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Digitalisierung der Stromnetze für Energiewende

Die Digitalisierung der Stromnetze
Von der Robustheit zur Resilienz

Die vielen dezentral und unregelmäßig einspeisenden Wind- und Solaranlagen erhöhen den Steuerungsbedarf unserer Energieversorgungssysteme. Die Energiewende erzwingt damit eine durchgehende Digitalisierung, auch auf internationaler Ebene. Das birgt Chancen und Risiken.

Michael Grupp
Fachjournalist in Stuttgart

Insgesamt 218 Terawattstunden Strom
(1 TWh entspricht 1 Mrd. Kilowattstunden) wurden im Jahr 2017 auf Basis von erneuerbaren Energien erzeugt. Dabei dominieren Windkraft, Sonnenenergie und Wasserkraft mit einem Anteil von zusammen 76 % der gesamten EE-Strommenge. Im Vergleich zum Vorjahr wuchs damit deren Anteil im gesamten Strommarkt um rund vier Prozent auf insgesamt 36 %. Theoretisch sind diese Energiequellen unerschöpflich, praktisch stellen sie die Energieerzeuger vor neue Herausforderungen. Denn Sonne, Wasser und Wind produzieren mal mehr, mal weniger Strom, abhängig von Wetter und Tageszeit. Eine Herausforderung der besonderen Art musste das deutsche Stromnetz zum Beispiel am 20. Mai 2015 bewältigen. An diesem Tag verringerte eine partielle Sonnenfinsternis die Einstrahlung um bis zu 70 %. Als die Sonne hinter dem Mond verschwand, fiel die Kapazität der deutschen Solarzellen in der Größenordnung von sechs Atomkraftwerken. Als die Sonne um die Mittagszeit wieder vollständig zu sehen war, stand sie hoch im Zenit. Mehr als 1,5 Mio. Solar-
anlagen kamen mit der Energieausbeute von zwölf Atomkraftwerken zurück ins Netz. Die Netzbetreiber schalteten die großen fossil befeuerten Kraftwerke gezielt ab, die
Erneuerbaren übernahmen wieder 40 % des deutschen Strombedarfs. Innerhalb von nur zwei Stunden hatte das deutsche Stromnetz einen Großteil seiner Stromerzeugung von einer Energiequelle auf die andere und wieder zurück geschaltet.

Allerdings konnten die Netzbetreiber diesen Tag Monate im Voraus planen. Der plötzliche und unplanbare Verlust einer so großen Erzeugungskapazität wäre ein Worst-Case-Szenario, das zu Stromausfällen führen könnte. Diese wiederum hätten unvorhersehbare Auswirkungen auf eine digitalisierte Wirtschaft. „Die Stabilisierung der Netze ist komplexer geworden und kostet uns alle viel Geld“, sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen Homann im Handelsblatt. Seiner Meinung nach werden erst die geplanten großen Stromleitungen aus dem Norden die Kosten wieder senken, weil an windstarken Tagen dann mehr Offshore-Strom auch in süddeutschen Regionen genutzt werden kann. Allerdings steckt die Digitalisierung des Energiesektors noch in den Kinderschuhen. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zwar wünscht der Gesetzgeber eine Aufstockung der Erneuerbaren Energien – bis 2050 sollen es immerhin 80 % sein. Andererseits bestimmen allein in Deutschland mehr als 10.000 Paragrafen, Normen und Vorgaben das Energiesystem. Dieser Wust lässt Unternehmen zögern, in intelligente Abnahmekonzepte einzusteigen.

Sonne im Kabel

Der Bau der beiden großen Stromtrassen SuedLink und SuedOstLink nimmt inzwischen konkrete Formen an. Bislang transportieren 35.000 km Höchstspannungsleitungen den Strom quer durch Deutschland, sie sind aber veraltet. „Etwa 60 % der aktuell im Netz befindlichen Anlagen werden den künftigen Anforderungen an das System nicht gerecht“, meint dazu Dr. Stefan
Küppers, Leiter für Spezialtechnik/Digitalisierung beim Netzbetreiber Westnetz.

Philipp Vohrer, Geschäftsführer der Agentur für Erneuerbare Energien (AEE), ein Lobbyverband der Ökostrombranche, stößt ins gleiche Horn: „Die Energiewirtschaft hinkt in Sachen Digitalisierung anderen Wirtschaftsbereichen weit hinterher.“

Die Betreiber schätzen, dass mehr als 7500 Kilometer Stromnetz verbessert, verstärkt bzw. neu gebaut und mit einem modernen Steuerungs-Management kombiniert werden müssen. Das aber kostet Geld und Zeit: Suedlink wird frühestens 2025 von den riesigen Windparks in der Nordsee nach Baden-Württemberg und Bayern führen, wo beispielsweise große Automobilunternehmen und ihre Zulieferer sitzen – und wo bald die letzten Atomkraftwerke abgeschaltet werden.

Intelligente Stromnetze – Smart Grids – werden deshalb noch lange auf sich warten lassen. Sie werden aber kommen. Denn die Chancen, die sie bieten, sind überzeugend: allen voran Umweltschutz und Wirtschaftlichkeit. Im Smart Grid werden unterschiedliche Energieerzeuger zu einem virtuellen Kraftwerk zusammengefasst. In Deutschland werden das zukünftig hauptsächlich Solaranlagen und Windräder sein, aber auch Wasserkraftwerke, Geothermie- und Biogasanlagen. Der Vorteil: Die Energieerzeugung eines solchen Verbundes schwankt nicht so stark wie zum Beispiel der von reinen Windkraftparks. Betriebe mit eigener Energieerzeugung können in einem Smart Grid zukünftig aktiv am Stromhandel teilnehmen.

Ein Strom an Daten

Auch im Strombereich bilden Daten das Rückgrat der Digitalisierung. Dazu müssen die Informationen über aktuelle Verbräuche und Produktionswerte in Zentralen auflaufen. Hier werden sie mit Prognosen kombiniert, die auf historischen Daten sowie auf der Künstlichen Intelligenz aus neuronalen Netzen basieren. Damit kann die Produktion gesteuert, Überschüsse wie auch Unterversorgung vermieden und die Nachfrage
sicher befriedigt werden. Die Digitalisierung wird aber auch auf Verbraucherseite stattfinden. Auf privater Ebene ist das die schon vielzitierte Waschmaschine, die sich nachts selbstständig einschaltet, wenn genügend Energie im Netz vorhanden ist. In der Industrie sind die Steuerungspotentiale naturgemäß ungleich komplexer. Sind aber Produktionsprozesse zum Beispiel zeitlich variabel, so wird schon heute der Stromverbrauch nicht berechnet, sondern vergütet – über
einen negativen Strompreis, der bei Über-kapazitäten zu Ausgleichszahlungen an den Abnehmer führt. Auch kontinuierliche
Lösungen sind denkbar: So können Kühlhäuser bei einem energetischen Überangebot ihre Temperaturen absenken, um während der Spitzenzeiten die Kompressoren ganz abzuschalten. Dadurch würden die Waren trotz Lastenverschiebung durchgehend ausreichend gekühlt. Auch die Millionen zu erwartender E-Autos können im Smart Grid als Speicher verwendet werden. Sie stehen nachts in der Garage und damit auch im Netz. Ihre Akkus können als Puffer verwendet werden – und trotzdem ist das Fahrzeug morgens um acht zuverlässig energetisch vollgetankt. Bei Millionen Teilnehmern wird auch hier schnell das Äquivalent mehrerer Kraftwerke erreicht.

Smart Grids erfordern die flächen-
deckende Einführung von intelligenten Zählern auf Erzeuger- wie auf Verbraucherseite. Ihr Hauptmerkmal: Sie zählen nicht nur, sie kommunizieren. Dabei können unterschiedliche Kommunikationsnetze und Übertragungstechniken zum Einsatz kommen: die Bandbreite reicht von lokalen Netzwerken der Energieerzeuger bis hin zu Wide Area Networks, die mit Glasfaser zwischen verschiedenen Knotenpunkten des Smart Grids arbeiten. Der Endausbau könnte dann die völlige Freiheit von Anbietern und Verbrauchern bedeuten. Das ist heute nicht möglich, weil die meisten Unternehmen mit einem bestimmten Stromtarif an einen bestimmten Stromlieferanten gebunden sind. Aber die Blockchain-Technologie könnte den anfallenden Rechenaufwand dokumentieren und im Rahmen von Smart Contracts automatisiert abrechnen. Allerdings verbraucht der erhöhte Rechenaufwand seinerseits erhebliche Mengen an Energie. Laut einer Berechnung des Fraunhofer Institutes IZM wird der Stromverbrauch deutscher Rechenzentren bis 2025 auf knapp 17 Mrd. kWh
steigen, das sind zwei Prozent des gesamten Stromverbrauchs und entspricht ungefähr der Leistung von sechs Atommeilern.

Risiken und Nebenwirkungen

Grundsätzlich ist das deutsche Stromnetz durch die Energiewende unter Druck geraten. Schon heute muss vermehrt in den Netzfluss eingegriffen werden, um Schwankungen im Netz auszugleichen und Blackouts zuverlässig zu vermeiden. Das Hamburger Weltwirtschafts-Institut (HWWI) hat den Worst Case durchgerechnet und die Kosten eines einstündigen Blackouts zur Mittagszeit mit knapp 600 Mio. Euro beziffert. Gefahr droht aber auch von anderer Seite: In der Ukraine haben Ende 2015
Hacker ein Stromnetz gekapert und mehrere Umspannwerke lahmgelegt. In Folge fiel in der Region stundenlang der Strom aus. Damit ein solches Szenario in Deutschland unwahrscheinlich wird, bauen die Stromkonzerne ihre Sicherheitskonzepte kontinuierlich aus.

Künftig müsse das deutsche Energiesystem statt auf Robustheit auf Resilienz ausgerichtet sein, fordert nicht nur der Branchenverband Bitkom: Im Fall einer Störung muss das Energiesystem resilient reagieren. Es soll Schwankungen frühzeitig erkennen, Gegenmaßnahmen automatisiert einleiten und selbstständig Systemdienstleistungen übernehmen. Zur Resilienz gehört zum Beispiel auch die Schwarzstartfähigkeit, also die Fähigkeit des Energiesystems nach
einem kompletten Stromausfall die Versorgung automatisch wiederherzustellen.

Es gibt noch viel zu tun, bis die Energie gewendet ist.


Serie Industrie 4.0

Wir begleiten Sie auf dem Weg in die Digitalisierung: Die Serie Industrie 4.0 beleuchtet Themen, Trends und Best Practises. In dieser Folge beschäftigen wir uns mit den Auswirkungen der Energiewende auf das IT-
Management von Versorgungsnetzen.

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