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Zeigt her eure Füße …wie sie kleben

Bionik: Neues Haftprinzip imitiert Gecko- und Spinnen-Fusssohlen
Zeigt her eure Füße …wie sie kleben

Verwunderlich, dass es bisher noch niemand versucht hat: Ein Forscherteam hat den Haftmechanismus kopiert, mit dem Käfer und Spinnen glatte Wände hochgehen oder unter der Zimmerdecke spazieren, ohne runter zu fallen.

Wer erinnert sich noch an das erste Tor der WM 2006? Philipp Lahm schoss es im Eröffnungsspiel Deutschland gegen Costa Rica in der sechsten Minute nach einem exzellenten Dribbling. Der Ball schien ihm magisch am Fuß zu haften. Sicher handelte es sich hier ausschließlich um das technische Talent des Nationalspielers. Aber in Zukunft könnten Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Oberflächen gezielt genutzt werden, um neuartige Haftungs- und Verbindungsmechanismen für Industrieanwendungen zu realisieren – und zwar in unterschiedlichsten Branchen.

Das Vorbild liefert die Natur. Im Laufe der Evolution hat sie zahlreiche, hoch spezialisierte Mechanismen entwickelt, die das Leben und Überleben der jeweiligen Spezies mit minimalem Materialaufwand sichern konnten. Wissenschaftler und Ingenieure der Bionik nutzen diesen biologischen Werkzeugkasten als facettenreichen Ideenfundus, um die maßgeschneiderten Lösungen der Natur in innovative Produktentwicklungen zu transferieren. Dass dies funktioniert, zeigt eine Reihe von Produkten, die auf diesem Weg entstanden sind und sich in der Anwendung etabliert haben.
So dient der wasser- und schmutzabweisende Charakter bestimmter Pflanzenblätter als Vorlage für selbstreinigende Oberflächen. Das strukturelle Wachstum von Knochen oder Bäumen wird beim Optimieren technischer Konstruktionen und Tragwerken kopiert. Die Oberflächenstruktur der Haifischhaut findet sich in der so genannten Riplet-Folie wieder und vermindert den Luftwiderstand von Flugzeugen. Und der altbekannte und nahezu universell einsetzbare Klettverschluss ahmt die Früchte der Großen Klette (Arctium lappa) nach, die der Schweizer Ingenieur George de Mestral nach Spaziergängen aus den Fellen seiner Hunde entfernte.
Einen ähnlich vielversprechenden Ansatz auf der Suche nach neuartigen Haftmechanismen bieten die Arbeiten einer süddeutschen Forschergruppe. Dazu gehören Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stuttgart und Mitarbeiter der Gottlieb Binder GmbH aus Holzgerlingen, ein Hersteller innovativer Verschluss-Systeme für die Bereiche Automobil, Aerospace, Orthopädie sowie Sport- und Bekleidungstechnik. Dr. Stanislav Gorb beschäftigt sich am Max-Planck-Institut seit über zehn Jahren mit Haft- und Reibungssystemen auf biologischer Basis – wie sie beispielsweise bei Geckos, Spinnen oder Heuschrecken vorkommen. Mit seinem Team hat er einen Haftmechanismus entwickelt, der Analogien zur Leistungsfähigkeit von Käferfüßen auf unterschiedlichen Oberflächen aufweist und völlig ohne Klebstoffe auskommt.
Konventionelle Klebstoffe beruhen auf adhäsiven Wechselwirkungen zwischen Substraten und Klebstoff und auf kohäsiven Wechselwirkungen innerhalb der Klebstoffschicht. Im Blick auf ihr Fügeverhalten besitzen sie in der Regel ein irreversibles Eigenschaftsprofil. Im Gegensatz dazu haben Geckos und Spinnen trockene Füße und haften überwiegend durch van-der-Waals-Kräfte – also aufgrund einer intermolekularen Wechselwirkung –, wobei auch eine adsorbierende Wasserschicht eine Rolle spielt. Insekten besitzen zusätzlich eine Emulsion oder Ölschicht als Haftvermittler. Die Wissenschaftler versuchen mit ihrem Ansatz, die filigrane Feinstruktur der Käferfüße für technologische Anwendungen nutzbar zu machen. Auch wenn sich die zugrundeliegende Funktionsweise noch nicht vollständig klären lässt, haben sie damit Erfolg. „Unser Material ist trocken, deswegen vermuten wir molekulare Adhäsion als Hauptmechanismus“, verrät Dr. Gorb.
Die rasterelektronenmikroskopische Analyse der Käferfüße ergibt, dass ihre Oberfläche wie ein flächiger Rasen gestaltet ist, der aus einer Vielzahl von Mikrohärchen mit pilzkopfförmigem Ende besteht. Diese spezielle Oberflächenstruktur ermöglicht es Käfern und auch anderen Insekten zum Beispiel an Fensterscheiben – also auf extrem glatten Oberflächen – zu verweilen oder gar an ihnen entlangzulaufen.
Die synthetische Herstellung des Analogons bedeutete für die Forscher eine Herausforderung, die sie mit experimentellem Geschick, hoher Ausdauer und zahllosen Optimierungen meisterten. Im Prinzip nutzen die Bioniker eine Negativform, in die die Oberflächenstruktur des Käferfußes eingeprägt ist, und formen diese Struktur realitätsnah durch ein zunächst definiert viskoses Polymergemisch detailgetreu ab. Schließlich verfestigt sich diese Struktur innerhalb der Form.
In ersten Tests zeigte das Haftsystem ein überzeugendes Eigenschaftsprofil für industrielle Anwendungen: Nach Angaben der Forscher ist es vollständig reversibel, übersteht hunderte von Anwendungszyklen, hinterlässt keine sichtbaren Spuren auf den Oberflächen und lässt sich nach erfolgter Verschmutzung leicht reinigen. Die Tragkraft an senkrechten, glatten Wänden beträgt rund 30 N bei 5 cm² Haftfläche.
Mögliche Anwendungen sind zum Beispiel Schutzfolien, mit denen sich empfindliche Glasbauteile oder hochsensible Silizium-Wafer handhaben lassen, und wieder verwendbare Klebebänder. Eine andere Anwendungsidee sind wieder benutzbare Klebeunterlagen an extrem glatten Oberflächen wie Spiegeln, Schränken und Scheiben. Neben rein technischen Anwendungen bietet diese Entwicklung also auch Impulse für Design, Möbelbau und Architektur. Weitergehende Einzelheiten zu Applikationen will Stanislav Gorb gegenwärtig aber nicht verraten, da die eingereichten Anwendungspatente noch nicht veröffentlicht sind.
Doch bereits zum jetzigen Zeitpunkt gehen die Entwicklungsaktivitäten weiter und zielen auf die Robotik. Im Rahmen des aktuellen BMBF-Projekts „InspiRat – Bionisch inspirierter Kletterroboter für die externe Inspektion linearer Strukturen“ arbeitet ein interdisziplinäres Forscherteam unter der Leitung des Biomechatronikers Prof. Dr. Hartmut Witte der TU Ilmenau an einem neuartigen Kletterroboter. Beteiligt ist auch das Industrieunternehmen Tetra Gesellschaft für Sensorik, Robotik und Automation mbH. Der Roboter soll selbst steile Anstiege sicher erklimmen können und in Arealen eingesetzt werden, die für Menschen gefährlich oder nicht zugänglich sind. Bionische Lösungsansätze helfen auch bei diesem Projekt. Damit sich die kleinen künstlichen Kletterer in oder auf Rohren, in Schächten und in Versorgungsleitungen bewegen können, sind jedoch eher Reibungs- und Greifmechanismen der Schlüssel zum Erfolg. „Auch hierfür bietet die Natur exzellente Vorbilder, die wir gegenwärtig analysieren und als eine Grundlage für den Erfolg des Projekts sehen“, bekräftigt Dr. Stanislav Gorb.
Dr. Christoph Konetschny www.materialsgate.de
Bio-Haftprinzip kommt ohne Klebstoff aus

Neue Technologien
An senkrechten, glatten Wänden bietet der neue Haftmechanismus ohne Klebstoff eine Tragkraft von 30 N auf 5 cm² Fläche. Diese Werte zeigen schon, dass das neue, der Natur abgeschaute Haftprinzip ein großes Anwendungspotenzial besitzt. Denkbar sind Rutschhemmungen, wieder verwendbare Klebebänder und Schutzfolien, die das Handhaben von Wafern und anderen heiklen Substraten erleichtern. Das Brainstorming läuft, dem Einfallsreichtum kreativer Geister sind keine Grenzen gesetzt.
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