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Schichtwechsel im Revier

Standort: Das Ruhrgebiet positioniert sich neu
Schichtwechsel im Revier

Keine zweite deutsche Region wandelt sich so radikal wie das Ruhrgebiet. Im ehemaligen Schwerindustriezentrum verschmilzt die Vergangenheit mit der Gegenwart: Zwischen Industrierelikten blühen Logistik, Hightech und Energiewirtschaft. Als „Ruhr 2010“ entwirft die diesjährige europäische Kulturhauptstadt ein Bild von Aufbruch und Zusammenhalt.

„Wo ein raues Wort dich trägt,

weil dich hier kein Schaum erschlägt,
wo man nicht dem Schein erliegt,
weil man nur auf Sein was gibt.
Wo man gleich den Kern benennt,
und das Kind beim Namen kennt.
Von klarer offner Natur,
urverlässlich, sonnig stur.
So weit so pur,
komm zur Ruhr.“
Diese Zeilen stammen aus der Ruhr-Hymne, die Herbert Grönemeyer zur Eröffnung von „Ruhr 2010“, der europäischen Kulturhauptstadt, am 9. Januar in der Essener Zeche Zollverein gesungen hat. Beim Dichten des Refrains hatte der Barde gewiss nicht gleich jenen Neuankömmling im Sinn, dem eine Schlüsselrolle beim Revierkonzern Nummer eins zufallen wird: Dass Heinrich Hiesinger, promovierter Elektroingenieur und bis dato Vorstand und Leiter der Industriesparte des Münchener Siemens-Konzerns, den seit elf Jahren amtierenden Ekkehard Schulz als ThyssenKrupp-Chef ablösen wird, werten Insider als deutliches Signal für einen tiefgreifenden Umbau des Traditionskonzerns.
Der Schwabe Hiesinger soll die Weichen wieder stärker in Richtung Technologie stellen – und damit an alte Glanzzeiten anknüpfen. Denn die in der Schulz-Ära zu starke Ausrichtung auf das zyklische Stahlgeschäft brachte den Ruhrkonzern in letzter Zeit in arge Bedrängnis. Die Abhängigkeit bescherte dem Stahlprimus im Vorjahr einen Verlust von rund 2,4 Mrd. Euro. Hinzu kamen teure Großprojekte wie der Bau eines gigantischen Stahlwerkes in Brasilien oder eines Stahlwalzwerks in Alabama, deren Kosten aus dem Ruder liefen. Lediglich das Geschäft mit Aufzügen war mit einem Gewinnplus von 558 Mio. Euro im Vorjahr profitabel.
Für ThyssenKrupp-Aufsichtsratschef Gerhard Cromme war klar: Soll der Strategiewechsel, und damit auch ein Austarieren der Produktpalette gelingen, braucht es neuer Leute an der Spitze. Die externe Suche, und mit ihr die Personalie Hiesinger, hat den Strippenzieher Cromme allerdings ins Zwielicht gebracht. Der Vorwurf: Er hole mit Hiesinger einen der besten Leute von Siemens zu ThyssenKrupp. Pikant: Cromme gibt bei beiden Konzernen den Chefaufseher.
Dr.-Ing. Heinrich Hiesinger überzeugte auch bei Siemens. Dass er vom Geschäft mit Technologien etwas versteht, auch die Gedankengänge der Branche kennt, prädestiniert den auf der Ostalb geborenen Schwaben für den Job an der Spitze des Ruhrkonzerns. Wenn ihn die Hauptversammlung am 21. Januar 2011 zum Vorstandsvorsitzenden wählen wird, wird auch die Symbolik bedient: Hiesinger tritt nicht nur passend zum 200-Jahr-Jubiläum des deutschen Stahlprimus’ an. Auch sein Arbeitsplatz in der neuen, 60 m hohen Essener Konzernzentrale strahlt aus, dass künftig Zukunftsmärkte und neue Technologien im Vordergrund stehen werden. Keine Kathedrale der Industriekultur soll das künftige Gravitätszentrum des Konzerns sein, in dessen Umgebung 150 ha Land citynah entwickelt werden. Ihren Entwurf versteht die Arbeitsgemeinschaft aus Pariser und Kölner Architekten eher als Beleg für die Innovationskultur des Konzerns. Architektonische Grundidee ist der Campus – vernetzt mit kurzen Wegen. Wichtiges Kennzeichen: Einige der innovativsten Werkstoffe von ThyssenKrupp sind beim Bau zum Einsatz gekommen.
Leicht lässt sich die Verlagerung vom gegenwärtigen Konzernsitz in Düsseldorf nach Essen mit Sitz am Berthold-Beitz-Boulevard als eine Rückkehr des Unternehmens zu seinen Wurzeln deuten. Die Konzernplaner stellen jedoch klar, dass durch die Zusammenfassung der Verwaltungsstandorte in NRW eine neue Epoche für den Konzern eingeläutet werde. Die Stadt, in der Friedrich Krupp am 20. November 1811 seine Gusstahlfabrik gründete, hat im Vorjahr selbst ein Zeichen der Erneuerung gesetzt: Unter dem Motto „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ gewann Essen für das gesamte Ruhrgebiet den Titel Europäische Kulturhauptstadt 2010. Ausschlaggebend für die EU-Kommission war, dass „uns das gesamte Ruhrgebiet demonstriert hat, wie man eine regionale mit der europäischen Dimension verbinden kann“, sagt Jan Figel, bis 2009 EU-Kommissar für Bildung, Kultur und Jugend. Zudem besitze die Metropole Ruhr mit ihrer einzigartigen Industriegeschichte und den Herausforderungen des Strukturwandels eine Ausnahmestellung in Europa. So könne sie auch eine Beispielfunktion ausüben.
Was nach außen hin abfärben soll, muss erst recht im Innern angekommen sein: „Das Event-Jahr“, betont Fritz Pleitgen, der Chef der Kulturhauptstadt Europas Ruhr 2010, „soll durch die Kraft der Kultur eine gebeutelte Region aus 53 Städten und Gemeinden mit kommunalen Nothaushalten zu einer Metropole zusammenschweißen.“ Von Alpen, Dorsten und Essen über Holzwickede und Sprockhövel bis zu Unna und Xanten – plötzlich sind sie alle Ruhrgebiet. Unter dem Begriff hätten sich manche früher nie vereinnahmen lassen. Zwölf Großstädte, drei Regierungsbezirke – vor allem die dezentrale Struktur der fast 4500 km² großen Region hält so manchen Entscheider ab, an einem Strang zu ziehen. Jetzt, im Kulturhauptstadtjahr, geht es auch darum, die notorisch unterschätzte Fünf-Millionen-Metropole in den Köpfen neu zu positionieren. Aufräumen mit dem vorherrschenden Klischee ist angesagt: weg vom Malocherimage des einstigen Kohlenpotts, wo erst vor 45 Jahren mit der Eröffnung der Ruhr-Universität Bochum die akademische Ausbildung möglich wurde.
Umso mehr wollen die Macher der Kulturhauptstadt ein Bild von Aufbruch und Zusammenhalt erzeugen. Sinnbildlich stehen dafür auch 311 gelbe Riesenballons, die am 22. Mai über den ehemaligen Kohlenschächten aufgestiegen sind. Überall dort, wo es früher abwärts ging. Zehn Tage lang markierte „die größte Kunstinstallation der Welt“, wie Ruhr2010-Geschäftsführer Fritz Pleitgen anmerkt, mit den Mitteln von Kunst und Kultur den Wandel der ehemaligen Kohle- und Stahlregion zu einer Metropole der Zukunft.
Gerade noch sechs Steinkohlebergwerke gibt es heute. Bis 2018 sollen alle Zechen geschlossen werden, da der Bund die subventionierte Förderung des fossilen Brennstoffs einstellt. Kein Strukturwandel verlief hierzulande brutaler als in dem einstigen Zentrum der Schwerindustrie. Längst vollzogen ist der Wandel von der Industrie- zur Forschungs-, Kultur- und Freizeitregion. Heute arbeiten 28 % aller Erwerbstätigen im Ruhrgebiet) im produzierenden Sektor (NRW: 34 %) und 71 % im Dienstleistungsbereich (NRW: 65 %). Unverkennbar ist dennoch das Erbe der Montanära: Der Anteil der Unternehmen, die Vorprodukte für die Industrie liefern, ist überdurchschnittlich hoch.
Das Fundament für den neuen Ruhrpott ist aber der alte: Wo früher Stahl abgestochen und Koks gelöscht wurde, finden sich heute Veranstaltungsorte für hippe Events und großzügige Räume für die Kreativwirtschaft und die Logistikbranche. Vor allem letztere zeigt anhand vieler Beispiele, dass der Industrieballungsraum die größte Hürde zur Hightech-Region genommen hat. Symbol für erfolgreiche Umstrukturierung sind die Logistikprojekte Logport I und Logport II. Errichtet auf dem Gelände des ehemaligen Krupp-Stahlwerks, gehört Logport heute zum Duisburger Hafen. Inzwischen haben sich 50 Transport- und Logistikfirmen mit mehr als 2500 Beschäftigten hier angesiedelt.
Duisburg ist zum größten Binnenhafen der Welt gewachsen und hat sich zu einem der Top-Logistikstandorte Europas entwickelt. In ihrem jüngsten Länderbericht bezieht sich die Bertelsmann-Stiftung auf ein Regionen-Ranking der SCI Verkehr GmbH, in dem das Ruhrgebiet nach Hamburg als zweitdynamischster Logistikstandort gepriesen wird. Dank der günstigen geografischen Lage entwickelt sich der Logistiksektor mit 24 000 Firmen und mehr als 260 000 Beschäftigten zunehmend zur Vorzeigebranche Nordrhein-Westfalens. Weit über 160 000 von ihnen arbeiten in den 5000 Logistikunternehmen der Metropole Ruhr.
Die Wissenschaft soll jetzt den Weg weiter in die Zukunft weisen. Fördergelder in Höhe von 106 Mio. Euro werden in den nächsten fünf Jahren der Logistik-Drehscheibe zusätzlichen Schub verleihen. Im Spitzencluster Wettbewerb des Bundesforschungsministeriums hat die NRW-Initiative „Effizienz-Cluster LogistikRuhr“ den Sieg davongetragen. Fünf Jahre lang schießt der Bund jährlich 40 Mio. Euro zu, weitere 66 Mio. Euro kommen von den beteiligten Unternehmen. Damit entwickelte Projekte und Produkte taxiert das NRW-Innovationsministerium auf ein Marktpotenzial von über 2 Mrd. Euro bis 2015. Mehr als 4000 neue Jobs sollen bei den Projektpartnern entstehen. Beteiligt am Spitzen-Cluster sind 124 Unternehmen und 18 Forschungs- und Bildungseinrichtungen. Den Kern des Netzwerkes bilden die Standorte Dortmund – mit den Fraunhofer Instituten IML und ISST sowie der TU Dortmund – und Duisburg mit dem Zentrum für Logistik und Verkehr der Universität Duisburg-Essen.
Während die Jobmaschine Logistik seit Jahren auf Hochtouren läuft, erhoffen sich Politik und Wirtschaft an Emscher, Rhein und Ruhr von einem derzeit viel diskutierten Wachstumsfeld weitere Impulse. „Mit der Batterietechnologie“, prophezeit der Auto-Experte Ferdinand Dudenhöffer, stehe der Branche nicht weniger als die größte „Veränderung seit dem Einsatz des Verbrennungsmotors” bevor. Dass diese schnell kommt, steht für ihn außer Frage. In 15 Jahren hätten zwei Drittel der dann verkauften 87 Millionen Automobile eine Batterie im Heck, heißt es in einer Studie Dudenhöffers, der Professor der Universität Duisburg-Essen ist und dort das Fachgebiet Betriebswirtschaftslehre und Automobilwirtschaft leitet.
Dass Evonik die Studie unterstützt, liegt auf der Hand. Dank dem Essener Chemiekonzern, so Dudenhöffer, hätten Deutschland und vor allem NRW – genauer: das Ruhrgebiet – im weltweiten Wettbewerb in Sachen Batterietechnik keine schlechte Position. Evonik sei in Europa zusammen mit dem Rivalen Johnson Controls-Saft der wesentliche Spieler in Sachen Lithium-Ionen-Batterien. Für den Industriestandort NRW sei das ein wichtiger Gestaltungsfaktor. Der Mischkonzern forscht und produziert in Marl und im ostdeutschen Kamenz. Den gesamten Markt für die Lithium-Ionen-Batterietechnologie beziffert die Studie auf 130 Mrd. Euro im Jahr 2025.
Gleich um die Ecke, in Mülheim an der Ruhr, beweist die Gerstel GmbH & Co. KG, wie sich der CO2-Ausstoß heute schon massiv reduzieren lässt. Vor drei Jahren errichtete das Familienunternehmen, das 120 Mitarbeiter beschäftigt, eine neue Firmenzentrale, deren Energieversorgung jährlich rund 41 t weniger Schadstoffe ausstößt. NRW-Wirtschaftsministerin Christa Thoben attestierte jüngst beim Besuch dem Mittelständler Vorbildcharakter. Die EnergieAgentur.NRW kürte das Gebäude zum energieeffizienten „Projekt des Monats“. Gerstel ist heute weltweit führender Anbieter von Systemen zur automatisierten Probenvorbereitung für die Gas- und Flüssigchromatographie. Energieeffizienz, sagt Holger Gerstel, der zusammen mit seinem Bruder Eberhard in zweiter Generation die Geschäfte führt, sei Familientradition.
Ihr Vater, Eberhard Gerstel Senior, war vor der Firmengründung im Jahr 1947 als Feinmechanikermeister am in Mülheim an der Ruhr ansässigen Max-Planck-Institut für Strahlenforschung beschäftigt. Die Idee der Wissenschaftler setzte er am MPI in labortechnische Gerätschaften um. Als die Nachfrage nach seinem Know-how immer größer wurde, machte sich Gerstel selbstständig. Wissenstransfer wie dieser hat den notwendigen Strukturwandel im Revier mitgetragen und mitgestaltet.
Dennoch ist das Innovationspotenzial des Landes kaum ausgeschöpft, mahnt die Gütersloher Bertelsmann-Stiftung. „Wandel durch Kultur“ möge als Motto für die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 zwar stimmen, doch für das Land Nordrhein-Westfalen wäre „Wandel durch Bildung“ als Handlungsempfehlung viel geeigneter.
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