Die weltweite Lieferkettenproblematik entspannt sich, doch diese Entlastung kommt bei den Unternehmen in Deutschland kaum an. Laut aktuellem Survey der Unternehmensberatung Deloitte sind mehr als die Hälfte (53%) der Befragten der Ansicht, dass ihr Unternehmen durch Lieferkettenprobleme wie Störungen oder Unterbrechungen in den Informations-, Finanz- oder Warenflüssen aktuell stark oder sehr stark beeinträchtigt wird.
Inhaltsverzeichnis
1. Steigende Einkaufspreise belasten Unternehmen
2. Standort Deutschland verliert an Attraktivität
3. Reaktionen auf die Lieferketten-Problematik
4. Möglichkeiten der Digitalisierung zu wenig genutzt
Für den Supply Chain Pulse Check hat Deloitte im Januar und Februar 2023 rund 120 Lieferketten-Verantwortliche von Unternehmen in Deutschland befragt, vorwiegend aus den Branchen Maschinenbau/Industriegüter, Automobil und Chemie. Eine deutliche Mehrheit der Befragten (79%) sind Vertreter von Großunternehmen mit 250 oder mehr Mitarbeitenden oder einem Jahresumsatz von mehr als 50 Mio. Euro.
Aus dem Deloitte-Survey geht hervor, dass die Befragten das eigene Unternehmens oft optimistischer als den Wettbewerber bewerten. Mit Blick auf die gesamte Branche sehen 60 % eine starke oder sehr starke Beeinträchtigung. 46 % sehen sogar ein steigendes Risiko, dass ihre Lieferkette vollständig oder teilweise ausfällt.
Steigende Einkaufspreise belasten Unternehmen
Zwar sind Rohstoffe und Bauteile wieder besser verfügbar als im vergangenen Jahr, doch die Lieferengpässe haben zu dauerhaft hohen Einkaufspreisen geführt. 77 % der Firmen bekommen etwas oder gar deutlich steigende Einkaufspreise zu spüren, während der Umsatz für 61 % konstant bleibt oder sinkt. Entsprechend geraten die Margen unter Druck: Lediglich 20 % der Befragten erleben angesichts der nachwirkenden Belastungen ihrer Lieferketten etwas oder deutlich steigende Gewinne. Bei 80 % bleiben die Gewinne konstant oder sinken, zum Teil deutlich. Und kurzfristig ist kaum Besserung zu erwarten.
Standort Deutschland verliert an Attraktivität
„Die anhaltende Belastung der Unternehmen insbesondere durch die hohen Preise, die Inflation und – vor allem in Deutschland – durch die hohen Energiepreise sind ein Risiko für den Standort“, sagt Florian Ploner, Partner bei Deloitte und verantwortlich für den Sektor Industrial Products & Construction. „Die Unternehmen sind gut beraten, ihre Kosten effizient zu managen, Partnerschaften auszubauen und neue Technologien in einer nach geopolitischen Risiken ausgerichteten Lieferkette einzusetzen.“
Tatsächlich hat der Wirtschaftsstandort Deutschland nach Ansicht von 52 % der Befragten in den vergangenen Jahren bereits an Attraktivität verloren. Und auch in Zukunft sehen die Unternehmen wenig Grund für Optimismus: In den kommenden drei Jahren rechnen 58 % damit, dass die Attraktivität Deutschlands im Vergleich zu führenden Industriestandorten weiter sinkt, bis hin zu einer möglichen Deindustrialisierung: Fast jeder zweite Befragte (45%) schätzt die Gefahr, dass sich Deutschland deindustrialisiert, als groß bis sehr groß ein.
Attraktiver als der Standort Deutschland erscheinen den meisten Befragten Nordamerika (56%), Osteuropa (46%) und Südostasien (29%). Die meistgenannten Länder sind dabei die USA, Polen, Vietnam, Indien und Brasilien. Als Grund für die Verlagerung des Standorts spielen geringere Regulierung und Energiesicherheit (in Nordamerika), niedrige Arbeitskosten und gute Anbindung (in Osteuropa) sowie Vorteile bei den Produktionskosten (in Südostasien) eine wesentliche Rolle.
Reaktionen auf die Lieferketten-Problematik
Zahlreiche Unternehmen reagieren auf die aktuelle Situation mit der Verkürzung oder Verlagerung ihrer Lieferketten. 37 % der Befragten haben mit so genanntem Nearshoring begonnen oder diese Maßnahme bereits umgesetzt; weitere 29 % planen, sie zu ergreifen. Friendshoring, also die Verlagerung von Teilen der Lieferkette in befreundete Länder, haben 22 % begonnen oder bereits umgesetzt (geplant: 33%).
„Die Situation an der Lieferkette ist nach wie vor angespannt, auch wenn das für die Verbraucher inzwischen nicht mehr so deutlich zu spüren ist wie in 2022“, sagt Dr. Jürgen Sandau, Partner bei Deloitte und verantwortlich für den Bereich Supply Chain & Network Operations. „Viele Firmen reagieren mit kurzfristigen Feuerlöschmaßnahmen, um die aktuelle Situation zu bewältigen.“ So haben 68 % der Befragten die Ausweitung ihrer Lagerhaltung begonnen oder bereits abgeschlossen; 59 % nutzen Sonderfahrten zur Beseitigung kurzfristiger Versorgungsstörungen. „Kostspielige Maßnahmen wie diese sind jedoch wenig zukunftsorientiert und kaum geeignet, die Lieferketten dauerhaft resilient zu machen für weitere Krisen sowie die großen Herausforderungen unserer Zeit wie die Dekarbonisierung“, so Sandau. „Stattdessen belasten sie die Bilanzen der Unternehmen zusätzlich zu den ohnehin schon hohen Preisen.“
Möglichkeiten der Digitalisierung zu wenig genutzt
Kurzfristig könnten sie für viele Unternehmen jedoch das Mittel der Wahl bleiben. 75 % der Befragten rechnen für die kommenden drei Monate nicht mit einer Veränderung der Situation beziehungsweise mit einer leichten bis starken Verschlechterung. „Mittel- bis langfristig wird der Ausblick besser“, meint Sandau, „jedoch nur dann, wenn die Unternehmen die eigentlichen Ursachen angehen und sich strukturell fit machen, bevor die nächste Krise vor der Tür steht. Die Möglichkeiten der Digitalisierung zur nachhaltigen Stabilisierung von Lieferketten werden hierbei leider immer noch zu wenig genutzt.“ (eve)