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100 % sind praxisfremd

Drucklufttechnik: Wärmerückgewinnung lohnt sich fast immer
100 % sind praxisfremd

Bei Druckluftanlagen lässt sich Wärmeenergie leicht zurückgewinnen. Das lohnt sich auch dann, wenn „nur“ 70 % der Kompressorleistung als Wärmestrom genutzt werden können. Realistisch machbar sind bis über 90 %, 100 % und mehr nur in Ausnahmefällen.

Wer seine Fahrradreifen noch von Hand aufpumpt, weiß, dass die Pumpe dabei warm wird. Das gilt auch für die Kompressoren in der Druckluftversorgung. Diese Wärmeenergie lässt sich per Wärmerückgewinnung nutzen. Hersteller wie die Essener Atlas Copco Kompressoren und Drucklufttechnik GmbH und die Bielefelder Boge Kompressoren Otto Boge GmbH & Co. KG geben an, dass der auf diese Weise nutzbare Wärmestrom über der vom Kompressor aufgenommenen elektrischen Leistung liegen kann („mehr als 100 %“) – unter bestimmten Voraussetzungen. Der Industrieanzeiger wollte genauer wissen, was das für Bedingungen sind und fragte nach; zusätzlich auch bei Compair Drucklufttechnik aus Simmern und der Kaeser Kompressoren GmbH aus Coburg.

Vorweg sei gesagt, dass es nicht ganz einfach ist, Bilanzgrenzen für die energetische Betrachtung einer Druckluftanwendung zu ziehen. Um das zu verstehen, genügt ein Blick auf den eiskalten Finger, der das Fahrradventil beim Luftablassen offen hält – beim Entspannen wird Wärme aus der Umgebung aufgenommen. Das gilt auch für die Drucklufttechnik. „Jeder Kompressor setzt beim Verdichten zunächst 100 Prozent der aufgenommenen elektrischen Energie in Wärme um“, erläutert Erwin Ruppelt, leitender Projektingenieur bei Kaeser. Dabei werde die Luft mit einem Energiepotenzial aufgeladen. „Erst beim Entspannen ist dieses Potenzial nutzbar, weil die Druckluft der Umgebung Wärme entzieht.“ Unabhängig von der Bauart des Kompressors lasse sich die auf diese Weise zusätzlich gewonnene Energie dann für Arbeitszwecke verwenden.
Auch bei der Wärmerückgewinnung nutzen die Über-100-%-Lösungen Energie aus der Umgebung. „Mit der Ansaugluft wird eine große Menge feuchter Luft angesaugt und verdichtet“, sagt Jürgen Hütter, bei Boge Leiter Produktmarketing. Beim Abkühlen der verdichteten Luft im Nachkühler des Kompressors kondensiere ein Großteil des Wasserdampfs zu flüssigem Wasser – Kondensationswärme werde frei. „Kondensations- und Verdichtungswärme lassen sich damit zusammen an den Wärmetauschern zurückgewinnen, wodurch die Wärmeleistung größer als die aufgenommene Leistung des Kompressors ist.“ Auch im Heizungsbau nutzt man übrigens per Brennwerttechnik die Kondensationswärme der im Abgas enthaltenen Feuchtigkeit.
„Eine von uns realisierte Installation arbeitet ideal bei 70 Prozent relativer Feuchte in der Ansaugluft“, fährt Hütter fort. Das Kühlwasser der verwendeten ölfreien wassergekühlten Schraubenkompressoren mit 632 kW Nennleistung werde dabei von 35 auf nahezu 90 °C aufgeheizt, so dass sich insgesamt 757 kW Wärmeleistung abgreifen ließen. „Zugegeben, die für solche Wirkungsgrade notwendigen Betriebsbedingungen mögen selten vorhanden sein – aber dass wir so ein Projekt erfolgreich realisiert haben, zeigt, dass es sie gibt“, betont der Boge-Mitarbeiter. „Das Nutzen der Kondensationswärme funktioniert natürlich am besten bei einer hohen Luftfeuchtigkeit der Ansaugluft und einer starken Abkühlung der Druckluft in den Kühlern“, fährt Hütter fort. Dadurch werde mehr Kondensat und damit mehr Kondensationswärme erzeugt. „Idealerweise nutzt man dazu wassergekühlte Kompressoren, und kaltes Kühlwasser ist ebenfalls eine sehr gute Voraussetzung.“ Auch Atlas Copco nennt als Voraussetzung eine relative Feuchtigkeit von 70 %, zusätzlich eine Lufttemperatur von 40 °C, damit sich 100 % der aufgewendeten elektrischen Energie zurückgewinnen lassen.
Für die betriebliche Praxis seien solche Ansaugbedingungen aber irrelevant, weil sie sich kaum erfüllen ließen, gibt Kaeser-Ingenieur Erwin Ruppelt zu bedenken. 40 °C Umgebungstemperatur, 70 % Luftfeuchte und niedrige Kühlwassertemperaturen könnten zwar in speziellen Fällen gegeben sein. Wer jedoch genauer hinsehe, stelle fest, dass bei der Berechnung der nutzbaren Energie die für Kühlung und Transport des Kühlwassers erforderliche Energie unberücksichtigt bleibe. „Wer Bezugspunkte verändert, indem er den Aufwand für Kühlwassertürme und -pumpen außer Acht lässt, und gegebenenfalls statt der elektrisch aufgenommenen Leistung die Motorabgabeleistung heranzieht, kommt leicht auf Wärmerückgewinnungsraten von 120 Prozent – mit der Realität hat das aber nichts mehr zu tun“, fährt Ruppelt fort. Bezogen auf die aufgewendete elektrische Energie lägen realistische Werte für die Wärmerückgewinnung zwischen 70 und 94 %, denn mit gewissen Verlusten aufgrund von Strahlungswärme sei immer zu rechnen.
Ähnlich äußert sich auch Kai-Arndt Doth, Key Account Manager bei Compair. „100 Prozent oder mehr an Wärmenutzung sind praxisfremd.“ Vom Betreiber ließen sich im Idealfall rund 90 % der aufgewendeten elektrischen Energie wirtschaftlich nutzen; zusätzlich hänge dies vom jeweiligen Verdichtertyp ab. „Die 90 Prozent gelten zumindest für öleingespritzte Schraubenkompressoren, da hier über den Öl-Wasser-Wärmetauscher rund 70 bis 75 Prozent der Energie zurückgewonnen werden können.“ Die restlichen 15 bis 20 % ließen sich zu rund zwei Dritteln über den Druckluftnachkühler und zu einem Drittel über die Abstrahlungswärme des Kompressors nutzen.
Einig sind sich aber alle Anbieter, dass der Einsatz der Wärmerückgewinnung sinnvoll ist. „Sie lohnt sich in der Regel immer, wenn die Wärmeenergie genutzt werden kann“, sagt Jürgen Hütter von Boge. Die Diskussion, ob sich 100 % oder mehr erreichen ließen, sollte dann keine Rolle spielen. „Denn jede Kilowattstunde, die man in Form von Wärmeenergie am Kompressor zurückgewinnt, kann an anderer Stelle im Betrieb eingespart werden.“
Wärmerückgewinnung bei Druckluftanlagen sei eine hervorragende Möglichkeit, erhebliche Kosten einzusparen und zugleich etwas für den Klimaschutz zu tun, betont abschließend auch Kaeser-Druckluftspezialist Erwin Ruppelt. „Wie hoch die Energieausbeute wirklich ist, hängt dabei von der Art und Weise der Nutzung der Abwärme ab; ob etwa die erwärmte Kühlluft direkt als Heizluft dient oder die Abwärme indirekt über Wärmetauscher einem Heizsystem zugeführt wird.“ Exemplarisch verweist er auf das Beispiel eines großen Mühlenbetriebs mit fünf Schraubenkompressoren mit jeweils 55 kW Motornennleistung, wovon einer allerdings immer als Reserve auf Standby steht. „Ein Teil der anfallenden Kompressorenabwärme wird zur Wassererwärmung genutzt“, so Ruppelt. „Während der ersten 40 Einsatzwochen konnten so 274 500 Kilowattstunden zurückgewonnen werden; und weitere 200 000 lassen sich zurückgewinnen, wenn das Unternehmen auch die restlichen Bereiche seines Heizungssystems an die Wärmerückgewinnung angeschlossen hat.“
Michael Corban Fachjournalist in Nufringen

Kosteneffizienz
Wird Prozesswärme oder Duschwasser das ganze Jahr über benötigt, sollten die Möglichkeiten der Wärmerückgewinnung bei der Drucklufterzeugung auf alle Fälle genauer untersucht werden. Steht Wärmeenergie auf diese Weise zur Verfügung, lässt sich das Verbrennen von Kohle, Öl oder Gas dafür vermeiden. Der Betreiber profitiert von dauerhaft niedrigeren Kosten, die Umwelt von der geringeren Kohlendioxid-Emission.
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