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Unternehmensführung: Industriemitarbeiter selbstständiger als gedacht

Corona ist ein Flexibilitäts-Booster
Industriemitarbeiter sind selbstständiger als gedacht

Eineinhalb Jahre Coronapandemie haben die Arbeit zeitlich wie örtlich deutlich flexibilisiert. Zwar wächst inzwischen das Bedürfnis nach beruflichem und sozialem Kontakt am Arbeitsplatz. Um dennoch die schützende Distanz zu wahren, trennen produzierende Unternehmen ihre Früh- und Spätschicht zeitlich und bilden feste Teams ohne Springer.

» Jens Gieseler, freier Journalist in Tübingen

„Für uns ist es eine neue Erfahrung, unserem Team völlig zu vertrauen und loszulassen“, sagt Michael Zahm. Der Geschäftsführer der PFIF Partner für Innovation & Förderung GmbH & Co. KG spricht dabei für alle Führungskräfte des Dienstleisters für Innovationförderung. Bis März vergangenen Jahres war das badische Unternehmen zurückhaltend, seinen Mitarbeitern die Arbeit im Homeoffice zu genehmigen. Etwa zehn Prozent konnten ihren Arbeitsort selbst wählen. Argument der Geschäftsführung und der langjährigen Mitarbeiter: In der Beratung ist Erfahrungswissen entscheidend und damit der schnelle, unkomplizierte Kontakt zu Kollegen – auch zwischendurch am Kaffeeautomaten.

Dann kamen die Corona-Maßnahmen. Und plötzlich hat sich das Verhältnis beinahe umgedreht: Drei bis fünf Mitarbeiter verlieren sich aktuell im Büro. Vor allem, weil sie zu Hause schlechtere Arbeitsbedingungen haben. Dem einen fehlt ein ausreichend großer Arbeitsplatz, den anderen stören die Unterbrechungen etwa durch die Kinder und der nächste benötigt schlicht sein Büro, um konzentriert arbeiten zu können. Erstaunliche Erfahrung für die drei Geschäftsführer – sie haben den Eindruck, dass die meisten eher etwas mehr oder effektiver arbeiten.

Kontrollprinzip funktioniert nicht mehr

Die meisten Mitarbeiter des Innovationsförderers sind Ingenieure, die es auf Kundenseite ebenfalls fast ausschließlich mit Ihresgleichen zu tun haben. „Der Anspruch die größtmögliche Präzision zu erreichen, ist immer da und damit der Glaubenssatz: Wir müssen so viel wie möglich kontrollieren“, erzählt Zahm. Doch dieses Prinzip funktioniert nicht mehr. Ob die Mitarbeiter acht Stunden vor dem Computer und am Telefon sitzen, ob die Projekte laufen, ob die Kunden zufrieden sind – die Führungskräfte müssen sich darauf verlassen, dass sich ihre Mitarbeiter melden, wenn es irgendwo klemmt. „Ich führe gegenwärtig nicht mehr Gespräche mit meinem Team, vielleicht längere zu speziellen Themen“, so der Ingenieur aus dem badischen Lahr.

Selbstorganisation zuzulassen fällt schwer

Im Gegensatz dazu klagen laut aktuellem HR-Report des Personaldienstleisters Hays viele Führungskräfte über die Umsetzung ihrer Funktion in Zeiten von Corona. Drei Fünftel tun sich schwer, Mitarbeiter in ihre Entscheidungen einzubinden oder überhaupt Selbstorganisation zuzulassen. Begründung: Sie haben es schlicht anders gelernt. „Die Studienergebnisse machen klar, wie stark die Sozialisation der Führungskräfte innerhalb von starren hierarchischen Unternehmensstrukturen greift. Mehr noch: wie dieser Zustand die Entwicklung von New-Work-Arbeitsweisen behindert,“ so Hays-Vorstand Christoph Niewerth.

Arbeit erhält durch Corona deutlichen Flexibilisierungsschub

Entsprechend haben mehr als 70 Prozent Probleme damit, Macht abzugeben oder an einer Enthierarchisierung der Unternehmensstrukturen mitzuwirken. Während mehr als die Hälfte der 1000 Befragten feststellt, dass die Arbeit durch Corona sowohl zeitlich als auch örtlich einen deutlichen Flexibilisierungsschub erhielt, behauptet lediglich rund ein Viertel, dass sich Führungs- oder Machtstrukturen verändern. Corona als Katalysator für die Flexibilisierung individueller Arbeit, aber kein entscheidender Treiber für eine demokratischere Unternehmensorganisation.

Die badischen Förder-Versteher tendierten schon vor Corona zu hoher Eigenverantwortung und Selbständigkeit ihrer Mitarbeiter. Die Zusammenarbeit mit den Kunden ist in Projekten organisiert. Auf PFIF-Seite besteht das Team immer aus einem technischen und einem kaufmännischen Berater. Vor allem Erstere sind oft deutschlandweit unterwegs und auf Zugfahrten oder Flügen das Arbeiten auf Laptops gewohnt. „Grundsätzlich stand im vergangenen Frühjahr die Organisation für größere Arbeitsflexibilität“, sagt Zahm, „wir mussten lediglich unsere Kaufleute ausstatten und von der Büropflicht befreien“.

Hybride Arbeitsform ist künftig denkbar

Was die Führungskräfte allerdings merken ist, dass das Bedürfnis nach beruflichem und sozialem Kontakt am Arbeitsplatz groß ist. Trotz der manchmal als mulmig wahrgenommen Corona-Situation, kommen viele Mitarbeiter nach einiger Zeit im Homeoffice wieder für einen Tag ins Büro. „Ich denke, dass wir künftig eine hybride Arbeitsform bekommen“, ist sich der Geschäftsführer sicher. Ein paar Tage zu Hause, wenn viele Telefonate oder konzentrierte Schreibarbeit angesagt sind. Ein paar Tage im Büro, wenn intensivere Zusammenarbeit mit den Kollegen gefordert ist.

Durchgetaktet mit Terminen für Videokonferenzen

Vergleichbar ist die Situation in der Verwaltung und bei den Wissensarbeitern von Yamaichi Electronics, einem Spezialisten für elektronische Steckverbinder und Kabelkonfektionen. „Die Arbeit leidet nicht“, stellt die Personalchefin Verena Remppis fest. Die Umstellung von Büro auf Homeoffice klappte problemlos. Allerdings macht sich die Prokuristin nach einem Jahr Gedanken um die angespannte Stimmung. Die Heimarbeiter sind mit Terminen für Videokonferenzen so durchgetaktet, dass wenig Zeit für Gespräche zwischendurch bleibt. Der Teamspirit leidet, auch die Kreativität stockt – im persönlichen Kontakt tun sich die Mitarbeiter erheblich leichter. Auch deshalb sind im Frühjahr viele bei der Schritte-Challenge der Münchener gegen die Online-Müdigkeit angetreten: Ein Drittel nutzte das bessere Wetter als gemeinsamen Impuls für mehr Bewegung.

Zeitliche Trennung von Früh- und Spätschicht reduziert Kontakte

Etwas anders ist die Lage der 120 Mitarbeiter in der Produktion und im Lager. Früh- und Spätschicht wurden zeitlich getrennt, so dass die Kontakte zwischen beiden Gruppen deutlich reduziert werden konnten – den Schwatz auf dem Parkplatz kann und will die Unternehmensführung allerdings nicht verhindern. Denn auch die Führungskräfte sind enttäuscht, dass sie durch die feste Schichteinteilung die anderen Mitarbeiter nicht mehr sehen und sich im persönlichen Gespräch austauschen können. Bei der Arbeit tragen alle Masken und können sich zwei Mal wöchentlich testen lassen, Desinfektionsmittel gibt es ausreichend und auch die Abstände werden eingehalten. „Die Teams merken, wer vorsichtiger ist und respektieren den Wunsch nach größeren Abständen“, erzählt Verena Remppis. Das funktioniert ausgezeichnet: Bisher erkrankten drei Mitarbeiter an Corona, die sich offensichtlich privat angesteckt hatten und es nicht ins Unternehmen getragen haben.

Feste Produktionsteams ohne Springer

Während ein großer Teil der Administration des Automatisierungsunternehmen Pilz aus dem Homeoffice arbeitet, müssen die 170 Produktionsmitarbeiter in Ostfildern selbstverständlich vor Ort bleiben. „Wir haben zwischen der Früh- und der Spätschicht eine Pause von 45 Minuten eingelegt, um die Kontakte zu reduzieren“, berichtet Dirk Sonder, verantwortlich für die weltweite Produktion und Leiter des Corona-Krisenstabes Deutschland. Die Übergabe erfolgt nun im kleinen Kreis oder sogar über eine Videokonferenz. Zudem wurden feste Produktionsteams gebildet und es gibt keine Springer mehr. In der ersten Zeit hat der Krisenstab teilweise zwei, drei Mal wöchentlich die Mitarbeiter informiert, erzählt der 42-jährige Ingenieur, was wiederum auf diversen Bewertungsportalen von der Belegschaft sehr positiv gewürdigt wurde. „Wir sind mehr zusammengewachsen, weil klar ist, dass so jeder den anderen schützt und mit Risikogruppen besonders kollegial umgegangen wird.“

Vieles wurde räumlich und zeitlich entzerrt

Wenn Andrea Glaub morgens an der Tür ihrer Marketing-Mitarbeiterin vorbeigeht, wundert sie sich immer mal wieder: Das Büro ist seit Wochen leer. Fünf Jahre war sie die Anwesenheit ihrer Mitarbeiterin gewohnt. „Wir haben sie komplett ins Home-Office geschickt, weil ihre Eltern zu Hause regelmäßige Unterstützung benötigen und auf Grund ihres Alters als gefährdet gelten“, erzählt die Geschäftsführerin von Glaub Automation & Engineering. Trotzdem hat sich an der Zusammenarbeit praktisch nichts geändert. Sie drückt die Kurzwahl am Telefon oder verabredet sich zu einem Online-Meeting. Die beiden Frauen kommunizieren täglich und tauschen sich bewusst auch privat aus – Business as usual.

Die Zusammenarbeit im Unternehmen klappt problemlos, weil die Büros und die Fertigungshalle des Automations-Spezialisten nur etwas leerer geworden sind. Vor allem die Programmierer verschwinden mit ihren Laptops öfters im Homeoffice. Baut jemand einen neuen Schaltschrank zusammen, nutzt er die großzügiger gestaltete Gleitzeit. Vieles ist in Salzgitter räumlich und zeitlich entzerrt worden. Dadurch konnten die Mitarbeiter individuelle Lösungen finden, die an dem einen Tag ganz anders aussehen können als an dem nächsten. „Die Mitarbeiter regeln ihre Kommunikation untereinander selbst“, erkennt die 43-jährige Diplom-Betriebswirtin. Der Konstrukteur, der zu Hause konzentrierter arbeiten kann, weiß genau, wann er Kontakt mit der Fertigung aufnehmen muss, damit das Projekt im Fluss bleibt. Geregelt ist, dass immer einer der drei Obermonteure in der Fertigung ansprechbar ist, auch während den Phasen der Kurzarbeit.

Kontakt:
PFIF – Partner für Innovation & Förderung GmbH & Co. KG
Europastraße 21
77933 Lahr
Tel. +49 7821 92389-0
www.pfif.net

Hays AG
Willy-Brandt-Platz 1–3
68161 Mannheim
Tel. +49 621 1788-0
68161 Mannheim
www.hays.de

Yamaichi Electronics Deutschland GmbH
Bahnhofstr. 20
85609 Aschheim-Dornach
Tel. +49 89 45109–0
www.yamaichi.de

Pilz GmbH & Co. KG
Felix-Wankel-Straße 2
73760 Ostfildern
Tel. +49 711 3409–0
www.pilz.de

Glaub Automation & Engineering GmbH
Peiner Str. 225
38229 Salzgitter
Tel. +49 05341 86390
www.glaub.de

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