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Mittelstand steuert auf Industrie 4.0 zu

Deutsche Unternehmen investieren zunehmend in die Digitalisierung
Mittelstand steuert auf Industrie 4.0 zu

Smarte Fabrik | Kleine und mittelständische Unternehmen tun sich schwer bei Industrie 4.0. Dabei sind die Voraussetzungen für die digitalisierte Vernetzung von Produktionsprozessen gegeben. MES-Software bildet dabei IT-seitig die Basis.

Sabine Koll Journalistin in Böblingen

Besorgt zeigte sich im Frühjahr dieses Jahres der IT-Branchenverband Bitkom (Halle 1, Stand B31) angesichts einer Umfrage unter deutschen Fertigungsunternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern aus der Automobilbranche, dem Maschinenbau, der chemischen Industrie sowie der Elektroindustrie: Der Begriff Industrie 4.0 ist demnach unter den Führungskräften noch kaum bekannt, ein Drittel hatten zum damaligen Zeitpunkt noch nichts über Industrie 4.0 gehört oder gelesen.
Burkhard Röhrig, Geschäftsführender Gesellschafter von GFOS (Halle 1, Stand D40) und Vorstandsvorsitzender des VDMA Fachverbands Software (Halle 1, Stand D41), ist sich dennoch sicher: „Die meisten Unternehmen haben diesen Weg längst eingeschlagen, auch wenn sie ihn vielleicht nicht unter dem Schlagwort Industrie 4.0 gegangen sind. Sie machen es einfach“, ist „Jede kleine Automatisierung, jede Einführung eines neuen, vernetzteren IT-Systems, sogar die Ausrüstung des Außenpersonals mit mobilen Endgeräten – und sei es nur ein Smartphone – ist letztlich ein Schritt in Richtung Industrie 4.0.“
Dass Röhrigs Einschätzung richtig ist, belegt der Medizintechnikhersteller Aesculap, eine Sparte von B. Braun. Er hat Ende 2014 an seinem Hauptsitz in Tuttlingen die sogenannte Innovation Factory eröffnet und zeigt damit beispielhaft, wie die Vernetzung und Digitalisierung in der Fertigung aussehen kann und dass sie sich rechnet. „Ehrlich gesagt, haben wir bei unseren Planungen und bei der Umsetzung der Innovation Factory nicht einen Augenblick an Industrie 4.0 gedacht“, gesteht Dr. Joachim Schulz, im Aesculap-Vorstand zuständig für Produktion und Logistik. „Wir befassen uns zwar mit dem Thema, aber eher unter den Vorzeichen der Digitalisierung der Produktion. Denn darum geht es ja bei Industrie 4.0 im Prinzip. Wichtig ist dabei für uns nicht, was aus technischer Sicht machbar ist, sondern welche Chancen daraus für unser Unternehmen erwachsen.“
Im neuen Werk fertigt Aesculap Sterilcontainer- und Motorensysteme für chirurgische Instrumente nach Industrie-4.0-Prinzipien – weitgehend automatisiert und mit verketteten Arbeitsstationen. Dabei sind der Motoren- und Containerbereich voneinander getrennt – nach der Idealvorstellung von Industrie-4.0-Experten wäre dies sicherlich ein Tabu. Demnach würde sich ein Werkstück, ganz gleich, für welches Produkt es benötigt wird, seinen Weg durch die vernetzte Fabrik selbst suchen. Das Beispiel Aesculap zeigt daher, dass sich die Ideen von Industrie 4.0 ganz unterschiedlich realisieren lassen.
Die vollautomatische Fertigungslinie für die Sterilcontainer beherbergt zehn Bearbeitungsstationen, die mit sieben Robotern verknüpft sind, und ein vollautomatisches Blechlager mit rund 600 Lagerplätzen. „Wir haben hier viele, früher verteilte Arbeitsschritte und -stationen zu einer Fertigungslinie miteinander verkettet und einfache manuelle Tätigkeiten durch Automation er- setzt“, erklärt Schulz. Sobald ein Sterilcontainer – den es in rund 250 verschiedenen Varianten gibt – das Logistiklager verlässt, wird ein neuer Produktionsauftrag für genau dieses Modell ausgelöst.
Sechs Minuten statt drei bis vier Tage für einen Container
Schulz: „Unser Ziel sind geringe Lagerbestände, um die Kosten zu senken. Deshalb müssen wir das Lager jederzeit wieder schnell füllen. Kurze Durchlaufzeiten sind daher Pflicht. Und da wir die Produktion nicht mehr nach historischen Daten, sondern nach Lagerabgang, also letztlich nach Kundenbestellung, steuern, haben wir nun kleine Losgrößen.“ Das Resultat: Sterilcontainer werden nun innerhalb von sechs Minuten gefertigt. Früher dauerte dies je nach Variante drei bis vier Tage.
Das gleiche Ziel – geringe Kapitalbindung durch niedrige Lagerbestände – verfolgt Aesculap auch bei der Fertigungslinie für Motorensysteme. Der Unterschied zur Sterilcontainer-Herstellung: Es gibt hier deutlich mehr Produkte – nämlich mehr als 3000 einschließlich aller Varianten: „Deshalb geht es hier weniger um die Verkettung als vielmehr um die kluge, intelligente Steuerung von individuellen Arbeitsplätzen mit einem hohen Anteil manueller Tätigkeiten – beispielsweise durch eine automatische, bedarfsgerechte Materialzuführung“, erklärt Schulz. Die Durchlaufzeiten wurden auch hier drastisch gesenkt – um 20 bis 40 %.
Kleine Unternehmen wünschen sich nach unten skalierbare Software
So weit wie Aesculap sind kleine und mittelständische Unternehmen noch nicht: „Die mit Industrie 4.0 verbundenen Herausforderungen für kleine und mittelständische Unternehmen sind groß“, bestätigt Christian Neu, Berater beim SAP-Beratungsunternehmen Dr. Herterich & Consultants (Halle 1, Stand G 13.7) mit Sitz in Saarbrücken. „Die IT-Systeme für die Vernetzung in der Produktion sind teuer und komplex. Die Lösungen sind primär für große Unternehmen ausgelegt. Dabei gilt die Faustformel: Je mehr und diversifizierter ein Unternehmen produziert, desto eher rechnet sich Industrie 4.0.“
Seiner Einschätzung nach brauchen kleine und mittelständische Unternehmen Software, die sich nach unten skalieren lässt, also „kleinere, abgespeckte Lösungen“, die auch auf Produktionsprozesse von mittelständischen Unternehmen zugeschnitten sind. Aesculap-Vorstand Schulz bestätigt die Komplexität der vernetzten IT: „Wir verfügen über eine Vielzahl von IT-Systemen für die vernetzte Fertigung. Diese Komplexität kann man nicht vollständig im Griff haben. Manchmal erwachsen uns aus Kleinigkeiten große Probleme – etwa wenn nach einem Betriebssystem-Update in der Microsoft-Welt ein Etikettendrucker im Lager nicht mehr funktioniert. Dann bekommen wir die Ware nicht vom Hof, obgleich der gesamte Wertschöpfungsprozess vorher perfekt gelaufen ist.“
Im Gegensatz zu Aesculap verfügen viele Unternehmen aber über veraltete Produktionsanlagen; diese erschweren die Auswahl geeigneter Lösungen für die Vernetzung und in der Produktion, wie die Autoren der vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie erstellten Studie „Industrie 4.0 – Volks- und betriebswirtschaftliche Faktoren für den Standort Deutschland“ feststellen: „Gerade KMU fällt es schwer, mit den rasanten technologischen Entwicklungen Schritt zu halten und kontinuierlich die notwendigen Investitionen aufzubringen.“ Vor diesem Hintergrund würden „transitive Technologien eine besondere Rolle spielen, die es erlauben, alte Produktionstechnologien schrittweise und kostengünstig für Industrie 4.0 auszustatten“.
Wie das funktionieren kann, testet derzeit Sanner, Anbieter von Kunststoffverpackungen für Pharmaprodukte. Das Unternehmen aus Bensheim ist mit 500 Mitarbeitern ein typisches mittelständisches Familienunternehmen. „Wir wollen keinen harten Schnitt, der alles verändert – die Technologie soll in und mit unserer Firmenkultur wachsen“, sagt Holger Frank, CEO bei Sanner. Deshalb wagt das Unternehmen den Eintritt in das Industrie-4.0-Zeitalter innerhalb eines Projekts, das die IHK Darmstadt initiiert hat. Ziel ist die prototypische Umsetzung eines Vorgehensmodells zur Einführung von Industrie-4.0-Lösungen. Daraus sollen Handlungsempfehlungen für andere kleine und mittelständische Serien- fertiger abgeleitet werden.
Dabei gibt es mehrere Teilprojekte: So erarbeitet die Projektgruppe „IT und Prozesse“ daran, die einzelnen Produktionsanlagen stärker miteinander zu vernetzen. Um die Vereinfachung und Automatisierung einzelner Prozessschritte geht es auch in der Projektgruppe „Intralogistik“: Kartonagen und Holzpaletten sollen bei Sanner aus der Produktion entfernt und der Warenfluss effizienter gestaltet werden. Die verschiedenen Konzepte werden über eine Simulationssoftware auf ihre Wirksamkeit überprüft, um die Auswahl des Konzepts zu erleichtern. Aufbauend auf den Ergebnissen des Projekts denkt Sanner bereits über weitere Maßnahmen nach: Ein digitales Kundenportal etwa soll in Zukunft sämtliche Aufträge koordinieren und somit für kürzere Lieferzeiten und schnellere interne Abstimmungsprozesse sorgen. CEO Frank rechnet damit, dass die Einführung von Industrie 4.0 bei Sanner mehrere Jahren in Anspruch nehmen wird.
Prof. Dr. Michael Henke, Leiter des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik IML (Halle 1, Stand F68) stellt fest: „Der deutsche Mittelstand verhält sich dem Thema Industrie 4.0 gegenüber noch immer eher vorsichtig bis reserviert. Dabei ist es für den mittelstandsgeprägten Wirtschaftsstandort Deutschland von entscheidender Bedeutung, dass sich die treibende wirtschaftliche Kraft des Landes auf dieses Thema einlässt – die Potenziale dazu sind auf jeden Fall vorhanden.“
Gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen Agiplan und dem Zentrum für Innovation und Technik in Nordrhein-Westfalen (Zenit) hat das Institut im August die Studie „Erschließen der Potenziale der Anwendung von Industrie 4.0 im Mittelstand“ vorgelegt. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Vision des volldigitalisierten Industrie-4.0-Unternehmens für den deutschen Mittelstand zwar noch in weiter Ferne liegt, erste Umsetzungsschritte jedoch gemacht werden können. Die Chancen für mehr Wettbewerbsfähigkeit seien erkannt und einige Technologien bereits marktreif – würden aber noch zu selten eingesetzt. Das gelte vor allem für den Bereich IT.
Unternehmen wollen verstärkt in MES-Systeme investieren
Als Basis für Industrie 4.0 sehen Experten dabei Manufacturing Execution Systeme (MES). „MES schaffen vor allem Transparenz in den Produktionsprozessen, helfen, regulatorische Anforderungen zu erfüllen, und bilden das Grundgerüst für die Digitalisierung der Produktion. Deshalb wollen Unternehmen verstärkt in diese Systeme investieren“, sagt Stefan Müller, Manager bei der Management- und Technologieberatung Bearingpoint, die ein Studie zum Thema erstellt, an der 105 produzierende Unternehmen teilgenommen haben. 88 % der befragten Unternehmen messen MES demnach für die Zukunft eine zunehmende Bedeutung bei. 41 % sehen sogar einen stark zunehmenden Trend. Entsprechend dieser Einschätzung geben knapp drei Viertel der Unternehmen eine Investitionsabsicht in MES in den nächsten drei Jahren an.
Als Haupttreiber dafür wird der Transparenzgewinn in den Produktionsprozessen genannt, um darauf basierend Produktionsvorteile zu erzielen. „Bei aller Dezentralität, die Teil des Industrie-4.0-Konzepts ist, ist es dennoch sinnvoll, eine zentrale Instanz zur Koordinierung und Synchronisation einzurichten. So können MES bereits heute eine Brücke in die Zukunft bauen und als virtuelle Ebene zum Teil schon jetzt Konzepte vorwegnehmen, die essentiell für Industrie 4.0 sein werden“, bestätigt GFOS-Geschäftsführer Röhrig. Schon heute profitieren MES seiner Darstellung nach von einer hohen Erfassungsdichte: „Ob es um die Vernetzung geht, die Anreicherung von Produkten um ihre Produktinformation oder um die dezentrale Steuerung der Produktionselemente – MES kann jetzt schon emulieren, was für eine flexible Produktion der Zukunft notwendig ist und ist zumindest der erste Schritt in die richtige Richtung.“
Auch nach Meinung von Rolf Kipp, Trovarit (Halle 1, Stand C61) bieten MES-Systeme „aufgrund ihre Funktionen und Aufgaben ideale Voraussetzung, um die Zielsetzungen und Inhalte von Industrie 4.0 anzugehen und umzusetzen“. Im „Marktspiegel Business Software MES – Fertigungssteuerung 2015/2016“, den Trovarit gemeinsam mit dem Frauhofer IPA erstellt hat, nennt er an erster Stelle die horizontale Integration und das integrative Datenmanagement als große Vorteile: „Die Verknüpfung der Daten über alle am Fertigungsprozess beteiligten Ressourcen hinweg ist möglich mit dem Ziel, autonome Insellösungen und zusätzliche Schnittstellen zu vermeiden. Durch die Möglichkeit, in einem MES umfangreiche und vielfältige Daten sowie Informationen zu erfassen, bildet das MES eine Datendrehscheibe, die eine horizontale Integration ermöglicht. Informationen zu Aufträgen und Ressourcen werden über Betriebsdatenerfassung und Maschinendatenerfassung im MES erfasst, verarbeitet und gespeichert – im Normal-/Regelbetrieb, aber auch im Falle von auftretenden Störungen im Ablauf.“
Einbinden lassen sich Informationen von Mitarbeitern, Maschinen, Werkzeugen, Behältern, Transportmitteln, Prüfanlagen oder weiteren relevanten Sensoren. Die gesammelten und gegebenenfalls aufbereiteten Daten könnten dann gezielt an den Informationsbedarfsort übermittelt werden.
Auch die vertikale Integration bis in die Supply Chain sei ein Vorteil von MES-Systemen: „Informationen auf dem Shop-Floor werden erfasst, aufbereitet und in geeigneter Form den übergelagerten Softwaresystemen bereitgestellt. So entsteht Transparenz über aktuelle und anstehende Aufträge sowie Ressourcenzustände“, betont Kipp. „Die Möglichkeiten gehen bereits heute dahingehend, dass MES-Informationen werksübergreifend oder unternehmensübergreifend ausgetauscht werden. Dies ist vor allem dann sinnvoll und notwendig, wenn eine umfassende Vernetzung und Abhängigkeit in Wertschöpfungsketten vorliegt.“ •
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