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Damit keine Schaufel fliegen geht

Prozessüberwachung hilft, Flugtriebwerkskomponenten sicher und wirtschaftlich zu produzieren
Damit keine Schaufel fliegen geht

Mit einem neuen Verfahren wollen Aachener Forscher künftig die zuverlässige Funktion kritischer Flugtriebwerksbauteile sichern. Dazu sollen Prozessüberwachungssysteme die heute üblichen, nicht zerstörenden Prüfverfahren zumindest zum Teil substituieren. In einer Reihe FAA-geförderter Projekte arbeiten die Forscher eng mit der Industrie zusammen.

In der Flug-Triebwerksindustrie wird primär die robuste Fertigung sicherer Bauteile mit höchsten Qualitätsansprüchen verfolgt. Entscheidend für die Bauteilqualität ist die Oberflächenintegrität. Diese wird in der Produktion derzeit mit Hilfe klassischer nicht-zerstörender Prüfverfahren verifiziert. Neue Ansätze bedienen sich der Prozessüberwachung, die ein großes Potenzial im Bereich der prozessbegleitenden Qualitätssicherung bietet. Hier übernehmen die Luftfahrtbehörden ihre Verantwortung und fördern Programme, die diese Technologie für die sichere Fertigung kritischer Komponenten weiter entwickeln.

Trotz eines massiv erhöhten Verkehrsaufkommens in der Luftfahrt in den vergangenen zwanzig Jahren, werden Unfälle mit Todesfolge für Passagiere immer seltener. Im weltweiten Vergleich ist die Anzahl schwerwiegender Unfälle in Europa am niedrigsten. Das bestätigte die Europäische Agentur für Flugsicherheit (EASA) in ihrem Jahresbericht 2010.
Die EASA und deren Pendant, die Federal Aviation Administration (FAA) in den USA, arbeiten seit Jahren daran, Unfälle statistisch zu erfassen, deren Ursachen zu ermitteln und in Zusammenarbeit mit den Herstellern in der Flugzeugindustrie möglichen Fehlerquellen entgegenzuwirken. Die häufigste Ursache für Unfälle ist, dass die Besatzung im generellen Sinne die Kontrolle über die Maschine verliert. Bereits an vierter Stelle jedoch steht das Versagen von Triebwerken. Dieser Kategorie messen die Sicherheitsbehörden einen sehr hohen Stellenwert bei, weil die Zuverlässigkeit eines Flugtriebwerks bereits in der Herstellung entscheidend beeinflusst werden kann. Nachweislich konnten Unfälle mit Todesfolge auf Fertigungsfehler bei Turbinenkomponenten zurückgeführt werden.
Damit ein Bauteil innerhalb der geforderten Lebensdauer nicht versagt, muss ein vordefinierter Zustand des Werkstoffs vorliegen – auch an den bearbeiteten Oberflächen. Weichen die Materialeigenschaften davon ab, etwa weil der Grundwerkstoff fehlerhaft ist oder infolge einer Bearbeitung geschädigt wurde, werden Lebensdauertests nicht mehr erfüllt. Deshalb dürfen die Prozessparameter, mit denen ein geprüftes Gutteil hergestellt wurde, nicht mehr verändert werden. Jede Änderung eines Parameters hat eine erneute, mit hohen Kosten verbundene Evaluierung des Prozesses zur Konsequenz.
Im Gegensatz zu einem einfachen Qualitätsmerkmal – etwa einer Maßtoleranz oder der Oberflächenrauheit – werden unter dem Begriff der Oberflächenintegrität mehrere Eigenschaften zu einer Kenngröße zusammengefasst. Entscheidend ist dabei, dass die Gesamtheit der Einzelmerkmale einen Rückschluss auf die Funktionalität der Oberfläche erlaubt. Je nach Anwendungsgebiet, Werkstoff des Bauteils und Fertigungsprozess können die Parameter der Oberflächenintegrität völlig unterschiedlich sein.
2008 startete ein dreijähriges von der EU gefördertes Vorhaben mit dem Titel “Adaptive Control of Manufacturing Processes for a New Generation of Jet Engine Components” (ACCENT), an dem neben Forschungseinrichtungen alle europäischen Triebwerkhersteller mitwirkten. Im Rahmen des Projekts wurde auch eine Liste der Merkmale und Anomalien für die Flugturbinenfertigung erstellt.
Die Prüfverfahren zur Ermittlung der Oberflächenqualität lassen sich grundsätzlich in zerstörende und nicht zerstörende unterteilen. Die zerstörenden Verfahren, unter denen metallografische Schliffbilder zu den wichtigsten gehören, sind elementar in der Prozessentwicklung. Nicht zerstörende Prüfverfahren werden bislang der Fertigung nachgelagert eingesetzt, um die Produktqualität zu dokumentieren. Fehler werden so meist erst nach der finalen Bearbeitung entdeckt.
Ein alternativer Ansatz ist das Überwachen der Fertigungsprozesse. Das kann auf unterschiedlichen Komplexitätsebenen erfolgen. In einfachen Fällen wird die Prozessüberwachung etwa verwendet, um den Werkzeug-Werkstück-Kontakt zu ermitteln oder einen Werkzeugbruch auf Basis der Motorstromaufnahme zu erkennen. Solche Lösungen mit tendenziell eher kurzzeitigem Fokus reagieren bei Alarm und unterbrechen den Prozess zum Schutz von Bauteil und Maschine.
Bei wissenschaftlich orientierten Ansätzen kommen aufwendige Sensortechnologien zum Einsatz, und es werden Methoden genutzt, die auf der Grundlage von Prozesssignalen relevante Informationen über den Prozesszustand generieren. Der Fokus richtet sich dabei auf längere Prozesssequenzen. Zur Aufbereitung der Rohdaten kommen Methoden wie Transformationen vom Zeit- in das Frequenzspektrum, das Berechnen von Kennwerten oder eine physikalische Prozessmodellierung zum Einsatz. Dies befähigt zur Überwachung längerfristiger Ereignisse – etwa dem voranschreitenden Werkzeugverschleiß – und erlaubt eine durchdachte Reaktion, etwa die Planung günstiger Werkzeugwechselintervalle. Andererseits ermöglicht die Prozessmodellierung das direkte Verknüpfen von Signalen mit Merkmalen der Oberflächenintegrität und macht die Prozessüberwachung zum nicht-zerstörenden Prüfverfahren. Zu dessen Vorteilen gehört, dass
  • die Prozessüberwachung während der Bauteilbearbeitung stattfinden kann und eine ständige Information über den aktuellen Prozess- und Qualitätszustand liefert – Bauteildefekte lassen sich so frühzeitig erkennen und Fehlerfolgekosten vermieden,
  • eine weitere Handhabung des Bauteils nicht notwendig ist und so zusätzliche Transport- oder Personalkosten entfallen,
  • neben der Information über die produzierte Bauteilqualität, Daten aus dem Prozessüberwachungssystem noch weiter genutzt werden können – etwa durch Anbinden an Produktionsplanungssysteme zum Erfassen der Maschinenauslastung.
Insgesamt bietet die Prozessüberwachung, vor allem in der Kombination mit physikalischen Prozessmodellen, ein enormes Potenzial in der Fertigungstechnik und der Qualitätssicherung. Doch anspruchsvolle Überwachungslösungen sind oft sehr speziell und nicht universell einsetzbar. Kommerzielle Systeme bieten zwar viele Möglichkeiten, benötigen aber tiefgreifendes Prozessverständnis sowie Expertenwissen um leistungsfähig eingesetzt werden zu können.
Um den Transfer der oben beschriebenen Ansätze in die Triebwerksfertigung zu erreichen, wird in einem durch die FAA geförderten Programm, in Zusammenarbeit mit einem Konsortium internationaler Flugtriebwerkhersteller, ein industrieller Entwicklungsansatz verfolgt. Als Ergebnis liegt nach dem ersten Projektabschnitt eine Software vor, die in der Lage ist, auf Grundlage von Wirkleistungssignalen eines Bearbeitungszentrums einen Bohrprozess zu bewerten und alle Daten Produkt bezogen zu speichern. Somit können relevante Kennwerte der Oberflächenintegrität jederzeit abgerufen werden. Die hier aufgezeigten Ansätze werden derzeit in zwei weiteren Projekten des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) der RWTH Aachen am Lehrstuhl von Prof. Fritz Klocke in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Luftaufsichtsbehörde und einem Triebwerkskonsortium auf den Räum- und den Drehprozess ausgeweitet. Nach und nach soll die Systematik zur Beurteilung der Fertigungsprozesse auf alle Verfahren angewendet und in die Produktion moderner Triebwerke integriert werden. Neue Anforderung an das Design der Triebwerkskomponenten – möglichst leicht aber dennoch fehlertolerant zu sein – verstärkt den Bedarf an solchen Systemen. Vermehrt eingesetzte moderne Werkstoffe, die zwar höchsten Anforderungen hinsichtlich Warmfestigkeit genügen, sind aber auch immer schwerer zerspanbar. Das führt zu Fertigungsprozessen, die extrem sensitiv auf jegliche Störung reagieren. Eine Übertragbarkeit der gezeigten Ansätze ist künftig für die Fertigung von Komponenten für die Medizin- und die Kraftwerkstechnik denkbar.
Drazen Veselovac, Oberingenieur, Leiter der Abteilung Überwachung und Abtragung, Sascha Gierlings, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Gruppe Überwachung, beide vom WZL der RWTH Aachen
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