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Zukunftsmarkt RFID: Kontrolle ist gut, Transponder sind besser

Logistiksysteme werden durch Hochfrequenztechnologie (RFID) ihr Gesicht sehr verändern
Zukunftsmarkt RFID: Kontrolle ist gut, Transponder sind besser

Transponder schaffen eine unlösbare Verbindung zwischen Material- und Datenfluss, indem sie Informationen direkt an der Ware transportieren. Die Einsatzmöglichkeiten reichen von der lückenlosen Rückverfolgung von Produkten bis zur Steuerung von Elektrohängebahnen in der Fahrzeugmontage.

Thomas Preuß ist Journalist in Stuttgart

Wenn sie den RFID-Markt für die nächsten fünf Jahre schätzen sollen, kommen selbst Experten ins Grübeln. Eine Studie von ABI Research, Oyster Bay/New York, veranschlagt den Weltmarkt für Transponderanwendungen auf 3,1 Mrd. US-$ im Jahr 2008 – in ihrer vorsichtigen Schätzung. In der mutigeren Variante soll der Umsatz in fünf Jahren 3,8 Mrd. US-$ betragen. Zum Vergleich: 2002 waren es gut 1 Mrd. US-$. Die Forscher von Frost & Sullivan, Frankfurt/M. und New York, erwarten für 2008 bereits über 7 Mrd. US-$ – schlappe 100 % mehr als die ABI-Kollegen. Und Dr. Joachim Schönbeck, Leiter des Geschäftsgebietes Material Handling Automation Europa der Siemens Dematic AG in Nürnberg, sagt lapidar: „Das Potenzial von RFID kann heute niemand wirklich abschätzen.“
„In jedem Falle“, erklärt Schönbeck, „stehen wir am Anfang einer Entwicklung, in der die Logistiksysteme ihr Gesicht sehr verändern werden“. Durch die RFID-Technologie (Radiofrequency Identification oder Hochfrequenztechnologie), mit der sich Teile über Radiowellen automatisch identifizieren und lokalisieren lassen, wenn sie einen entsprechenden Mikrochip tragen, werden Kontrollen beim Warenein- und -ausgang überflüssig und menschliche Fehler beim Handling ausgeschlossen. Das senkt die Kosten immens. Ebenso beim Kommissionieren: Zur Identifikation von Produkten ist keine Sichtlinie mehr erforderlich, beim Picken oder Packen sowie bei Transporten entfallen die Scanvorgänge. Zählkontrollen nach der Kommissionierung werden ebenso überflüssig wie solche bei der Verladung, und der Unternehmer verfügt stets über exakte Bestände. Die Inventurzeiten sinken drastisch.
Soweit einige Vorteile. Bis aber die Transponder – die Chips, die die beschriebenen Informationen tragen und übertragen – preislich attraktiv sind, dürften nach Schönbecks Schätzung etwa acht Jahre ins Land ziehen. Als Zielgröße wird ein Preis in der Größenordnung von 0,5 bis 1 Cent gehandelt – im Vergleich zu 0,10 bis 0,20 Cent heute.
Erste Anwendungen gibt es schon. Zu den Vorreitern gehört die Textilindustrie. Beispiel Benetton: Der Hersteller will Transponder in seine Sisley-Produkte einnähen, um Läden und Transporteuren die Verarbeitung zu erleichtern. In der logistischen Kette können alle Beteiligten an Kontrollstellen die Ware automatisch überprüfen. Das beschleunigt die Verarbeitung und hilft, Diebstähle zu erkennen. Im Laden scant der Verkäufer die Lieferung und überträgt so die gespeicherten Daten, wie Farbe, Größe oder Schnitt, ins System. Die Hemden kennen auch ihren Bestimmungsort, was Fehllieferungen verhindern hilft. Und: Im Gegensatz zur Identifikation per Barcode lässt sich mit RFID eine ganze Kiste Hemden auf einmal erfassen – ohne sie zu öffnen.
Auch der Einzelhandel testet die englisch „Tags“ genannten Transponder, etwa der US-amerikanische Walmart-Konzern, die deutsche Metro AG oder die britische Tesco. Wenn die Kunden ihren kompletten Einkaufswagen nur noch an der Kasse vorbeischieben müssen, ohne die Ware aufs Band zu legen, und das System sofort den Preis des gesamten Einkaufs meldet, wird es nie wieder Schlagen an den Kassen geben. Vielleicht auch keine Kassiererinnen, wenn im zweiten Schritt der Wert sofort vom Bankkonto abgebucht wird.
Solche Technik ruft Datenschützer auf den Plan. Aufruhr gab es im August, als Verbraucherschützer den Rasierklingen-Hersteller Gillette kritisiert hatten: Bei einer Tesco-Filiale in Cambridge waren Klingen mit RFID-Tags aufgetaucht. Laut Gillette sollte der Testlauf Verbesserungen in der logistischen Kette erschließen. Eine Verbraucherschutz-Vereinigung hatte aber herausgefunden, dass der Supermarktbetreiber jeden Kunden fotografierte, der mit den Rasierklingen den Laden verlassen wollte – ob bezahlt oder heimlich in der Jackentasche: Taschen halten die Kommunikation zwischen Tranponder und Antenne nicht auf. Der Supermarkt habe „sicherheitsrelevante Aspekte“ von RFID-Tags testen wollen, räumte ein Tesco-Vertreter ein.
Dr. Thomas Wimmer, Geschäftsführer der Bundesvereinigung Logistik e. V. in Bremen, wiegelt ab: „Wer heute im Internet bei Amazon einkauft oder eine Payback-Karte besitzt, der hinterlässt freiwillig seine Daten. Viel mehr geschieht bei RFID auch nicht.“ Außer, dass es nicht freiwillig ist. „Aber“, sagt Wimmer, „wenn durch die Technik dem Diebstahl vorgebeugt werden kann, nutzt es allen, weil langfristig die Preise sinken.“
Gut oder schlecht, mit der neuen Technik entsteht eine unlösbare Verbindung zwischen Material- und Datenfluss. Damit könnte sie die Anforderungen der EU-Verordnung 178/2002 erfüllen, die von jedem Teilnehmer der Wertschöpfungskette verlangt, Möglichkeiten zur lückenlosen Verfolgung der Produkte sicherzustellen. Die Norm bezieht sich zwar auf Lebens- und Futtermittel. Doch die Branche könnte zum Boom der Tags beitragen.
Wenn die Daten dezentral, direkt an der Ware, gehalten werden, bedeutet das eine höhere Transparenz in der logistischen Kette, die Logistiker nur noch Supply Chain nennen. Profitieren kann jede Branche. Thomas Wimmer prognostiziert den Transpondern eine „ähnlich breite Verwendung, wie sie der Barcode erreicht hat, weil es eine sehr zuverlässige und resistente Technologie ist“. Mit den Vorteilen, dass ein Transponder erstens viel mehr Daten transportieren kann, zweitens durch Hindernisse lesbar ist und drittens wieder beschrieben werden kann.
Grenzen sieht Wimmer dort, wo thermische, mechanische oder chemische Einflüsse den Transpondern das Leben schwer machen. Beispielsweise werden in der Hydraulikindustrie hochwertige Oberflächen mit einem Konservierungsmittel versehen, auf dem keine Aufkleber halten. Oder flexible Pakethüllen: Wenn diese mechanischen Belastungen ausgesetzt sind, könnte das die Chips zerstören. Neue Materialien könnten das Problem in einigen Jahren aber beheben.
Die meisten Anwendungen liegen im Bereich so genannter „passiver“ Transponder; diese erhalten ihre Energie über Induktion von der Antenne, die die Daten abfragt. Die Lesereichweite dieser Tags liegt bei etwa 0,8 bis 1,0 m. Wird die Empfangsantenne als Gate ausgeführt, liegt die maximale Breite eines solchen Tores bei knapp 2 m. „Aktive“ Tags sind um den Faktor zehn teurer und haben zum Teil Reichweiten von 20 bis 40 m. Sie ziehen ihren Strom aus einer Batterie.
Passive Tags können „read only“ – nur lesbar – oder wiederbeschreibbar sein. Die umprogrammierbaren Transponder werden beispielsweise an Werkstückträgern eingesetzt, um für einen Montagedurchlauf die Daten der jeweiligen Komponente aufzuzeichnen. Sie lassen sich auch in eine Palette einbauen, wie es die Paul Craemer GmbH, Herzebrock-Clarholz, vormacht. Das Unternehmen hat zusammen mit der Schreiner Logi-Data GmbH & Co. KG, München, Kunststoffpaletten auf den Markt gebracht, die serienmäßig mit RFID-Technologie ausgestattet sind. Der Transponder wird bereits beim Spritzgießen der Palette eingefügt. Da hier ein Batteriewechsel unmöglich wäre, ohne die Palette zu zerstören, sind die Tags passiv. Und wiederbeschreibbar, damit sie neu programmiert werden können, sobald eine andere Ware befördert wird. Die Euro-Paletten können beispielsweise im Hochregal eingesetzt werden. Mit Hilfe der Transponder sind die Lagerplätze und Waren sicher zu identifizieren, Sendungen schneller nachzuverfolgen, das Bestandmanagement besser zu organisieren und Fehler auszuschließen. Zudem kann der Anwender seine Dokumentationskette sichern.
Auch der Materialfluss lässt sich mit Transpondern steuern. So hat der Böblinger Fördertechnik-Spezialist Eisenmann im Werk des Automobilzulieferers Hella-Behr Fahrzeugsysteme GmbH im spanischen Vitoria eine Weichensteuerung der Elektrohängebahn (EHB) durch das jeweilige Fahrzeug realisiert. Vor allem bei komplexen Hängebahnanlagen mit zahlreichen Weichen dürfte sich das als sinnvolle Investition erweisen. Auch bei Ford in Köln arbeitet ein solches System. Gesteuert wird die Fördertechnik durch Transponder: Die sind auf der Unterseite des EHB-Schienenprofils angebracht und fungieren als kontaktlose Identifikationsmittel. Über ein Lesegerät ermitteln sie den Stand- (oder: Hänge-)ort des Fahrwerks und melden ihn an eine übergeordnete Steuerung.
Hauptvorteil der umprogrammierbaren Mikrochips: Sie kommen ohne eigene Stromversorgung aus, sind resistent gegen Verschmutzung und bieten eine hohe Lesesicherheit. Lästige Kabel und aufwendige Stromschienenschnitte für Fahr-, Lastwechsel- und Positionierfunktionen erübrigen sich. Bei Hella-Behr steigt die Flexibilität an den Montagestationen: Wollen zum Beispiel die Werker, die auf der EHB ein Mercedes-Frontmodul montieren, ihre Arbeitsplatzhöhe oder eine Halteposition ändern, brauchen sie nur die Transponder zu verschieben. Mit herkömmlichen Identschienen wäre das nicht möglich. Auch die Geschwindigkeit kann an den Bedarf angepasst werden.
Auf ähnliche Weise lassen sich Sortieranlagen steuern, sei es für die Zuordnung von Postpaketen oder von Gepäckstücken auf Flughäfen. Wie US-Medien berichten, wollen die Flughäfen Schiphol in Amsterdam, Changi in Singapur und John F. Kennedy in New York noch in diesem Jahr ein Experiment starten, um die Praxistauglichkeit von RFID beim Sortieren und Transport von Gepäck zu testen. Denkbar wäre, dass Reisende schon zu Hause ihre Koffer mit einem RFID-Tag versehen, sie von einem Kurier zum Flughafen bringen lassen – und das Gepäck dort über die Förderbänder den Weg ins richtige Flugzeug findet, ohne dass ein Mensch eingreifen müsste.
Wenn alle Informationen, die ein Gepäckstück, ein Zulieferteil oder ein Konsumprodukt betreffen, an der Ware angebracht sind, ermöglicht das auf Dauer eine völlig andere IT-Architektur. So rechnet Siemens-Dematic-Experte Schönbeck damit, dass schon in vier Jahren die IT-Systeme deutlich einfacher werden und sich die Leitrechnerebene auflösen wird. Auf Flughäfen fänden schon heute Koffer in einer Wanne ihre Ziele völlig ohne Leitrechner. „Der Lieferauftrag wird rein auf der steuerungstechnischen Ebene abgearbeitet“, erklärt Schönbeck. Und er blickt weiter in die Zukuft: „In sechs Jahren“, sagt der promovierte Ingenieur, „werden die Systeme in der Industrie voraussichtlich in autonom handelnde, dezentrale Komponenten zerfallen.“ Dass das geschieht, sei Voraussetzung für eine kostengünstigere, einfachere Logistik. „Wenn das Gesamtsystem auf Veränderungen des logistischen Prozesses besser reagieren soll, müssen die operativen Entscheidungen möglichst nah an die Ware verlagert werden.“ Genau das spricht für eine dezentrale Steuerung und Entscheidung.
Dass sich die Leitrechnerebene teilweise auflösen wird, nennt Schönbeck für Siemens Dematic „bedauerlich“, schließlich macht die IT einen erklecklichen Anteil am Umsatz des Konzerns aus. Das Gleiche gilt für die Lagertechnik. Doch da es kaum etwas Ineffizienteres gibt, als Produkte ins Regal zu legen, fordert Schönbeck: „Das Ziel muss für jeden Unternehmer heißen, fertige Teile von der Produktion direkt in die Distribution zu geben. Denn der einzig gangbare Weg heißt auch in der Logistik: runter mit den Kosten!“
Keine Schlangen mehr beim Wochenend-Einkauf
Siegeszug der Tags dürfte dem des Barcode ähneln
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