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Elektromobilität: Balsam gegen die Reichweiten-Angst

Elektromobilität
Balsam gegen die Reichweiten-Angst

Wann und wie kommt die Elektromobilität endlich in Fahrt? Automobilhersteller, Zulieferer und Energieversorger aus Baden-Württemberg sind sich einig, dass ein Ökosystem aus attraktiven Fahrzeugkonzepten, modernen Antriebslösungen und einer flächendeckenden Ladeinfrastruktur schon in wenigen Jahren für kräftige Kaufanreize sorgen wird.

Hartmut Hammer
Fachjournalist aus Leutenbach

„Der Durchbruch der Elektromobilität erfordert mehr als nur überzeugende Fahrzeuge“, sagt beispielsweise Jochen Hermann, Leiter Entwicklung CASE (Connected, Autonomous, Shared & Service und Electric Drive) und Entwicklung e-Drive bei der Daimler AG. Was Hermann und die anderen Teilnehmer einer Podiumsdiskussion beim Messe-Preview zur „30th International Electric Vehicle Symposium & Exhibition“ im Oktober 2017 in Stuttgart skizzierten, könnte die Blaupause für den erfolgreichen Einstieg in die E-Mobilität sein.

Als wichtige Voraussetzung für den Erfolg der Elektromobilität sehen die Unternehmensvertreter, den Autofahrern die vieldiskutierte „Reichweitenangst“ zu nehmen. Dies wollen sie – ihrer Ingenieurskunst vertrauend – unter anderem mit technischen Maßnahmen erreichen. Bosch und Mahle etwa sehen die Effizienz der E-Motoren, von Halbleitermaterialien für die Leistungselektronik, von Thermomanagement-Konzepten für die elektrischen Komponenten oder von sparsamen Innenraum-Komfortsystemen (wie etwa Flächenheizungen) noch lange nicht ausgereizt. Parallel dazu macht die Batterietechnik rasante Fortschritte. So hat sich zum Beispiel der Energieinhalt der Batteriezellen beim zweiten Porsche Panamera Plug-In-Hybrid (etwa 370 Wh/Zelle) im Vergleich zur ersten Generation von 2012 (etwa 240Wh/Zelle) um gut 50 % erhöht. Im künftigen Elektromodell Mission E (vermutlich ab 2020) soll der Energieinhalt (fast 600 Wh/Zelle) deutlich mehr als das Doppelte betragen.

Bosch wiederum erwartet von seinen Forschungsaktivitäten bei Lithium-Polymer-Batteriezellen im nächsten Jahrzehnt in etwa eine Verdoppelung der Energiedichte im Vergleich zu aktuellen Lithium-Ionen-Zellen. Zudem soll der im Polymer-Festkörper gebundene Elektrolyt laut Bosch nur äußerst schwer entflammbar sein, was bei Batteriegehäusen und der umgebenden Fahrzeugstruktur Vereinfachungen zulässt. Interessante Entwicklungen sind beim Antriebsstrang zu verzeichnen. So fragen die OEMs nach Angaben von Bosch derzeit elektrische Achsen stark nach, die platzsparend im Heck untergebracht werden können. Sie sind entweder als Stand-Alone-Antrieb geeignet oder machen aus einem frontgetriebenen, verbrennungsmotorischen Pkw zu moderaten Kosten einen Allrad-Hybriden.

Auch am unteren Ende des Pkw-Segments, bei kleinen elektrischen Stadtfahrzeugen, kommt die E-Mobilität allmählich in die Gänge. Beispielsweise will die E-Go Mobile AG, ein Spin-Off der RWTH Aachen, im Sommer 2018 ein elektrisch angetriebenes Stadtmobil mit vier Sitzplätzen für einen Einstiegspreis unter 16 000 Euro auf den Markt bringen. Dieser Kampfpreis soll durch den Verzicht auf teure Eigenentwicklungen – Komponenten wie Scheinwerfer und Sitze werden „von der Stange“ eingekauft und durch einen günstigen 48 Volt-Elektroantrieb zustande kommen. Der Antrieb von Bosch soll mit 22 kW Spitzenleistung immerhin Tempo 100 ermöglichen und den mit Batterie nur 810 kg schweren Cityflitzer nach NEFZ-Norm 130 km weit bringen.

Das Äquivalent zur Druckbetankung

Perspektivisch rechnen die Diskussionsteilnehmer damit, dass sich die Gesamtkosten der Elektrofahrzeuge (TCO, Total Cost of Ownership) bis etwa 2025 denen von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor angleichen werden. Marktgerechte Elektrofahrzeuge sind das eine – die Ladeinfrastruktur und der Ladekomfort das andere. Hier geht Porsche mit dem Mission E als Pionier voran und erreicht durch eine ungefähre Verdoppelung der Betriebsspannung auf etwa 800 V eine Halbierung der Ladeströme und verringerte Leiterquerschnitte. Dank hoher Ladeleistungen werden kurze Ladezeiten von etwa 15 min für weitere 300 km Reichweite möglich. Damit wäre das E-Auto auf Langstrecken annähernd konkurrenzfähig mit Verbrennungsmotoren. Dieses Schnellladen wird sich in erster Linie an Hauptverkehrsachsen abspielen. Deshalb wird der Raststättenbetreiber „Deutsche Tank & Rast“ alle seine etwa 400 Autobahnraststätten mit Schnellladesäulen bestücken. Timo Sillober, Leiter Vertrieb- und Produktmanagement bei der EnBW Energie Baden-Württemberg AG: „Die EnBW hat in Kooperation mit Tank & Rast innerhalb von sechs Monaten 34 Raststätten in Baden-Württemberg mit Schnellladesäulen ausgerüstet. Die Säulen haben eine Mindest-Ladeleistung von 50 kW und sind mit allen drei gängigen Ladesteckersystemen ausgerüstet. Bei Bedarf werden diese Stationen auf mindestens 150 und teilweise 300 kW Ladeleistung sowie vier bis sechs Ladepunkte erweitert.“

Schon Ende 2017 sollen alle deutschen Autobahn-Raststätten über Schnellladestationen verfügen. Verstärkt wird dieses Grundnetz der Energieversorger von Stationen eines Joint Ventures großer OEMs. BMW, Daimler, Ford, VW & Co. wollen in den nächsten Jahren an Hauptverkehrsachsen in Europa mehr als 400 Schnellladestationen mit Ladeleistungen von bis zu 350 kW und CCS-Steckern installieren.

Wichtig ist das engmaschige Netz

Allerdings werden nach Expertenmeinungen wohl nur etwa 5 % der Ladestopps an den Schnellladestationen eingelegt. Die weitaus meisten erfolgen im Kurzstreckenverkehr. Dort favorisieren Automobilindustrie und Netzbetreiber das Konzept des intelligenten Nachladens während der Pkw-Standzeiten. Dazu sollen an möglichst vielen Privatimmobilien sowie privaten und öffentlichen Stellplätzen intelligente und vernetzte Ladestationen installiert werden. Dort können die Batterien mit 11 oder 22 kW Ladeleistung nachgeladen und so auf einem hohen Ladeniveau gehalten werden.

Diese „Always Charge“-Strategie erfordert aber eine hohe Zahl an Ladestationen (eine Ladestation kann mehrere Ladepunkte umfassen). Da sieht es in Deutschland gar nicht so schlecht aus. Nach Angaben der EAFO (European Alternative Fuels Observatory) hat sich die Zahl der Ladepunkte von 2015 auf 2016 mehr als verdreifacht und liegt im Sommer 2017 bei mehr als 20 000, davon knapp 2000 Schnellladepunkte mit mehr als 22 kW Leistung. Allerdings müssten nach Schätzung der Nationalen Plattform Elektromobilität (NPE) in Deutschland insgesamt 70 000 Ladepunkte (davon 7100 Schnellladesäulen) installiert sein, um eine Million Elektroautos komfortabel mit Strom zu versorgen.

Auf die immer wieder geäußerte Vermutung, für größere E-Fahrzeugflotten stehe gar nicht genügend Energie zur Verfügung, antwortet die ENBW mit einem einfachen Rechenbeispiel: Ein Anteil der E-Fahrzeuge an der deutschen Pkw-Flotte von 25 % (das wären dann etwa 11 Millionen E-Fahrzeuge) würde einen zusätzlichen Energiebedarf von 22 TWh im Jahr erzeugen. Das seien etwa 3 % des gesamten Stromverbrauchs in Deutschland und wäre durch den weiteren Ausbau regenerativer Energiequellen gut zu kompensieren.

Das Management der vielen Ladevorgänge lässt sich mit „virtuellen Kraftwerken“ regeln. Die dort integrierten intelligenten Prognosemodelle ermitteln optimale Ladezeitpunkte. So wäre die Netzbelastung über die Zeit besser verteilt und Bedarfsspitzen ließen sich etwas glätten.

Wider dem Tarifdschungel

Eine offene Flanke des Ökosystems E-Mobilität stellen derzeit noch der Zugang zu den Ladestationen und die Abrechnungsmodalitäten dar. Zwar arbeiten OEM und Energieversorger daran, mit einem Roaming-Modell ähnlich wie beim Mobiltelefon die Abrechnung und Bezahlung der Energiemengen zu vereinfachen. Zudem ermöglichen Plattformen wie das Direktbezahlsystem Intercharge Direct schon heute die Nutzung von Stromzapfsäulen verschiedener Anbieter per App, Kredit- oder EC-Karte.

Dennoch dokumentiert eine Umfrage des Energie-Unternehmens Lichtblick eine gewisse Wildwest-Mentalität bei der Ladeinfrastruktur. Bislang kämpfen noch zahlreiche Parteien – etwa die Stromversorger, Autohersteller und IT-Provider – um die Markt- und Technikführerschaft beim Stromtanken. So monieren viele Umfrageteilnehmer den Wirrwarr von dutzenden Ladekarten und aufwändiger – manchmal erfolgloser Anmeldung vor dem Stromtanken. Als weitere Ärgernisse werden extrem unterschiedliche Preis- und Tarifmodelle und versteckte Zusatzkosten genannt.

Ein dichtes Netz an Ladestationen und eine „Always Charge“-Mentalität bei den E-Mobil-Nutzern könnten innerhalb weniger Jahre geschaffen werden. Dies hätte den angenehmen Nebeneffekt, dass die Batterien im Fahrzeug deutlich kleiner und kostengünstiger ausfallen könnten. Damit wäre auch das bisher oft noch postulierte Paradigma, dass E-Antriebe die gleichen Eigenschaften wie Verbrennungsmotoren bieten müssten, obsolet. Im Stadtverkehr beispielsweise sind beim skizzierten Ökosystem hohe Reichweiten nicht mehr Voraussetzung.

Bis dahin wollen die Protagonisten der E-Mobilität mit guten Produkten und Ideen fleißig werben. Bosch etwa stockt seinen internen Fuhrpark massiv mit E-Fahrzeugen auf, um seine Mitarbeiter für diese Antriebsart zu begeistern und deren Präsenz im Straßenbild zu erhöhen. Timo Sillober fügt hinzu, dass bei Informationsgesprächen über EnBW-Technikpakete aus Photovoltaik und Energiespeicher die Kunden fast immer nachfragen, wie gut man damit das eigene E-Mobil mit „Strom vom eigenen Dach“ laden könne. Diese Kombination aus Ökostrom aus eigener Produktion plus „Always Charge“-Ladeinfrastruktur dürfte nach Meinung vieler Experten die Ladeproblematik weiter entschärfen. In einem nächsten Schritt könnte das Cluster aus vernetztem Fahrzeug, intelligentem stationärem Stromzähler mit Internetanschluss und passenden Softwarealgorithmen die E-Mobilität und das „Smart Grid“ verknüpfen. Bei einem solchen intelligenten Stromnetz wäre beispielsweise das Aufladen der Traktionsbatterie in Zeiten eines Stromüberangebots sinnvoll. Genauso könnte die in Traktionsbatterien gespeicherte elektrische Energie in Zeiten von hohem Strombedarf wieder in das Netz eingespeist werden. E-Mobilität wäre dann nicht nur ein weiterer „Stromverbraucher“, sondern integraler Bestandteil der Energieversorgung.

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