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Luft wird zum Leichtbau-Werkstoff

Partikelschaum-Verbundbauweise: jetzt möglich durch das Anspritzen von Kunststoffelementen
Luft wird zum Leichtbau-Werkstoff

Partikelschaum | Der Mensch besteht zu zwei Dritteln aus Wasser – und ist ziemlich leicht für seine Größe. Styropor ist zu 90 % aus Luft und fast ohne Gewicht. Das wäre doch ein Leichtbaumaterial! Der Traum scheint jetzt wahr zu werden. Denn die Krallmann-Gruppe hat mit Partnern alle bisherigen Technikprobleme ausgeräumt, um den Super-Leichtbauwerkstoff auch in der Breite einsatzfähig zu machen. §

Autor: Olaf Stauß

Die Möglichkeiten sind unglaublich. Um 90 % und mehr soll der neue Leichtbauwerkstoff die Gewichte reduzieren können. Das klingt so utopisch, dass Ingo Brexeler unbedingt zuerst das „Wie“ und „Warum“ erläutern will, bevor er sich über die damit verbundenen Visionen äußert: dass Partikelschaum ein Leichtbauwerkstoff in der Breite werden könnte, in Maschinen, Autos und Möbeln. Auch in der Karosserie? „Warum nicht?“, sagt er. „Gegen den Aufprall bei einem Unfall schützt sich der Motorradfahrer mit dem Partikelschaum in seinem Helm. Was spricht dagegen, den Werkstoff auch zum Schutz anderer Körperteile oder von technischen Komponenten zu verwenden?“

Ingo Brexeler ist Geschäftsführer der Krallmann-Gruppe mit Sitz in Hiddenhausen – einem Hersteller von Präzisions-Spritzgießwerkzeugen und von Kunststoffspritzgussteilen. Hier liegen die Wurzeln des Unternehmens, doch Krallmann verändert sich derzeit stark. Und zwar durch das Entwickeln neuer, anspruchsvoller Technologien, die an angestammte Kernkompetenzen anknüpfen – bei einem traditionellen Werkzeug- und Formenbauer aber niemand vermutet. Die Arbeit an Partikelschäumen zum Beispiel: expandiertes Polypropylen (EPP) und expandiertes Polystyrol (EPS), letzteres aus dem Lowcost-Bereich der Verpackungen auch als „Styropor“ bekannt.
Jeder Motorradhelm dämpft mit Partikelschaum
Solche Partikelschäume sind schon vielfach im Einsatz. Außer in Sport- und Motorradhelmen auch in Frontends als Aufprallschutz oder in Modellfliegern als Leichtbaumaterial – nur dass dies kaum jemandem bewusst ist. Das mag daran liegen, dass das Material noch recht hässlich aussieht und gerne versteckt wird.
EPS und EPP bestehen bis zu 90 % aus Luft und sind dadurch sehr leicht. Sie sind hervorragend geeignet, um Kräfte zu absorbieren, Stöße abzufangen, Vibrationen zu dämpfen und Wärme zu dämmen. Diese Eigenschaften sorgen bereits seit einiger Zeit für steigendes Interesse.
Automobilindustrie interessiert sich für leichte Partikelschaum-Werkstoffe
So gab der Automobilzulieferer Magna kürzlich bekannt, dass er für den BMW i8 eine „ultraleichte Türverkleidung“ aus EPP produzieren wird. Das Türträgersystem entsteht im One-Shot-Prozess an einem Stück, nimmt Innenraumbeleuchtung und Stereolautsprecher auf und ist rund 22 % leichter als herkömmliche Spritzgussverkleidungen.
Ruch Novaplast, ein Partner von Krallmann, bietet seit Jahren ein System aus EPP-Schaummodulen an, das Geräte-Komponenten wie Kabel und Schläuche aufnimmt und so den Zusammenbau vereinfacht. Bei der Montage werden die Schaummodule formschlüssig zusammen gesteckt und geklemmt. 2010 ist im Industrieanzeiger der Artikel „Montieren durch 3D-Puzzeln“ erschienen, der die Methode am Beispiel einer mobilen Herz-Lungen-Maschine erklärt (siehe www.industrieanzeiger.de, Suchwort „Ruch“). Das einzige Problem: Nicht für jedes technische Produkt ist es okay, die Komponenten wie Puzzle-Teile nur so zusammen zu stecken.
Dass die Partikelschäume bisher keine große Verbreitung als Leichtbauwerkstoff erfahren haben, liegt daran, dass sich an ihnen bisher nichts richtig belastbar befestigen lässt. Wer an Styropor denkt, kann sich leicht vorstellen, wohin Versuche mit Schrauben und Dübeln führen. Ruch schäumte Räder für Modellflieger und kaufte dafür Felgen beim Spritzgießer zu, die dann später montiert wurden – recht aufwendig für ein Produkt, das nicht viel kosten darf. Es bräuchte also die Möglichkeit, Partikelschaum und Thermoplast stoffschlüssig zu verbinden, am besten durch rationelles Spritzgießen.
Daran hatten sich Experten über Jahre hinweg versucht – ohne Erfolg. Bis Krallmann eine Lösung – oder besser eine Reihe von Lösungen – erfand. Spätestens hier braucht es die Erläuterungen von Ingo Brexeler, um das „Warum“ und „Wie“ zu verstehen. „Geschäumt wird mit etwa 160 Grad Celsius, eingespritzt mit circa 240 Grad. Kein Wunder, so entstehen im Partikelschaum vor allem Löcher – durch die heiße Thermoplastschmelze“, erklärt der Krallmann-Chef, der sich während seiner bisherigen Ingenieurslaufbahn auch mit Temperieraufgaben auseinandersetzte.
Eine Lösung gibt es nur, wenn im Werkzeug ausschließlich dort die Temperatur erlaubt wird, wo sie just-in-time gebraucht wird, irgendwie. Brexeler und sein Team nutzten ihr Know-how für thermische Prozesse und bauten ein solches Werkzeug. Dafür machten sie sich zusätzlich die speziellen Eigenschaften von EPP und EPS zunutze. Mehr verrät Brexeler nicht, die Lösung bleibt geheim.
Nur die Denkrichtung deutet er an. „Wir müssen die Materialeigenschaften nutzen, die wir haben, und nicht den fehlenden nachtrauern.“ Also eine Art Wechsel des physikalischen Blickwinkels, der neue Wege eröffnet. „Sind Sie auf Ihrer Lieblingsstrecke schon einmal in die Gegenrichtung gejoggt?“, macht er den Ansatz plausibel. „Dabei lernen Sie Ihre Strecke von einer ganz neuen Seite kennen.“
Der Prozess funktioniert. Durch „Partikelschaum-Verbundspritzgießen“ (PVSG) entsteht eine stoffschlüssige Verbindung. Um Funktionselemente wie Gewindehülsen wirtschaftlich in Partikelschaum-Serien einbringen zu können, brauchte es jedoch noch einen weiteren Schritt. Krallmann ließ sich das Herstellen von „K-Fix“-Befestigungselementen patentieren, die mit ihrer Schaumseite ins Werkzeug eingelegt und umschäumt werden.
Das stundenlange Tempern musste ersetzt werden
Auch hier war „anders herum denken“ gefordert. Denn ein Umstand erschien für die Serienproduktion absolut inakzeptabel: das eintägige Tempern der Teile, um den beim Schäumen verwendeten Wasserdampf wieder auszutreiben.
Mit einer Prozessänderung minimierte Krallmann den Wasseranteil und machte das Tempern überflüssig. Aha, wieder „rückwärts“ gedacht? Die Ostwestfalen entwickelten sogar einen eigenen Schäumautomaten, weil sich die etablierten Anlagenbauer dazu nicht durchringen konnten. Was bleibt, ist eine Zykluszeit von 1,5 min statt 24 h – und die ist kompatibel mit dem Spritzgießprozess. Damit können die K-Fix-Elemente auf einer gemeinsamen Anlage produziert werden, so wie sie auf der Messe Fakuma 2014 und auf den Technologietagen von Arburg im März 2015 zu sehen war.
Für die Firmenpartner Krallmann, Ruch, Arburg und GK Concept markiert der aktuelle technische Stand den Startpunkt für eine Entwicklung in die Breite. Sie gründeten ein „Netzwerk intelligenter Leichtbau-Systeme“ (NILS) für Unternehmen und Hochschulen, das auch für weitere Partner offen ist. Ziel von NILS ist es, erste Anwendungsideen für Leichtbauverbundwerkstoffe mit Partikelschäumen erfolgreich umzusetzen.
Auf der Messe ISH gab es eine erste Serienanwendung für PVSG zu sehen. Namen wollen die Partner noch nicht an die große Glocke hängen. Aber wie es funktioniert, wurde deutlich: ein Klimagerät für Passivhäuser, doppelt so groß wie eine Waschmaschine. Es besteht aus sieben EPP-Formteilen, die ein Metallgehäuse ersetzen und über zwanzig Komponenten aufnehmen.
Die Elemente der Grundstruktur sind unlösbar miteinander verbunden. „Klappen, Lüfter, Elektronik – der Anwender schiebt nur noch seine Komponenten rein“, nennt Brexeler die Vorteile der stark vereinfachten Montage. Medienleitungen und Kabel sind mediendicht fixiert, sobald sie angeschlossen sind. Sie müssen auch nicht mehr einzeln wärmegedämmt werden wie früher – ein „riesiger Benefit“, so Brexeler. „Statt x Teile zu montieren, schäumen wir eines.“
Modell „Anlauffabrik“: Der Kunde ordert eine angelaufene Produktion
Mediendichtigkeit und Wärmedämmung sind neben der Leichtigkeit weitere Vorteile, die EPP und EPS interessant machen. Etwa für Schaltschränke, in denen die Elektronik vor der Hitze der Schütze zu sichern ist. Einfach in EPP einhüllen, fertig. Vielleicht lässt sich dann sogar auf die Lüfter verzichten…
An dieser Stelle drängt sich eine Frage auf, die Ingo Brexeler am liebsten gleich zu Beginn angesprochen haben will: Wie gelingt es, solche Pionier-Anwendungen risikoarm umzusetzen? Schließlich steckt sehr viel Neues drin, womöglich auch Unwägbares. Krallmann hat dafür das Konzept der „Anlauffabrik“ konzipiert. Es steht geradezu für den Wandel des Werkzeugbauers zu „Krallmann 2.0“, wie sie in Hiddenhausen sagen. Neue Technologien entwickeln sie prinzipiell so, dass sie von vornherein serienfähig sind, voll automatisiert. Das versetzt sie in die Lage, auch komplette Produktionen anzubieten.
Interessenten können wie bisher entweder „nur“ Werkzeuge kaufen, alternativ aber auch Lösungen bis hin zu laufenden Produktionen. Der Kunde kann sogar Krallmann selbst produzieren lassen – und später entscheiden, ob und wann er die Fertigung übernimmt. So haben beide die Gewähr, dass eine neue Technologie tatsächlich auch erfolgreich umgesetzt wird – der Abnehmer als Vertragspartner, Krallmann als Know-how-Träger. „Wir glauben, dass das eine gute Idee für den Standort Deutschland ist“, sagt Brexeler. Und er geht davon aus, dass dieses Konzept Schule machen wird. Mehr dazu auf Seite 28.
Anlauffabriken könnte es selbstverständlich auch für Verbundbauteile aus Thermoplasten und Partikelschäumen geben. Doch wie geht es technisch weiter mit PVSG? Der Automobilbau interessiert sich dafür. Speziell in der Elektromobilität gibt es neue Anforderungen. Batterien müssen vor Stößen geschützt und klimatisiert werden – so wie die gesamte Fahrgastzelle. Natürlich mit möglichst wenig Gewicht.
Damit wird klar, wie’s weiter geht: Partikelschäume brauchen noch mehr Funktionalisierung. Sie sollen belastbar sein, gut aussehen und tolle Oberflächen bieten. Die Partner, die sich im NILS-Netzwerk organisiert haben, sind an den Themen dran: Ruch hat den Schäumprozess weiterentwickelt und erzielt jetzt deutlich bessere Oberflächen, zum Beispiel mit Mikrostrukturierungen. EPP- und EPS-Oberflächen lassen sich mit Folien, TPE oder auch Organoblechen veredeln. Und die Partner testen das Einschäumen von PP-Gitterstrukturen, um die Verwindungssteifigkeit der Teile zu erhöhen und die Krafteinleitung zu verbessern. •

Die „Anlauffabrik“ bringt Innovation

Gekaufte Produktionsanläufe machen neue Technologien beherrschbar

Leiterplatten-Spritzguss | Leichtbau ist auch dabei, weil die Stanzgitter entfallen. Doch dieses Projekt senkt vor allem Kosten. Und es zeigt, warum Krallmann heute „Anlauffabriken“ anbietet. §

Autor: Olaf Stauß

Der Werkzeug- und Formenbauer Krallmann traf 2011 die strategische Entscheidung, mit dem eigenen Know-how neuartige Verfahren zu entwickeln und zu kommerzialisieren – und nicht mehr „nur“ Werkzeuge zu verkaufen.
Die Kernkompetenzen: Unterschiedliche Materialien im Spritzguss zu verbinden und die dafür notwendigen thermischen Prozesse zu gestalten – meist solche, die es technologisch in sich haben. Vier zukunftsträchtige Bereiche identifizierte der Mittelständler:
  • Optik (dicke Linsen, transparente Kunststoffe)
  • Mechatronik (3D-Leiterplatten)
  • Leichtbau (Schäumen + Spritzguss) und
  • Medizintechnik.
Diesen Zukunftsfeldern ist gemeinsam, dass sie dezidiertes Spezialwissen erfordern von denen, die sich in ihnen bewegen. Doch das kann zur Gefahr für den Markterfolg werden oder sogar das Aus einer Technologie bedeuten, weil das Risiko gescheut wird. Um dies zu verhindern, entwickelte Krallmann das Konzept der Anlauffabrik: Der Auftraggeber bekommt eine in Betrieb genommene Produktion geliefert. Auf Wunsch betreibt Krallmann die Fertigung sogar selbst für bestimmte Zeit – wenn’s sein muss, für Jahre.
Wie sehr dieses Konzept eine Chance für vielversprechende Technologien sein kann – für Anwender ebenso wie für Anbieter – macht das Beispiel des neuen IMKS-Verfahrens und seiner Entwicklungsgeschichte deutlich. IMKS steht für „Integriertes Metall-Kunststoff Spritzgießen“.
Beim IMKS werden metallische Leiterbahnen auf ein im gleichen Werkzeug produziertes Kunststoffteil aufgespritzt, neuerdings sogar über biegsame Bereiche hin- weg. Die Kostenvorteile sind erheblich. Es braucht kein Stanzen von Metalleinlegern und keine Montage mehr, alles geschieht in der Spritzgießzelle in einem Zyklus.
Welche Anforderungen dabei zu erfüllen sind, beschreibt Ingo Brexeler, Geschäftsführer von Krallmann, so: „Für dreierlei Materialien haben wir drei Temperaturniveaus, 80, 240 und 110 Grad. Die muss das Werkzeug thermisch trennen“ – damit keines der Materialien geschädigt wird.
Die Entwicklung begann 2009 am IKV in Aachen mit einem Kunststoff-Spritzaggregats. 2010 trieb Krallmann die Arbeiten weiter und baute ein Metallspritzaggregat, das mit Standard-Legierungen zurecht kam.
Mit im Boot sind Bayer MaterialScience auf der Material- und KraussMaffei auf der Maschinenseite. Stellen sich bei einem Kunden irgendwo auf der Welt Schwierigkeiten ein, kann er sich an den dortigen Support des Maschinenbauers wenden. •
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