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Aktoren der anderen Art – klein, stark und geräuschlos

Wie sich Formgedächtnismetalle als Aktor-Sensor-Systeme nutzen lassen
Aktoren der anderen Art – klein, stark und geräuschlos

Aktorik | Die Miniaturisierung stößt bereits vielfach auf Grenzen. Doch es gibt noch eine schlanke Alternative mit enormem Kraftpotenzial: Formgedächtnislegierungen. Sie sind in Großserien im Einsatz und bieten viele Vorteile gegenüber feinmechanischen Antrieben.

Dr. Alexander Czechowicz Zentrum für angewandte Formgedächtnistechnik (ZAF), Remscheid

Insbesondere die Einfachheit eines Produktes kann sich positiv auf die Kosten und die Baugröße von feinmechanischen Antriebs- und Sensorsystemen auswirken. Oft sind die Möglichkeiten zur Gewichtsreduktion und Simplifizierung jedoch bereits ausgereizt, beispielsweise in den Bereichen Schließ-, Ventil- und Automobiltechnik. Bei Elektromagneten und -motoren lassen sich weitere Miniaturisierungen nur noch mit teuren Halbzeugen erreichen. Eine echte Alternative sind Formgedächtnislegierungen (FGL) – mit einem enormen Kraftpotential bei kompakter Bauweise und mit zahlreichen weiteren technischen Vorteilen.
Doch was sind überhaupt Formgedächtnislegierungen? Wenn ein unscheinbarer Draht mit 2 mm Durchmesser (Eigengewicht 25 g) eine Last von 140 kg hebt, steckt da nicht unbedingt ein Magier dahinter, sondern der Hightech-Funktionswerkstoff Nickel-Titan. Durch die Änderung der Drahttemperatur des FG-Drahtes über Wärme oder elektrischen Strom ändert sich der Gefügezustand dieser FGL. Als Folge verkürzt sich das Material deutlich. Mehr noch: Während dieser Umwandlung ändert sich auch der elektrische Widerstand so stark, dass man diesen Effekt als Sensorgröße für geregelte Systeme verwenden kann.
Diese heutzutage bereits in Großserie eingesetzte Technologie weist erhebliche Vorteile gegenüber Elektromagneten und Elektromotoren in feinmechanischen Anwendungen auf. So sind FGL-Systeme um bis zu 90 % leichter, deutlich kompakter und erzeugen weder Geräusche noch elektromagnetische Felder während der Betätigung. Sie arbeiten mit geringen elektrischen Betriebsspannungen, können in explosionsgefährdeten Bereichen eingesetzt werden und bieten heutzutage oft Kostenvorteile gegenüber den konventionellen Lösungen. Ein weiterer, besonderer Vorteil ist die schnelle Auslösegeschwindigkeit dieser Elemente: Ein Formgedächtnisdraht kann eine Last von 3 kg auf 15 mm innerhalb von 15 ms bewegen. Auch Zeiten von nur 0,5 ms wurden dafür gemessen. Über den elektrischen Strompegel können die Auslösedynamiken angepasst werden.
Werden gleichmäßig stellende Linearantriebe benötigt, so lässt sich die Auslösegeschwindigkeit eines Formgedächtnisaktors über die Regelung der Stromzufuhr variieren. Auch das Entriegeln eines einfachen Systems wird durch Formgedächtnisaktoren erleichtert: etwas Kunststoff und ein Formgedächtnisdraht – schon ist ein schwerer Elektromagnet ersetzt. So können zum Beispiel Sauerstoffmaskenklappen im Flugzeug durch einen Antrieb entriegelt werden, dessen simple Mechanik einem Schwanenkopf gleicht (Bild).
Einen ganz besonderen Vorteil bietet die materialeigene Intelligenz: Durch Ändern des elektrischen Widerstandes lässt sich der Formgedächtnisaktor linear auf alle Zwischenpositionen mit hoher Regelgüte einstellen. Dafür sind keine Wegmesssensoren nötig. Allein das Feedback des Materials reicht aus, um Störgrößen und Regelabweichungen zu detektieren und die richtigen Stellwege anzufahren und zu halten. Beispielsweise kann ein Servomotor ersetzt werden durch einen einfachen Aufbau aus FG-Draht, Umlenkrolle und Rückstellfeder, mit dem sich Stellwinkel einfach anfahren und halten lassen.
Trotz dieser eindeutigen technologischen Vorteile und erster Pionierprodukte in Serien der Automobil- und Gebäudetechnik werden nur langsam neue FGL-Anwendungen entwickelt. Das liegt am komplexen und oftmals unterschätzten Entwicklungsaufwand dieser Aktoren. Was wie ein kleiner unscheinbarer Draht aussieht, ist eben ein komplexes mechatronisches System mit thermischen, mechanischen und elektrischen Randbedingungen, die sich während der Aktivierung stark ändern können. Kleine und mittelständische Unternehmen haben oft nicht die Möglichkeit oder die Geduld für Entwicklungsarbeiten an dieser Technologie. Und es fehlt noch an gut ausgearbeiteten Entwicklungswerkzeugen, einfachen Auslegungssystematiken und an Peripherie, um den Einstieg zu erleichtern. Dem mangelnden Fachwissen zur Formgedächtnistechnik in den Unternehmen stellt sich seit Jahresbeginn das Zentrum für angewandte Formgedächtnistechnik in Remscheid, kurz ZAF, entgegen. Seit Beginn seiner Tätigkeit konnte das ZAF bereits zwei Förderprojekte mit insgesamt elf Industriepartnern akquirieren. Weitere Großprojekte mit mehr als 54 Industrieunternehmen werden derzeit geplant.
Einer der größten Hinderungsgründe für die Etablierung der Formgedächtnistechnologie ist aber die fehlende Bekanntheit dieser Alternative. Befragungen auf den Hannover-Messen 2012, 2013 und 2014 zeigen, dass weniger als ein Viertel von knapp 500 befragten Konstrukteuren die Formgedächtnistechnik kennen. Hier zeigt sich auch ein Bekanntheitsdefizit für das hohe Potential der FGL. Andererseits zeichnen sich etablierte FGL-Produkte durch Einfachheit, Zuverlässigkeit und oft auch Kostenreduktion aus. Immerhin sind der Bekanntheitsgrad und die Anzahl der Serienentwicklungen in den letzten drei Jahren leicht angestiegen.
Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik haben das ökonomische Potential der Formgedächtnistechnik bereits im Frühjahr 2012 bestimmt: Mit einem Volumen von über 1 Mrd. Euro pro Jahr wartet ein potenziell riesiger Markt darauf, erschlossen zu werden. Allerdings müssen, wie vom Verein deutscher Ingenieure gefordert, die Unternehmer mehr unternehmen. Wichtig ist der Blick in die Zukunft und vor allem eine unkonventionelle Denkweise, die mit der Formgedächtnistechnik einhergeht.
Mit den Vorbereitungen für das ZAF begonnen wurden an der Forschungsgemeinschaft Werkstoffe und Werkzeuge (FGW) e.V. in der zweiten Jahreshälfte 2013. Seit Januar befasst sich die neue FGW-Abteilung mit den industrienahen Anwendungsfeldern der Formgedächtnistechnik. Zu ihren Hauptthemen gehören neben der Produktentwicklung auch die Erforschung der Komponentenintegration, Elektronikentwicklung und die Etablierung einer standardisierten Prüf- und Zertifizierungsmethode für industrielle FGL-Komponenten in Zusammenarbeit mit dem VDI.
Als klassisches Transferinstitut hilft das ZAF den Unternehmen beim technologischen Einstieg mit Schulungen und Experimentalworkshops sowie in der gemeinschaftlichen Beantragung von Fördermitteln. Wer sich über die Thematik informieren möchte, kann erste Informationen zur FG-Technologie abrufen oder als ZAF-Fördermitglied mit einem entsprechenden Leistungsumfang einsteigen. •
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