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Zylinder schrumpfen viel leichter als Ventile

Pneumatik passiert die Grenze zwischen Mini und Mikro
Zylinder schrumpfen viel leichter als Ventile

Der Markt für Miniaturpneumatik wächst und ist bis in die Mikrofluidik vorgedrungen. Exotische Anwendungen in der Raumfahrt zeigen, dass die Systeme funktionieren. Aber auch irdische Einsatzfelder locken bereits.

Gerhard Vogel ist Fachjournalist in Königsbrunn

Das Reich der pneumatischen Zwerge präsentiert sich facettenreich: Zylinder im Stecknadelformat finden sich darin ebenso wie Ventile mit den Abmessungen eines Zuckerwürfels. Soweit die Komponenten der Miniaturpneumatik angehören, halten sie sich streng an die Arbeitsprinzipien ihrer weitaus größeren Brüder. Doch nur wenige Schritte weiter schaut die Welt ganz anders aus: Dort fördern heute Pumpen im Legostein-Format die Flüssigkeiten, obwohl sie außer einer Membrane keine mechanischen Teile besitzen. Dass sie dennoch zur Riege der pneumatischen Zwerge gehören, ist unbestreitbar: Sie nutzen Druckluft als Antriebskraft, und Sensoren und Ventile aus dem Pneumatikbaukasten dienen zum Steuern und Regeln des Mediums.
Begonnen hat die Miniaturisierung der Pneumatik mit dem Bau von Kleinstzylindern. Eine typische Aufgabe war der Langzeittest von Telefontasten, Taschenrechner-Bedienfeldern und PC-Tastaturen. Aber auch Einsätze in der Textilindustrie beeinflussten das Design der Miniaturen. Die dafür entwickelten Zylinder sind zum Teil nur 2 bis 3 cm lang und haben Kolbenstangen mit kaum mehr als 1 mm Durchmesser. Ein Hersteller offeriert sogar einen flachen Zylinder, der es erlaubt, die pneumatischen Miniaktoren dicht gepackt aneinander zu reihen. Da solche Minizylinder technologisch gesehen kein besonderes Know-how erfordern, haben praktisch alle bedeutenden Pneumatik-Vollsortimenter solche Aktoren im Programm.
Ganz anders sieht es bei den Ventilen aus. Sie klein zu bekommen, ist nicht mehr über die Parametrierung einer bestehenden CAD-Konstruktion möglich. Zumal über die Maßstabsänderung bei Schaltfrequenz, Durchflussmenge und Hysterese keine befriedigenden Ergebnisse zu erzielen sind. Deshalb entwickelten technologisch führende Hersteller – oft zusammen mit renommierten wissenschaftlichen Einrichtungen und mit hohem finanziellem Aufwand – anspruchsvolle innovative Lösungen.
Das Institut für fluidtechnische Antriebe und Steuerungen (Ifas) an der RWTH Aachen beispielsweise brachte im Rahmen eines Projektes, das der Forschungsfonds des Fachverbands Fluidtechnik im VDMA förderte, ein thermisch angetriebenes 3/2-Wege-Mikroventil hervor. Dieses soll als Vorsteuerventil seinen Weg machen. Beteiligt an der Entwicklung waren das Fraunhofer-Institut für Siliziumtechnologie (ISIT) sowie das Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration (IZM). Der Volumenstrom in diesem Mikroventil reicht immerhin aus, um Aktorhübe bis zu 50 mm bei Schaltzeiten von weniger als 25 ms zu erzielen.
Ein anderes High-Tech-Mikroventil jettet inzwischen durch das Weltall: das Mega-Mic, eine Gemeinschaftsentwicklung der Filderstädter Hoerbiger-Origa GmbH und des Instituts für Mikro- und Informationstechnik der Hahn-Schickard-Gesellschaft in Villingen-Schwenningen. An Bord der europäischen Weltraum-Sonde Rosetta brach es vor gut einem Jahr zum Kometen 67P/Tschurjumow-Gerasimenko auf. Dort soll es im Jahr 2014 ankommen. Auf der Suche nach organischen Molekülen im Kometenkern entnehmen Bohrer Bodenproben, die in einem kleinen Ofen verdampfen. Das Mega-Mic dosiert die entstehenden Gase für die Untersuchung in einem Gaschromatographen. Ein winziger Pneumatik-Baustein hilft also, die kleinsten Bausteine des Lebens aufzuspüren.
Den Kern des Mega-Mic bildet eine nur wenige Millimeter große Siliziumstruktur mit hauchdünner Membran, die über Logiksignale direkt angesteuert und durch elektrostatische Spannung geschaltet wird. Bei einem Hub von nur 0,2 µm gibt das Ventil die Ein- und Auslässe frei und lässt es je nach Ausbaustufe zu, dass pro Minute zwischen 0,5 und 50 l Gas passieren. „Das Ventil kann bis zu einem Druck von 8 bar präzise und im Rhythmus von weniger als einer Millisekunde schalten“, betont Dr. Stephan Messner, Bereichsleiter am HSG-IMIT. Ganze 3 mW reichen für die Stromversorgung aus.
Zu glauben, der Markt für solche Ventile sei ein rein außerirdischer, ist falsch. Anwendungsmöglichkeiten für das Siliziumventil sieht Hoerbiger-Origa sowohl in der Medizin-, Labor- und Analysetechnik als auch im Automobilbau. Sein Serien-Debüt hat das Mega-Mic bereits gegeben: als neuartiges System für den geregelten Druckablass in einem Blutdruckmessgerät. Und schon jetzt laboriert ein weiteres Fraunhofer- Institut mit der Pneumatikkomponente mit integrierter Mikrofluidik-Qualifikation. Das Freiburger Institut für Solare Energiesysteme (ISE) plant, Mini-Brennstoffzellen für Mobiltelefone und Laptops mit dem Ventil auszurüsten, um den Gasfluss aus dem Wasserstofftank in die Brennstoffzelle zu steuern.
Auf vergleichbare Anwendungen zielt auch das Chipsol-Ventil der Schweizer Fluid Automation Systems FAS S.A., Versoix, die kürzlich per Akquisition zu Norgren kam. Auf der Hannover Messe ließ Norgren-Manager Phillip Orlik wissen, dass das von der FAS entwickelte 8-mm-Kleinst-Magnetventil ebenfalls auf Projekte in der Medizin- und Bioverfahrenstechnik ausgerichtet ist. Das Chipsol-Ventil deckt zurzeit den Bereich bis zu 8 bar Druck ab und kann leicht in Anschlussplatten mit gesammelter Ab- und/oder Zuluft integriert werden. Bis zu 100 Millionen Schaltspiele soll das Miniventil aushalten und sich damit auch als Vorsteuerventil für die Automatisierungstechnik eignen. Mit nur 8 mm Durchmesser unterbietet es eines der bislang kleinsten Magnetventile, das die Ingelfinger Christian Bürkert GmbH und Co. KG vor einigen Jahren auf dem Internationalen fluidtechnischen Kolloquium in Aachen vorgestellt hatte.
Nicht zuletzt die Produktions- und Montageprozesse der Elektronik, Mikromechanik und Mechatronik verlangen verstärkt nach größenangepassten Produktionssystemen. Erst dieser Tage hat die Bermatinger Rohwedder AG als einer der führenden Spezialisten auf diesem Gebiet, die Minifactory vorgestellt. Auf weniger als 0,5 m² interner Produktionsfläche kann diese komplette Mikrosysteme in Klein- bis Mittelserien erzeugen. In derart kleinen Fabrikhallen ist kein Platz für sperrige Automatisierungstechnik. Filigrane Greifer werden hier gebraucht, aber auch Pneumatiksysteme Marke Lilliput.
Um solchen Kundenanforderungen gerecht zu werden, stellten alle großen Pneumatikhersteller auf der Hannover Messe Systeme der Miniaturpneumatik sowie Systemlösungen mit Raum sparender Funktionsintegration vor – mit Ausnahme des japanischen Pneumatikmarktführers SMC, der in Hannover aus nicht bekannten Gründen fehlte.
Mit dem neuen Miniaturventil MH1 hat beispielsweise die Esslinger Festo AG jetzt ein System mit 10 mm Baubreite im Markt. Als 2/2-Wege-Ventil bietet es bei Schaltzeiten von rund 4 ms/min einen Durchfluss von 14 l, als 3/2-Wege-Ausführung schafft es immer noch 10 l. Reicht die Durchflussmenge nicht aus, obwohl für die Dynamik des industriellen Prozesses die kurzen Schaltzeiten wichtig sind, können mehrere MH1 mit einem pneumatischen Multipol verkettet werden. Dann setzt Festo mehrere der schnellen Ventile auf eine Anschlussplatte und verkettet diese sowohl elektrisch als auch pneumatisch. So lässt sich der Volumenstrom verdoppeln oder sogar vervielfachen. Die in Schutzart IP 40 aufgebauten Ventile eignen sich auch als Vorsteuerventile für Prozessventile. Ähnliche Vorzüge kann auch die Miniaturventilinsel CPA-SC für sich in Anspruch nehmen, wobei das SC für Smart Cubic steht.
Zu den Pionieren der Miniaturisierung pneumatischer Systeme – einschließlich der Sensoren – zählt unstrittig auch der Erligheimer Vollblut-Pneumatiker Bruno F. Staiger. Seine Mikromagnetventile mit extrem kurzen Schaltzeiten genießen einen nahezu legendären Ruf. Im Schulterschluss mit der Lange Feinwerktechnik, Ölbronn-Dürrn, und dem Institut für Mikroelektronik Stuttgart präsentierte Staiger im Rahmen des Forschungsvorhabens Mikrohandhabung einen Greifer, der Mikrobauteile von weniger als 1 mm Größe greifen, festhalten und geordnet ablegen kann. Während der eigentliche Greifer von Lange gebaut wird, steuert Staiger das integrierte Pneumatik-Kompaktmodul bei. Als Schaltschrank der Magnetventilsteuerung enthält es ein ASIC, das vom IMS entwickelt wurde, sowie mehrere winzige Magnetventile – so dass es sich unabhängig von der zentralen Steuerung im Inselbetrieb nutzen lässt.
Für die Zukunft rechnen die Experten damit, dass der Markt für Mikropneumatik überdurchschnittlich wachsen wird. Trotzdem wird er auf absehbare Zeit das bleiben, was der Baugröße der Komponenten am Nächsten kommt: ein kleines Stückchen vom großen Pneumatikkuchen.
Kombinierte Mini-Ventile bieten Durchfluss bei hoher Dynamik
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