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Metallwunden heilen ohne rostige Kruste

Oberflächentechnik: Nanokapseln schützen vor Korrosion und Schmierstoffausfall
Metallwunden heilen ohne rostige Kruste

Winzige Kapseln, gefüllt mit einem Wirkstoff, können Metalle künftig vor Beschädigungen schützen und Korrosion verhindern. Forscher in Stuttgart und Essen arbeiten an einem Galvanikprozess, mit dem sich die Nanokapseln im großen Stil industriell aufbringen lassen.

Wir schreiben das Jahr 2012. Noch ist die Welt nicht untergegangen, wie von Roland Emmerich in seinem gleichnamigen Film angekündigt. Das größte Unglück, das heute passiert ist: Mein Haushaltsroboter hat sich beim Öffnen einer Fischdose in seinen stählernen Finger geschnitten. Zum Glück gehört Johanna – so heißt meine blecherne Haushaltshilfe – zur jüngsten Generation ihrer Art. Ihr Körper ist mit einer Schutzschicht überzogen. Die sorgt dafür, dass kleine Verletzungen ganz von selbst heilen. Wie bei mir.

Zurück in die Gegenwart: Derzeit arbeiten Wissenschaftler verschiedener Forschungseinrichtungen an der Technologie, die metallische Oberflächen heilen lässt. Inspiriert wurden sie dabei von der Natur, die viele Mechanismen hervorgebracht hat, um Verletzungen zu kurieren. Die Idee der Wissenschaftler: Winzige Kapseln werden in die Oberfläche der Materialien eingebettet. Sie enthalten eine Substanz, die quasi wie ein Medikament von innen heraus wirkt.
„Sobald das Metall beschädigt wird, etwa durch einen Kratzer, platzen die an dieser Stelle liegenden Kapseln auf, der Wirkstoff tritt aus und reagiert mit der Umgebung“, erläutert Dr. Claudia Dos Santos. Die Expertin für Galvanik arbeitet am Stuttgarter Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) in der von Dr. Martin Metzner geführten Abteilung für Schichttechnik. Sie leitet das Projekt gemeinsam mit Prof. Christian Mayer von der Fakultät für Chemie an der Universität Duisburg-Essen. Derzeit untersuchen die Forscher vor allem zwei Additive: Einerseits sollen Schmierstoff-gefüllte Kapseln die Notlaufeigenschaften von Lagern oder Motorteilen verbessern und so Folgeschäden bei einem kurzzeitigen Abriss des Schmierfilms verhindern. Im zweiten Kapseltyp sorgen Korrosionsinhibitoren dafür, dass Wunden in der Oberfläche – etwa Kratzer – von selbst „heilen“ und Korrosion verhindert wird.
„Die eigentliche Neuheit ist die Kombination eines Galvanikprozesses mit dem Einbau von Nanokapseln“, sagt Dos Santos. „Unser Ziel ist es, das Verfahren so zu gestalten, dass es wie ein normaler Galvanikprozess abläuft und entsprechend auch im großen Stil industriell eingesetzt werden kann.“ Eine Adaption des Prozesses und der Anlagen ist allerdings erforderlich. Die Gründe liegen im eigenwilligen Verhalten der lediglich 100 bis 500 nm messenden Wirkstoffbehälter. „Im Gegensatz zu Nano-Teilchen, die im Bad nach unten sinken, steigen die Kapseln nach oben. Deshalb muss die Art des Rührens angepasst werden, um eine gleichmäßige Zirkulation zu erzeugen“, erläutert die Brasilianerin. Damit eine homogene Verteilung der Kapseln im Bad überhaupt möglich wurde, mussten die Wissenschaftler zunächst noch ein anderes Problem lösen. Christian Mayer erklärt: „Wie in jeder Dispersion neigen auch hier die Teilchen dazu, aneinander anzuhaften. Das ist der gleiche Effekt, den man beispielsweise von der Dispersionsfarbe her kennt, die vor dem Gebrauch kräftig durchmischt werden muss.“ Die Lösung fanden die Forscher, indem sie die Oberflächen der Kapseln mit einem Netzmittel überzogen, das dafür sorgt, dass sich die Kügelchen gegenseitig abstoßen. Außerdem veränderten sie die Zusammensetzung des Bades. Noch sei das Ergebnis nicht ganz optimal, sagt Dos Santos, ein wenig Arbeit liege hier noch vor den Forschern.
Das Potenzial dieser Technologie ist riesig. „Wir haben mit Sicherheit erst einen Bruchteil der Einsatzmöglichkeiten erkannt“, sagen die Wissenschaftler. Neben den beiden Anwendungsfeldern, an denen sie derzeit arbeiten – Notschmier- und Korrosionsschutzsysteme –, könnten über die Nano-Kapseln auch Medikamente in die Oberfläche von medizinischen Implantaten eingebettet werden, die lokal schützen. Farb- oder Duftstoff-gefüllte Kapseln könnten veränderte Einsatzbedingungen anzeigen und damit beispielsweise der Verschleißkontrolle dienen. „Denkbar ist aber auch, Informationen in den Schichten zu speichern“, blickt Dos Santos in die Zukunft. Allein für die Kennzeichnung von Originalbauteilen zum Schutz vor Produktpiraten oder um die Historie der Teile zu verfolgen, ergäben sich damit ungeahnte Möglichkeiten.
Grundsätzlich kann eine solche Schicht zu 5 bis 50 % aus Nano-Kapseln bestehen. Sind zu wenige Kapseln enthalten, reicht die Wirkung nicht aus, sind es zu viele, sinkt die mechanische Stabilität der Schicht. Die ideale Konzentration ist einer der Punkte, an denen die Wissenschaftler noch arbeiten. Ein anderer betrifft die Wirtschaftlichkeit des Prozesses. „Wir wollen keine teuren Werkstoffe verwenden“, sagt Dos Santos. „Deshalb suchen wir noch nach den Materialien, die preisgünstig sind und dennoch ein gutes Ergebnis liefern.“ Auch die Auswirkung unterschiedlicher Materialien sowohl bei der Hülle als auch beim Inhalt wird noch untersucht. „Es ist zwar möglich, auch die Kapselhüllen an verschiedene Situationen anzupassen, ob´s aber auch tatsächlich Vorteile bringt, ist noch nicht endgültig geklärt.“
Mayer ergänzt: „Im Labor arbeiten wir mit verschiedenen Materialien für die Hülle, aber bei diesem Forschungsprojekt konzentrieren wir uns auf ein Polymer, von dem wir denken, dass es für die Aufgabe besonders gut geeignet ist.“ Und diese Aufgabe lautet: Überleben in einer extrem unwirtlichen Umgebung. „Die Hülle der Kapseln ist nur zwei bis drei Moleküle dick. Wir arbeiten hier also mit hochfeinen, sehr empfindlichen Strukturen. Sie ins Galvanisierbad einzubringen, ist so, als würde man eine empfindliche Blume in heiße Salzsäure tauchen“, vergleicht Mayer. Das Problem dabei ist nicht nur, dass bereits zerstörte Kapseln keine Wirkung mehr haben. Das ausgetretene Agens verunreinigt zudem das Bad und beeinträchtigt damit den Prozess. Eines der wichtigsten Ziele des Projekts lautete deshalb: Prozess und Kapseln müssen so optimiert werden, dass möglichst viele der kleinen Wirkstoffträger überleben. Claudia Dos Santos fiel dabei die Aufgabe zu, den Prozess schonender zu gestalten, und Christian Mayer trainierte die Stabilität und die Widerstandsfähigkeit der Kapseln.
Zum besseren Verständnis vergleicht der Wissenschaftler die Hülle einer Nanokapsel mit einer Hohlkugel aus Styropor. Sie wächst aus vielen Kunststoff-Molekülen zusammen, die alle eine eher zufällige Form haben. „In ihrem mechanischen Verhalten lassen sich die Kapseln sehr gut mit einer Weintraube vergleichen“, erläutert der Chemiker. „Belastet man sie mit einer feinen Spitze, verformt sich die Oberfläche zunächst. Sobald die Last zu groß wird, platzt die Hülle auf, der Saft respektive der Wirkstoff tritt aus, und die leere Hülle faltet sich zusammen.“ Eine negative Auswirkung auf das Bauteil und seine Funktion hat das nicht, denn galvanische Schichten müssen vor allem geschlossen und zäh sein. Und das ist gegeben.
Anders als die Hülle, werden die Wirkstoffe an die Anwendung angepasst. „Beim Schmierstoff konzentrieren wir uns derzeit auch auf eine Substanz, aber wenn es um den Korrosionsschutz geht, müssen die Funktionsstoffe an das Material angepasst werden, das sie schützen sollen“, beschreibt Mayer. Bei Bedarf lassen sich auch Kapseln mit verschiedenen Wirkstoffen kombinieren, so dass eine Schicht mehrere Funktionen übernehmen kann. „Unser System funktioniert wie ein Baukasten, dessen Elemente sich beliebig zusammensetzen lassen.“ Um die gewünschte Wirkung zu erzielen, muss das Agens
  • natürlich die Eigenschaften bieten, die gefordert sind und
  • diese auch über einen längeren Zeitraum beibehalten, zudem
  • möglichst lange wirksam bleiben und
  • so beschaffen sein, dass es sich nicht zu schnell verflüchtigt und lange genug an der betroffenen Stelle wirkt.
Einmal geöffnete Kapseln, die ihren Wirkstoff abgegeben haben, sind allerdings verbraucht. Sie können nicht noch einmal wirken. „Das ist der Unterschied etwa zur menschlichen Haut. Unsere Blutgefäße versorgen den ganzen Körper immer mit frischen Nährstoffen, so dass einmal verletzte Stellen auch beim nächsten Mal wieder heilen“, erläutert Claudia Dos Santos. Ist so ein Effekt auch in der Technik denkbar? Die Forscherin zögert einen Moment, dann lächelt sie und sagt leise: „Wir arbeiten daran, aber mehr möchte ich dazu noch nicht verraten.“ Doch auch die jetzige Schichttechnologie kann über einen längeren Zeitraum wirken. Solange Beschädigungen wie Kratzer nicht an exakt derselben Stelle genau gleich verlaufen, werden die umliegenden Kapseln reagieren und für „Heilung“ sorgen.
Tritt keine Beschädigung auf, bleiben die Schichten über Jahre oder sogar Jahrzehnte wirksam. „Dass erst ein Schaden auftreten muss, ehe unsere Schicht Wirkung zeigt, könnte unter gewissen Umständen ein Nachteil unseres Ansatzes sein“, gibt Mayer zu bedenken. Einen anderen Weg verfolgen deshalb Prof. Guido Grundmeier vom Fachbereich Technische und Makromolekulare Chemie an der Universität Paderborn zusammen mit seinen Mitstreitern vom Fraunhofer-Institut für Schicht- und Oberflächentechnik in Braunschweig und vom Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung in Potsdam. Ihre Nanokapseln reagieren nicht nur auf mechanische Reize, sondern auch auf Änderungen des pH-Wertes oder der elektrischen Spannung. Sie bilden damit eine Art Selbstschutz, den man ebenfalls in der Natur findet: Feuersalamander etwa geben im Fall eines Angriffs einen Giftstoff ab, der die Lurche davor schützt, gefressen zu werden. Der Vorteil des Ansatzes von Grundmeier und seiner Gruppe ist laut Mayer, dass er quasi eine Vorsorge gegen Korrosion darstellt. Die Wirkstoffe würden bereits freigegeben, wenn beispielsweise Salzwasser auf den Autolack spritzt. „Dafür ist die Wirkung dieser Schichten zeitlich begrenzt. Es gibt eben keine Technologie, die für alle Anwendungen ideal passt.“
Durch das Zusammenwirken verschiedener Fachbereiche bestätigen beide Verbundprojekte ein Charakteristikum der Bionik: Die Wissenschaft kann nur dann effektiv von der Natur lernen, wenn sie interdisziplinär zusammenarbeitet. Gemein ist beiden aber auch, dass sie von der Volkswagenstiftung unterstützt werden. Im Rahmen der Förderinitiative „Innovative Methoden zur Herstellung funktionaler Oberflächen“ erhalten die Projekte zunächst über einen Zeitraum von drei Jahren insgesamt gut eine Million Euro. Erst diese Förderung ermöglichte ab 2007, die Technologie und ihr Potenzial intensiv zu erforschen.
Das Interesse der Industrie an dem neuen Verfahren ist bereits groß. „Es gibt eine Reihe von Unternehmen, die mit uns zusammenarbeiten wollen“, sagt Claudia Dos Santos. „Aber keines will genannt werden. Niemand will schlafende Hunde wecken und den Wettbewerb auf seine Aktivitäten aufmerksam machen.“ Die meisten der Interessenten kommen aus der Automobil- und Zuliefer- sowie der Farben- und Lackindustrie.
Einer der nächsten Schritte im Projekt von Dos Santos und Mayer wird das Beschichten komplexer dreidimensionaler Geometrien sein. „Wir müssen noch untersuchen, mit welchen Prozessparametern sich gleichbleibende Schichteigenschaften bis in tiefere Kavitäten hinein sicherstellen lassen“, erzählt die Brasilianerin. Wenn alles gut läuft und keine unvorhergesehenen Schwierigkeiten auftreten, könnten hier bereits in wenigen Monaten Ergebnisse vorliegen.
Und wann wird die Technologie serienreif sein? Sowohl Dos Santos als auch Mayer reagieren zurückhaltend. „Das Projekt ist so angelegt, dass wir zum Ende der Förderperiode ein serientaugliches Produkt haben.“ Dos Santos spricht von einigen Jahren, Mayer gibt sich etwas optimistischer: „Ich gehe davon aus, dass in ein bis zwei Jahren erste Anwendungen verfügbar sein könnten.“

Neue Technologien
Von der Natur inspiriert entwickeln Forscher derzeit Schutzschichten für Metalloberflächen. Je nach Wirkstoff, den die eingelagerten Nanokapseln enthalten, können diese kleinere Beschädigungen wie Kratzer selbst heilen, Korrosion verhindern oder Schmierstoffe freigeben und so die Notlauf-Eigenschaften von Lagern und Motorteilen verbessern. Weitere Anwendungsmöglichkeiten: Eine Verschleißanzeige über Farb- oder Duftstoffe sowie das Speichern von Informationen.
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