulver und Verstärkungskomponenten (Kurzfasern oder Teilchen) werden gemischt, abgeformt und dann gesintert.
Bei der Flüssigphasen-Herstellung wie dem Druckgießen entfällt das Nachverdichten durch Sintern. Hier presst der von außen aufgebrachte Druck die flüssige Matrix in ein poröses Faser- oder Teilchengerüst. Je schlechter sich die feste Phase von der flüssigen benetzen lässt, desto höher muss der Druck sein.
Um die Benetzbarkeit zu verbessern, wird oft die Faseroberfläche beschichtet oder chemisch nachbehandelt. Über solche Fasermodifikationen kann der Entwickler die Eigenschaften des Metall-Matrix-Werkstoffes gezielt beeinflussen. Die Beschichtung hat noch eine weitere Funktion: Sie soll einen Angriff der chemisch sehr reaktiven Metallschmelze auf die Fasern verhindern. Denn gerade bei der Flüssigphasen-Herstellung besteht die Gefahr, dass sich eine chemische Bindung ausbildet und die Grenzflächenbindung zwischen Verstärkung und Matrix („Interface“) zu stark wird, so dass der Verstärkungseffekt verloren geht. Dann breiten sich die Risse durch die Verstärkungskomponenten hindurch aus, als ob sie gar nicht vorhanden wären. Es kommt zum Beispiel nicht zum erwünschten „Faser-pull-out“. Andererseits überträgt ein schwaches Interface (etwa durch schlechte Benetzung) keine Kraft, und die Verstärkungswirkung geht ebenfalls verloren. Nur eine optimal eingestellte Grenzflächenverbindung bringt also die Vorteile beider Phasen zur Geltung. Legierungszugaben bieten dem Entwickler ein weiteres Instrument, um das Grenzflächenverhalten zu beeinflussen. Sie können sowohl die chemische Aktivität als auch das Benetzungsverhalten der Schmelze verändern.
Auch bei den Ceramic Matrix Composites (CMC) ist das Maßschneidern der Faser-Matrix-Grenzfläche von größter Bedeutung. Gerade wenn eine spröde Matrix durch eine spröde Komponente verstärkt wird, sind die erwähnten Riss-Stopp-Mechanismen die einzige Möglichkeit, ein schadenstolerantes Bruchverhalten zu erzielen.
Als Verstärkungskomponente kommen vor allem Kohlenstofffasern zum Einsatz. Für die Matrix- und Binderphase werden häufig duroplastische Kunstharze verwendet und mit Verfahren aus der Kunststoffverarbeitung in Form gebracht (RTM, SMC, Extrusion etc.). Eine Pyrolyse wandelt diese Harze in Kohlenstoff um. Es entsteht ein poröser Vorkörper aus Kohlenstoffmatrix und Kohlenstofffasern. Im nächsten Schritt verdichtet flüssiges Silizium die Hohlräume durch eine Schmelzinfiltration. Dabei reagiert das flüssige Silizium mit dem Kohlenstoff zu reaktionsgebundenem Siliziumcarbid (RB-SiC). Dies ist die kritischste Phase des Herstellprozesses: Nur der Matrix-Kohlenstoff darf zu SiC reagieren, die Kohlenstofffasern sollen erhalten bleiben. Verwandeln sich hingegen auch die Fasern in SiC, geht die Verstärkungswirkung durch die zu starke Grenzflächenbindung verloren. Auch hier besteht die Möglichkeit, die Fasern durch Beschichten oder durch Legieren der Metallschmelze zu schützen. Die Restporosität füllt schließlich das erstarrte, überschüssige Silizium aus, so dass sehr dichte Bauteile ohne Sinterschwindung entstehen.
Anstelle von Kunstharzen lassen sich auch diverse andere Stoffe zum Infiltrieren verwenden. Besonders hervorzuheben ist die chemische Gasinfiltration, die im Flugzeug- und Reaktorbau und in der Labortechnik eingesetzt wird. Sie nimmt fertigungstechnisch eine Sonderstellung ein, da die Matrix aus der Gasphase abgeschieden wird und ein hochporöses Fasergerüst infiltriert. Die Faser-Matrix-Interfaces lassen sich genau einstellen, was sich in sehr guten mechanischen Eigenschaften des Endproduktes äußert. Nachteilig wirken sich die lange Prozessdauer und die damit verbundenen hohen Herstellungskosten aus.
Der Kostendruck in der Automobil- und zunehmend auch in der Luft- und Raumfahrtindustrie engen das Anwendungsgebiet der MMC und CMC auf wenige Applikationen ein. Zum Beispiel bei Bremsscheiben in Scheibenbremsanlagen sollen sie klassische Werkstoffe ersetzen, sowohl in Autos als auch in Zügen. Zwei Verbundwerkstoffsysteme kommen in die engere Auswahl, die wie beschrieben schon in Serienfahrzeugen eingesetzt werden: Siliziumcarbidpartikel-verstärktes Aluminium in der Lupo-Bremse und Kohlenstofffaser-verstärktes, reaktionsgebundenes Siliziumcarbid bei Mercedes- und Porsche-Fahrzeugen. Letzteres Material hat gegenüber dem partikelverstärkten Aluminium und Grauguss den Vorteil, dass es höheren Temperaturen standhält, geringeres Gewicht und eine höhere Leistungsfähigkeit aufweist. Eines Tages werden Bremsscheiben nie wieder zu wechseln sein.
Aktuelle Forschungen konzentrieren sich darauf, diese Werkstoffe bei optimiertem Aufwand mit verbesserten Eigenschaften herzustellen, insbesondere im Blick auf die Schadenstoleranz. Dabei wird versucht, auch komplexere Fasergeometrien möglichst kostengünstig zu fertigen.
Industrieanzeiger
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