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Wenn Maschinenbauteile wie Bäume wachsen

Entwurfsprogramme kopieren die Design-Regeln der Natur
Wenn Maschinenbauteile wie Bäume wachsen

Bäume und Knochen wachsen nach Regeln, die ihnen zu höchster Stabilität bei geringem Materialeinsatz verhelfen. Sie liefern das Rezept, mit dem sich Maschinenbauteile schnell und elegant optimieren lassen.

Prof. Claus Mattheck ist Leiter der Abteilung Biomechanik am Forschungszentrum Karlsruhe und vereidigter Sachverständiger sowohl für Ermüdungsbrüche mechanischer Bauteile, als auch für Mechanik und Bruchverhalten der Bäume

Die Optimierung der Lebewesen erfolgt in der Natur bekanntlich dadurch, dass nicht optimierte Spezies unterliegen. Im Laufe dieser grausamen, Jahrmillionen andauernden Selektion wird nicht nur die einzelne biologische Struktur an ihre natürliche Belastung optimal angepasst, sondern auch die Mechanismen, die zu diesem Design führen. Der wichtigste Mechanismus dieser Art ist das sogenannte adaptive Wachstum, das beim Aufbau tragender biologischer Strukturen wie Bäumen oder Säugetier-Knochen wirksam ist. Diese verfügen über bauteilinterne Rezeptoren. Sie können damit lokale Spannungskonzentrationen registrieren und sich adaptiv wachsend reparieren. Auf dieselbe Weise lassen sich mit der Hilfe von Computersimulationen auch technische Bauteile optimieren.
Der Förster K. Metzger schrieb bereits 1893 eine Arbeit über die gleichmäßige Spannungsverteilung in biologischen Strukturen. Er konnte zeigen, dass die Biegespannungen in Fichtenstämmen gleichmäßig über die Länge verteilt sind, weil sich der Stamm angepasst an die Last verjüngt. Hinter diesem Gestaltungsprinzip verbirgt sich eine allgemeingültige Designregel für biologische Bauteile, das Axiom konstanter Spannung.
Zum besseren Verständnis ist es vorteilhaft, zwischen Bäumen und Knochen zu unterscheiden. Wenn das Kambium eines Baumes (die Wachstumsschicht zwischen Rinde und Holz) eine lokal erhöhte Spannung registriert, so bildet der Baum dort dickere Jahresringe aus, um die Bruchgefahr zu bannen und die Spannungen zu vergleichmäßigen. Entlastete Bereiche mit überflüssigem Material bauen Bäume nicht aktiv ab. Ihre Gestalt ist daher ein offenes Tagebuch, geschrieben in der Körpersprache der Bäume.
Tiere dagegen können in ihren Knochen unterbelastetes Material abbauen. Dem Knochen ist es möglich, seine mechanische Vergangenheit völlig zu verwischen (zumindest im kindlichen Alter), da Fresszellen die Zeichen seiner Lastgeschichte gleichsam „wegknabbern“.
Diese Vorbetrachtungen lassen sich so zusammenfassen:
  • 1. Biologische Lastträger optimieren sich nach dem Axiom konstanter Spannung.
  • 2. Bäume wachsen an überbelasteten Bereichen verstärkt und bilden dort lokal verdickte Jahresringe. Knochen wachsen an überlasteten Bereichen und schrumpfen in unterbelasteten Bereichen.
  • 3. Im so erreichten Zustand existieren weder lokal hohe Spannungen (=Sollbruchstellen) noch Bereiche mit lokal niederen Spannungswerten (=Materialverschwendung). Das Axiom konstanter Spannung charakterisiert damit das optimale mechanische Design für den jeweiligen Lastfall.
Nach diesen Vorgaben wurden am Forschungszentrum Karlsruhe drei Computermethoden entwickelt, die es ermöglichen, das angepasste Wachstum zu simulieren und damit Maschinenbauteile zu optimieren: CAO, SKO und CAIO.
Die Computer Aided Optimization (CAO) nutzt die Gesetzmäßigkeiten der thermischen Ausdehnung, um das adaptive Wachstum zu simulieren. Der Benutzer benötigt dafür ein marktgängiges Finite-Elemente-Programm, mit dem sich Thermospannungen berechnen lassen. Er wählt einen beliebigen Designvorschlag für das zu optimierende Bauteil und gibt die späteren Last- und Lagerungsbedingungen vor. Das Programm berechnet die mechanische Spannungsverteilung und setzt sie formal einer fiktiven Temperaturverteilung gleich. Die zuvor höchstbelasteten Bereiche sind nun die heißesten und dehnen sich am stärksten aus. Sie „wachsen“ am meisten und bilden analog zu den Bäumen die lokal „dicksten Jahresringe“ aus. Wie beim Kambium der Bäume ist dieses Wachstum auf die äußerste Schicht begrenzt.
Baumgabeln stellen zum Beispiel Kerben ohne Kerbspannungen dar. Ihre Formgebung ist der kreisförmigen Innenkontur von konstruierten Gabelungen überlegen, die hohe Kerbspannungen bewirken. Trotzdem wird die Kreiskerbe in der Technik immer noch zum Ausrunden von Übergängen empfohlen.
Die CAO-Methode bietet zahlreiche weitere technische Anwendungsmöglichkeiten. Ihr großer Vorteil ist, dass der Konstrukteur dreidimensionale Bauteile optimieren kann, ohne komplizierte mathematische Berechnungen anstellen zu müssen. Ein biegebelasteter Zylinder mit rechteckigem Fensterausschnitt brach zum Beispiel gelegentlich an den Ecken des Fensters. Dies verwundert nicht, weil auch dort kreisförmige Kerben platziert waren. Nach einer Gestaltoptimierung mit CAO fanden sich keine Kerbspannungen mehr, und die so gefertigten Prototypen wiesen eine 40fach längere Lebensdauer in Biegeschwingversuchen auf.
Gibt es Nachteile oder Grenzen der CAO-Methode? Sie liegen darin, dass CAO zwar liebevoll eine vorhandene Oberfläche optimal ausformt, aber keine neuen Oberflächen erzeugen kann. Es lassen sich auch keine Löcher ins Bauteil einfügen, um nichttragende Bereiche zu entfernen. Um diese nichtarbeitenden „Faulpelze“ im Bauteil zu eliminieren, wurde die Soft Kill Option (SKO) entwickelt.
Die SKO-Methode simuliert die adaptiven Mineralisationsvorgänge im Knochen. Höher belastete Bereiche werden ausgesteift, minder belastete Bereiche dagegen erweicht und schließlich ausgemerzt.
In einem Designraum, der nur die Grenzabmessungen einhält, berechnet das System die aufgrund der Betriebsbelastung auftretenden Spannungen. In höher belasteten Bereichen wird dann der im Programm vorgegebene Elastizitätsmodul erhöht, in gering belasteten Bereichen dagegen verringert. Dies steift die tragenden Bereiche aus und erweicht die minder belasteten Strukturelemente, die damit entlastet werden. Die Iteration trennt nun die „Faulpelze“ immer deutlicher von den „Arbeitswilligen“ und „killt“ sie schließlich im letzten Schritt ganz. Auf diese Weise erhält der Konstrukteur einen Leichtbau-Designvorschlag, der schon sehr nahe am Optimum liegt. Eine nachfolgende CAO-Optimierung glättet die noch verbliebenen Kerbspannungen. Die schrittweise Anwendung von SKO und CAO liefert ein ökologisches Design, das leicht und zugleich dauerfest ist.
Was aber, wenn der Werkstoff inhomogen und anisotrop ist? Um zum Beispiel die kunstvolle Umlenkung von Holzfasern um ein Astloch in einem technischen Faserwerkstoff zu realisieren, wurde die Computer Aided Internal Optimization (CAIO) entwickelt.
Die CAIO-Methode ordnet die Fasern iterativ in Richtung des vom Bauteil zu übertragenden Kraftflusses an. Auch hier erweist es sich als vorteilhaft, den natürlichen Mechanismus der Optimierung zu verstehen und nicht so sehr das individuelle Design zu kopieren, zumal es für die gesuchte technische Anwendung nur selten ein exaktes Gegenstück in der Natur gibt. Nicht einmal ein Optimist würde hoffen, eine gewachsene Kurbelwelle zu finden!
Nachgefragt beim Autor: „Jeder Kenner von FEM-Software kann die Methode anwenden“
? Herr Professor Mattheck, wie lässt sich die Optimierungsmethode in der Praxis nutzen?
! Dafür gibt es zwei Wege: Sie können mein im Rombach-Verlag erschienenes Buch „Design in der Natur“ lesen und das beschriebene Know-how mit einem marktgängigen FEM-Programm umsetzen. Das ist aber der steinigere Weg. Oder Sie besorgen sich das Programmpaket von der Firma Moldenhauer in Rödermark. Darin sind eine eintägige Schulung und drei Jahre Support enthalten.
? Muss man für die Nutzung nicht eine intuitive Begabung mitbringen?
! Nein, das ist ja gerade der Vorteil: Die Methode kann jeder Ingenieur anwenden, der sich mit FEM-Programmen auskennt. Er benötigt dafür auch kein besonderes mechanisches Einfühlungsvermögen.
? Gibt es Einsatzgrenzen für die Optimierungsprogramme?
! Sobald Schallprobleme auftreten, versagt die Methode. In diesen Fällen müssen Lösungen auf mathematischem Wege gesucht werden. Aber sonst lässt sich grundsätzlich jedes Bauteil im Sinne des „Öko-Design“ gestalten.
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