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Bonjour Windkraft, Kernkraft passé?

Testbeginn der weltweit größten Windenergieanlage
Bonjour Windkraft, Kernkraft passé?

Sommer im Département Loire-Atlantique: Die französische Stadt Nantes feiert ihr Kunstfestival mit dem berühmten mechanischen Elefanten und Alstom startet vor den Toren der Stadt am Meer den Mammuttest einer der weltweit größten Windenergieanlagen. Jules Verne, der wohl berühmteste Sohn der Stadt, hätte an beidem seine Freude gehabt.

Carnet, nahe Nantes, am Morgen des 29. Juni 2012: Frédéric Hendrick, Vice President Offshore Wind bei Alstom Wind, steht mit einer internationalen Journalistenschar auf der Plattform von Haliade 150, der mit einem Rotordurchmesser von 150 m laut Alstom weltweit größten Windenergieanlage. Mit Blick auf ein nahegelegenes Kohlekraftwerk meint der ehemalige Automobilmanager: „Genau auf dieser Stelle sollte ja eigentlich einmal ein Kernkraftwerk entstehen!“

Die Alternative zur Kernkraft ist der Prototyp der neuen Windenergieanlage Haliade 150, an der drei aerodynamisch optimierte Windflügel (73,5 m) aus glasfaserverstärktem Polyester eine getriebelose 6-MW-Turbine antreiben. Es kommt hier erstmals in einer Alstom-Anlage ein Aggregat ohne Getriebe zum Einsatz. Für das direkt angetriebene System spricht laut Alstom die elastische Kupplung, die für eine Trennung von Rotor und Generator sorgt. Zwei massive Lager leiten die Biegebelastungen direkt in den Turm. Alstom verspricht sich von den größeren Flügeln im Zusammenspiel mit der neuen Turbine eine Leistungssteigerung von 15 % im Vergleich zu konventionellen 6-MW-Türmen mit kleineren Flügeln. Hier scheint sich ein neuer technischer Standard anzubahnen, denn speziell für den Offshore-Einsatz unter widrigen Bedingungen hat auch Siemens Energy neue direkt angetriebene 6-MW-Windenergieanlagen mit Rotordurchmessern von 120 und 154 m entwickelt.
240 Alstom-Windtürme sollen später in gigantischen Offshore-Windparks (Gesamtleistung: 3 GW, entspricht der Leistung von zwei Kernkraftwerken) im Nordatlantik ihre großen Flügel drehen. Die Windparks plant ein französisches Konsortium unter der Leitung von EDF Energies Nouvelle. Nach erfolgreichem Abschluss der Onshore- und Offshore-Tests will Alstom für 100 Mio. Euro vier Fabriken und ein Entwicklungszentrum bauen. Die Großserienproduktion soll in den Häfen von Saint-Nazaire (Gondel und Antriebstechnik) und Cherbourg (Flügel und Turm) starten. Unterstützung erhält der Konzern von einem Netzwerk von 200 Zulieferern und vom Konsortium, das in nahegelegenen Häfen acht Fabriken für die tragenden Gründungsstrukturen bauen will.
Doch zunächst heißt es testen. Hendrick: „Wir haben die Anlage zwar sehr akribisch mit Finite-Elemente-Methoden berechnet und mit dem Computer simuliert. Doch das ist alles nur Theorie, die eigentliche Erprobung beginnt jetzt.“ Alstom will dazu in einem 18-monatigen Mammuttest alle Schwachstellen ausmerzen und den neuen Windturm so prozesssicher, stabil sowie effizient wie möglich machen. In Carnet am Loire-Ufer hat Alstom in Meeresnähe für die Onshore-Tests einen Prototyp mit einer Masse von 1500 t aufgebaut, dessen 25 m hoher Stahlunterbau (Jacket) über 40 m tiefe Verankerungen im sandigen Untergrund befestigt wurde.
Der wichtigste Testabschnitt ist die Validierungsphase, in der Alstom die Leistung schrittweise auf 6 MW hochfährt. Dabei hoffen die Tester, dass sie den Turm mindestens 280 h ohne Unterbrechung laufen lassen können. In der Testphase messen Alstom-Ingenieure über einen separaten Turm und über die am Jacket, in der Turbine und an den Flügel angebrachten Sensoren unter anderem Windgeschwindigkeiten, Vibrationen, Temperatur der Generatormagnete und der Luft im Generator. Um die Verhaltensweise des Turmes zu validieren, muss er drei zehnminütige Tests bei einer Windgeschwindigkeit von 20 m/s absolvieren. Es folgen weitere umfangreiche Onshore-Tests. Ende 2012 wird Belgian NV, der belgische Marktführer bei der Offshore-Windenergie-Erzeugung, eine Haliade-150-Anlage etwa auf der Höhe von Ostende installieren, um sie in einer Entfernung von 45 km von der Küste im Meer zu testen. Die Offshore-Tests umfassen Aspekte wie Service und Netzanschluss unter realen Einsatzbedingungen.
Die Ergebnisse der Onshore-Tests interessieren besonders Pascal Girault, Leiter der Alstom-Pilotfabrik im nahegelegenen Ort Saint-Nazaire, der mit ihrer Hilfe Produkt und Produktion zur Serienreife bringt. Im Mittelpunkt steht das Entwickeln einer Anlage, die auch einem Orkan oder beispielsweise einem Sandsturm aus Marokko trotzt. Die Anforderung für diese Offshore-Anlagen fallen nicht nur wegen der weltmeisterlichen Flügellängen höher als bei anderen aus. Die Windparks werden später im Nordatlantik zum Einsatz kommen, in dem der Wind stärker als in anderen Regionen der Welt mit durchschnittlich 9 bis 10 m/s weht. Problemlos dürften laut Alstom die Flügel derartige Belastungen überstehen, deren Spitzen sich mit einem Rekordtempo von bis zu 91 m/s drehen. Für die gute Qualität spricht GloBlade, das Konstruktionsprinzip des dänischen Flügelspezialisten LM Wind Power aus Kolding, der in 30 Jahren bereits mehr als 150 000 Flügel gefertigt hat. Vor Erosion und Vereisung schützen aufgeklebte Polyuerethan-Spezialfolien von der Firma 3M, die sonst beim Militär zum Einsatz kommen. Wenn die Folien bei extremer Kälte Eis nicht verhindern, warnen in die Flügel einlaminierte Sensoren den Anlagenbetreiber vor vereisten Flügeln.
Noch wichtiger ist der Schutz der getriebelosen 6-MW-Antriebe. „Die schützende Gondel ist komplett gegen Wettereinflüsse, Temperatur und Korrosion gekapselt“, erläuterte Dr. Jordi Puigcorbe, President of Global Innovation bei Alstom Wind S.L.U. aus Barcelona. „Innen gibt es eine Klimaanlage und Systeme zum Trocknen der Luft, die für einen dauerhaften Einsatz aller Komponenten für rund 20 Jahre sorgen.“
Pionierarbeit in der Pilotfabrik steht aber nicht nur bei der Windenergieanlage, sondern auch beim Aufbau einer Serienproduktion an. „Wir streben eine Produktion von 100 Einheiten pro Jahr an“, erklärt Pilotfabrik-Leiter Pascal Girault. „Das heißt: Hier soll ab 2014 alle 2,3 Tage eine Gondel entstehen.“ In Saint Nazaire entsteht nach dem Vorbild der Automobilindustrie eine prozesssichere Serienproduktion, die fast ausschließlich auf Montagevorgängen von extern hergestellten Bauteilen basiert. Sehr viel Arbeitsaufwand stecken die 40 Ingenieure und Techniker in Details wie das Verlegen und Befestigen hydraulischer Leitungen. Die „Vorarbeiter“ visualisieren die gefundenen, optimalen Lösungen auf Schautafeln, die bei der späteren Serienproduktion als Anschauungsmaterial dienen: etwa für die ersten Mitarbeiter, die Alstom bereits ausbildet.
Straffe Organisation zeichnet die für das spätere Gelingen der Serienproduktion so wichtige Arbeit in der Pilotfabrik aus. „Jeden Tag um elf Uhr trifft sich der Führungsstab der Produktion, um vom Teamleiter zu erfahren, welche Probleme aufgetreten sind“, schildert der Pilotfabrik-Chef, ein ehemaliger Produktionsexperte des Automobilzulieferers Delphi Diesel, die Vorgehensweise. „Wir helfen den Produktionern, ihre Probleme zu lösen.“ Aber auch die Mitarbeiter sind gefragt: So hat Alstom eine KVP-Tafel (Kontinuierlicher Verbesserungsprozess) aufgestellt, auf der die Werker außerhalb der Besprechungszeiten Verbesserungsideen notieren können. Für das Optimieren der Fähigkeiten der Mitarbeiter gibt es ein transparentes Weiterbildungskonzept.
Außerdem baut Alstom eine lückenlose Dokumentation aller Produktionsschritte auf, die sich an der in Großserien üblichen Standards orientiert. Wichtige Bauteile wie Antriebselemente werden dabei als sogenannte D-pflichtige Teile behandelt. Dieser aus der Automobilindustrie stammende Begriff besagt: Es gibt für jedes wichtige Sicherheitsteil – wie etwa ein Antriebselement im Generator – eine genaue Dokumentation über den Herstellprozess mit allen wichtigen Parameter. Im Fall eines Ausfalles ließe sich so genau zurückverfolgen, ob das Bauteil entsprechend den Vorgaben des Lastenheftes gefertigt wurde. „Wir orientieren uns bei diesem Ramp-up, dem langsamen Entwickeln einer neuen Serienproduktion, in der Tat an den Methoden und Werkzeugen der Automobilindustrie“, sagt Dr. Puigcorbe. „Viele unserer Experten hier kommen übrigens aus der Automobilindustrie.“
Dipl-Ing. Nikolaus Fecht Fachjournalist in Gelsenkirchen
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 5
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