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Wettbewerb unter Materialien wird schärfer

Stahlhersteller wollen Anteile im Automobil zurückgewinnen
Wettbewerb unter Materialien wird schärfer

Im Automobil sehen sich die Eisenwerkstoffe einem Verdrängungswettbewerb ausgesetzt durch Leichtmetalle und Kunststoffe. Doch die Stahlbranche startete eine Gegenoffensive mit hoch- und höchstfesten Werkstoffen.

Klaus Vollrath ist freier Fachjournalist in Herne

Der Space-Frame aus Aluminium war ein Wachrüttler, den die Stahlindustrie verstanden hat. Dies war aus den Festreden bei der Verleihung des Stahl-Innovationspreises deutlich herauszuhören: Die Branche sieht sich herausgefordert, denn die Eisenwerkstoffe mussten im Automobil in den letzten Jahrzehnten zunehmend Gewichtsanteile und sogar ganze Produktkategorien an ihre Wettbewerber abgeben. So wuchs nach Erkenntnissen der IKB Deutsche Industriebank AG, Düsseldorf, der Gewichtsanteil des Aluminiums im Auto um fast 50 % auf zuletzt knapp 100 kg in den letzten 15 Jahren. Zugelegt haben auch die Kunststoffe: Nach IKB-Angaben konnten sie innerhalb von 30 Jahren ihren Gewichtsanteil von 6 auf derzeit 13 % mehr als verdoppeln, für 2010 wird mit einer weiteren Zunahme auf dann 16 % gerechnet.
Die treibende Kraft dieses hauptsächlich gegen Stahl und Gusseisen gerichteten Substitutionsdrucks ist der Innovationswettbewerb der Automobilhersteller. Sie sehen sich mit immer schwerer zu erfüllenden Forderungen konfrontiert, die oft gegeneinander gerichtet sind: Mehr Leistung bei sinkendem Kraftstoffverbrauch, mehr Komfort und Sicherheit ohne Gewichtszunahme oder sogar zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen wie beispielsweise für den Fußgängerschutz.
Die wichtigste Maßnahme ist das Senken des Gewichtes von Rohkarosserie und Antriebsstrang – oft weniger um Treibstoff einzusparen als vielmehr, um immer mehr Zubehör und Sicherheitsausstattungen unterbringen zu können. Hier besteht die Kunst des Autobauers darin, für jedes Bauteil das jeweils beste Material auszuwählen, wobei Kompromisse zwischen sich widersprechenden Vorgaben wie Funktion, Sicherheit, Kosten und Gewicht gefunden werden müssen. Weitere Aspekte sind Fahrzeugsegment, Fahrzeugkonzept und natürlich die Stückzahl.
Um ihre Marktanteile zu verteidigen, reagierte die Stahlindustrie mit einer Innovationsoffensive: Ihr wichtigstes Pfund zum Wuchern ist das hohe Festigkeitspotenzial von Stahl. Denn mit einem vier- oder gar fünffach festeren Werkstoff lässt sich das Gewicht eines Bauteils so senken, dass damit auch der Gewichtsvorteil von Leichtmetallen ausgeglichen werden kann. Die Stahlindustrie war in den letzten Jahren sehr erfolgreich beim Entwickeln hoch- und höchstfester Blechwerkstoffe, die inzwischen für den Einsatz im Automobil qualifiziert sind. Während Karosseriestähle früher oft nur Festigkeitswerte von rund 200 N/mm2 aufwiesen, gibt es heute Werkstoffe, deren Festigkeiten um den Faktor drei bis fünf darüber liegen. Im neuen „Cayenne“ von Porsche findet sich sogar ein Stahlrohr mit einer Zugfestigkeit von 1800 N/mm2.
Konsequenterweise zeichnete die Stahlbranche denn auch eine Karosserie-Konstruktion mit dem ersten Platz des diesjährigen Innovationspreises in der Kategorie Produkte aus. In die Konzeption sind viele Ideen der Ulsab-Projekte eingeflossen, diedie die Stahlindustrie zur Entwicklung einer ultraleichten Stahlkarosserie in Auftrag gegeben hatte: Die Karosserie des neuen Porsche-Geländerenners besteht zu 64 % aus Stählen, deren Festigkeiten teils um ein Mehrfaches über den Werten konventioneller Karosseriestähle liegen. 35 % sind sogar neue hoch- und höchstfeste Stähle mit Zugfestigkeiten bis zu 980 N/mm2. Diese so genannten Mehrphasenstähle vereinen besonders hohe Festigkeit und gute Umformbarkeit.
Der Cayenne ist damit das weltweit erste Serienfahrzeug mit einem so hohen Anteil dieser Stähle. Aus Sicht der Stahlhersteller noch wichtiger ist jedoch, dass Weichen für die Zukunft gestellt wurden. Denn bei Porsche gilt das jetzt realisierte Konzept als Vorbild für künftige Karosserieentwicklungen. Darüber hinaus arbeiten Stahlhersteller intensiv an weiter gehenden Konzepten: Die durch den Aluminium-Space-Frame herausgeforderte Branche scheint fest entschlossen, ihre Position nicht nur zu verteidigen. Ziel ist vielmehr eine offensive Reconquista-Politik, um verlorenes Terrain wiederzugewinnen.
Im Wettbewerb der Werkstoffe beziehen die Automobilhersteller trotz unterschiedlicher Vorlieben – Audi gilt als Aluminium-freundlich und Mercedes eher dem Stahl zugeneigt – keine dogmatischen Positionen. Ganz pragmatisch versuchen sie, den für ihr Produkt größten Nutzen zu erzielen: „Aluminium ist für uns kein Credo. Uns geht es nicht um Werkstoffe an sich, sondern um Leichtbau im Automobil“, sagt beispielsweise Dr. Klaus Koglin, Leiter Technologieentwicklung der Audi AG. Sowohl Stahl als auch Aluminium müssten sich daran messen lassen, wie gut sie diese Wünsche erfüllten. Dabei seien Hybridbauweisen ebenso denkbar wie Monokulturen. Und auch bei dem mehr Stahl zugewandten Hersteller Mercedes laufen einige Karosserien vom Band, die sich als bunter Mix aus Stahl, Aluminium, Magnesium und Kunststoffen präsentieren.
Kunststoff ist im Auto längst überall zu finden. Unter starkem Substitutionsdruck stehen selbst klassische Blech-Domänen wie die Außenhaut. Volkswagen setzt beispielsweise Kunststoff für die Kotflügel des „New Beetle“ ein und nutzt dessen elastisches Grundverhalten, um die Zahl der Bagatellschäden zu minimieren. Auch andere Anhänge- und Anbauteile wie Klappen werden zunehmend aus Kunststoff gefertigt. Unter Druck geraten ist dabei auch die Glasbranche, denn bei Scheinwerfern ist glasklares Polycarbonat für die Streuscheiben inzwischen Stand der Technik, und auch bei Reflektoren geht der Trend dahin, die Metallspiegel durch chrombeschichtete Kunststoffe zu ersetzen.
Verstärkten Kunststoffeinsatz erfordert auch die Multimediafähigkeit künftiger Fahrzeuggenerationen: Das Innere dürfte vorne einem Cockpit und hinten einem Büro ähneln. Auf rund 7 kg schätzen Fachleute das Gewicht einer Multimedia-Vollausstattung. Folge: Die für das Interieur verwendeten preiswerten PP-Kunststoffe könnten zunehmend durch technische Kunststoffe ersetzt werden, um die Massen und Kabelbäume aufzunehmen und der Wärmeentwicklung standzuhalten.
Auch die Forderung nach einem verbesserten Fußgängerschutz dürfte zu mehr Kunststoffen im Automobil führen. Gefragt ist eine hohe Energieabsorption. Experten nennen hierfür als Mindestmaß 70 bis 90 mm schaumgefüllten Bauraum.
Beim Pkw-Motor hart umkämpft ist vor allem die gegossene Großkomponente Motorblock („Zylinderkurbelgehäuse“) samt Ölwanne, während für den Zylinderkopf inzwischen zu fast 100 % Aluminiumguss eingesetzt wird. Auch beim Motorblock musste der herkömmliche Grauguss dem Leichtmetall zunehmend Marktanteile überlassen. Verteidigen konnte er seine Positionen vor allem bei den Dieselaggregaten – unter anderem aufgrund der höheren Werkstoffbelastbarkeit – und bei Motoren für kleinere Fahrzeuge, wo sein niedrigerer Preis ausschlaggebend ist.
Diesen Trend könnten neue Entwicklungen jedoch stoppen: Immer höhere spezifische Motorleistungen, ein steigender Dieselanteil und verschärfte Vorgaben zur Emissionsminderung führen zu Belastungen, die sich mit konventionellen Werkstoffen immer weniger erfüllen lassen. Dies gilt sowohl für die bisher eingesetzten Aluminiumlegierungen als auch für den Grauguss. Eisenwerkstoffe dürften hier aufgrund ihrer höheren Temperaturbeständigkeit im Vorteil sein gegenüber Aluminium, doch auch hier geht der Trend zu höherwertigen Werkstoffen wie etwa Gusseisen mit Vermiculargraphit (GJV).
Der Einsatz von Magnesium im Automobil hingegen ging nach einem Maximum in den 70er-Jahren (über 40 000 t/a) kontinuierlich zurück auf 4000 t/a Mitte der 90er-Jahre. In der zweiten Hälfte der 90er-Jahre begann dann ein regelrechter Boom dieses leichtesten aller großtechnisch eingesetzten Metalle (Dichte bei etwa 1,74 kg/dm3). Brancheninsider prophezeien, dass die gegenwärtige Stagnationsdelle bei etwa 25 000 t/a bald von einer erneuten Wachstumsphase abgelöst wird. Der Grund sind neue Projekte wie ein Magnesium-Getriebegehäuse in einem Großserienfahrzeug von Mercedes.
Im Porsche Cayenne sind viele Ideen der Stahlhersteller verwirklicht
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