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Kampf gegen die Zeit

Bei Absturzunfällen ist eine planmäßige Rettung gefragt
Kampf gegen die Zeit

Wer nach einem Sturz hilflos im Gurtsystem hängt, muss rasch befreit werden. Sonst droht bereits nach zehn Minuten ein lebensgefährliches Hängetrauma. Gefragt sind deshalb eine gezielte Gefahrenanalyse und effektive Rettungsmaßnahmen.

Ein Wartungstechniker verliert hoch oben auf der Kranbahn das Gleichgewicht und rutscht ab. Der tödliche Sturz wird verhindert, da er sich vorschriftsmäßig mit einem Absturzsicherungssystem geschützt hat. Der rettende Auffanggurt fängt ihn, doch nun hängt er über dem Abgrund in den Seilen und gerät in Panik. Dem hilflos baumelnden Menschen droht ein so genanntes Hängetrauma, ein Kreislaufkollaps, der tödlich enden kann.

Die Risiken für Menschen, die fast regungslos im Auffanggurt festhängen, unterscheiden sich je nach individueller Gesundheit und Konstitution. Doch ausgebildete Rettungskräfte sind sich einig, dass ein solcher Sturz für jeden Betroffenen eine beängstigende Ausnahmesituation darstellt. Viel Zeit für die Rettung bleibt nicht. Nach Angaben von Medizinern tritt das Hängetrauma nach zehn bis maximal zwanzig Minuten regungslosen Hängens auf. Welche Rettungsmaßnahmen müssen also greifen? Und kann der Verunfallte selbst etwas tun, um das Hängetrauma hinauszuzögern?
„Ist jemand nach einem solchen Sturz in den Gurt bei Bewusstsein, gibt es tatsächlich Möglichkeiten ein Hängetrauma hinauszuzögern – wenn auch nur für kurze Zeit. Hier ist allerdings Übung gefragt“, weiß Sebastian Klenke, der als Schulungsleiter bei ABS Safety arbeitet, einem niederrheinischen Hersteller von Absturzsicherungssystemen. In dem Unternehmen werden Kurse angeboten, in denen die Teilnehmer lernen können, wie zunächst einmal die Auffanggurte richtig angelegt werden. Außerdem werden verschiedene Abseil- und Rettungsübungen gezeigt und ein Hängetest durchgeführt. „Wenn der Verunglückte noch handlungsfähig ist, kann er versuchen, zumindest dem Blutstau in den Beinen entgegenzuwirken“, erklärt Schulungsleiter Klenke. „Es gibt eine Technik, bei der man die Zehen heranzieht und im Wechsel den einen Fuß auf den anderen stellt. Auf diese Weise wird die Muskelpumpe kurzzeitig in Gang gehalten.“ Wer allerdings glaubt, in einer solchen Situation einfach selbst mit dem Handy einen Notruf absenden zu können, der irrt sich. „Das funktioniert kaum“, so der Experte von ABS Safety. „Der Verunfallte wird sich mit beiden Händen krampfhaft an den Gurten festhalten, um sich in dieser unbequemen Position zu entlasten. Da kramt keiner in der Jackentasche nach seinem Handy.“
Was für den Schulungsleiter daher zählt, ist der Hilferuf durch Kollegen und dann die zügige Rettung durch geschulte Ersthelfer vor Ort. Hier sind vor allem die Unternehmen in der Pflicht. Um schnelle Rettung sicherzustellen, müssen sie laut Berufsgenossenschaftlicher Vorschrift (BGV) selbst für Einrichtungen, Sachmittel und fachkundiges Personal zum Retten hängender oder aufgefangener Personen sorgen. Wer sich hier blind auf die Feuerwehr verlässt, handelt fahrlässig. Im Grunde sollte jeder genau wissen, was zu tun ist, vom Betriebsleiter bis zum Azubi. Doch oft klaffen Theorie und Praxis auseinander. Oft wird sogar noch riskanter Weise alleine gearbeitet, wo laut Vorschriften eine zweite Person erforderlich wäre.
Unternehmen müssen also für den Notfall nicht nur die Mitarbeiter schulen, sondern auch entsprechende Sachmittel wie Komplettsets und Seilzugsysteme bereitstellen. Aber wie sehen die nötigen Rettungsaktionen konkret aus? „Dabei kommt es immer auf das entsprechende Objekt an“, erläutert Experte Klenke. „Mit einer Arbeits-, Teleskop- oder Scherenbühne kann ich zum Beispiel sehr schnell beim Verunfallten sein, ebenso von einer Plattform aus oder mit Hilfe von Steigschutz. Hier gibt es diverse Verfahren.“ Möglich sei aber auch die Rettung mit einem Abseilgeräts oder einer Hubeinrichtung.
Im Idealfall verläuft die Rettung problemlos, wenn schnell gehandelt wird, vorher geübt wurde und stets ausgebildete Retter vor Ort sind, die den Hängenden möglichst in aufrechter Körperhaltung kontrolliert abseilen und befreien. Die Profis wissen auch, was nach der Rettung zu tun ist. Erste-Hilfe-Maßnahmen sind vorher genau abzustimmen. Außerdem gilt grundsätzlich, dass ein Hängetrauma immer ein medizinischer Notfall ist. Der Ruf nach einem Notarzt ist unverzichtbar. Und nicht zuletzt ist ein Hängetrauma in 3 m Höhe genauso ernst zu nehmen wie eines in 100 m Höhe. ub

„Angstzustände beschleunigen das Hängetrauma“

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Nachgefragt

Herr Dr. Winkelmann, was führt zu einem Hängetrauma?
Ein Hängetrauma entsteht, wenn bei bewegungslosem Hängen in einem Auffanggurt der Rückstrom des Blutes aus den Beinen behindert wird. Durch den Ausfall der sogenannten Muskelpumpe der Beinmuskulatur versackt eine große Menge des Blutes in die herabhängenden Körperteile. Es kann zu einem Kreislaufzusammenbruch durch orthostatisch bedingten, relativen Volumenmangelschock kommen.
Welche Folgen hat das für den Verunfallten?
Zunächst treten Blässe, Schwitzen und Kurzatmigkeit auf. Zudem Sehstörungen, Schwindel, Übelkeit, Blutdruckabfall und Taubheit in den herabhängenden Beinen. Durch den beeinträchtigten Blutkreislauf kommt es zu einer Unterversorgung des Gehirns und anderer wichtiger Organe mit Sauerstoff. Schließlich folgen Kreislaufversagen und Bewusstlosigkeit. Ein Hängetrauma kann tödlich enden.
Wie viel Zeit hat man?
Nach zehn, maximal zwanzig Minuten regungslosem Hängen tritt das Hängetrauma auf. Zu den Faktoren, die es beschleunigen können, zählen neben Angstzuständen, Flüssigkeitsmangel, Unterzuckerung und Erschöpfung auch Witterungseinflüsse wie Hitze und Kälte. Diese können zu kritischen Situationen wie Unterkühlung oder Hitzschlag führen.
Wie sollten nach der Rettung die Erste-Hilfe-Maßnahmen vor Ort aussehen?
Der ansprechbare Verletzte muss nach seiner Rettung mit erhöhtem Oberkörper, also in hockender oder sitzender Stellung gelagert werden. Er darf auf keinen Fall in Schocklage gebracht werden. Bei sofortiger Flachlagerung besteht die Gefahr akuten Herzversagens infolge einer Überlastung durch den raschen Ruckfluss des Blutes aus der unteren Körperhälfte. Weiter sollte man beengende Gurte und Kleidung öffnen. Bei Atemstillstand sind sofort Widerbelebungsmaßnahmen durchzuführen.
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