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Werkstücke sagen der Maschine, welche Bearbeitung ansteht

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Werkstücke sagen der Maschine, welche Bearbeitung ansteht

Zugleich extrem flexibel und hochproduktiv – das sollen selbstoptimierende Fertigungssysteme möglich machen. Sie kombinieren integriertes Wissen mit Umgebungseindrücken und finden so selbstständig einen Weg vom Ist- zum Ziel-Zustand.

Bald ist Weihnachten. Die Zeit bis dahin ist für viele nicht einfach. Beim Schenken einen Treffer zu landen, wird immer schwieriger – angesichts zunehmend individueller Gestaltungsmöglichkeiten bei vielen Produkten. Doch auch von den Herstellern von Uhren mit persönlichem Zifferblatt, selbst gestalteten Handygehäusen oder Sportartikeln im Kundendesign fordert dieser Trend große Anstrengungen. Individualisierte Produkte zu wirtschaftlichen Kosten in Serie zu fertigen, das ist bis heute eine Herausforderung. Deshalb sehen viele darin eine große Chance für den Produktionsstandort Deutschland, und führende Forschungseinrichtungen, die an der Produktionstechnik von morgen und übermorgen arbeiten, beschäftigen sich intensiv mit den daraus resultierenden Anforderungen. So arbeiten beispielsweise das Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb) der TU München oder das Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH Aachen an sich selbst optimierenden Fertigungslösungen. Welche Bedeutung die Forscher dem Thema beimessen, zeigt auch, dass das WZL einen ganzen Block des diesjährigen AWK (Aachener Werkzeugmaschinen-Kolloquium, www.awk-aachen.de) der Selbstoptimierenden Fertigung widmete.

Insbesondere in der Kleinserien- und der kundenindividuellen Produktion hängt die Leistungsfähigkeit und Flexibilität eines Produktionssystems zunehmend von der Verfügbarkeit aktueller, steuerungsrelevanter Informationen ab. Um die deutlich steigende Komplexität künftiger Fertigungssysteme wirtschaftlich beherrschen zu können, arbeiten die Forscher daran, künstliche kognitive Fertigkeiten zu integrieren. In Bezug auf Produktionsumgebungen bedeutet das, Wissen in Maschinen, Produkte und Prozesse zu integrieren und die Systeme mit der Fähigkeit auszustatten, Informationen aus der Umgebung aufzunehmen, diese mit vorhandenem Wissen zu kombinieren und daraus eigene Schlüsse zu ziehen. Auf Basis dieser Informationen soll das System selbstständig einen Weg vom aktuellen Zustand zum vorgegebenen Ziel finden.
Im Unterschied zu konventionellen Regelungsprozessen, deren anwendungsspezifische Programmierung aufwändig ist, liegt die Herausforderung bei kognitiven Systemen in der Gestaltung der Modelle, in denen alle Möglichkeiten des Systems hinterlegt sind. Diese Modelle bestimmen maßgeblich die Entwicklungszeit der Prozesse, wobei sich der Gesamtaufwand durch Wiederholverwertung reduzieren lässt.
Während sich ein Teil der Forscher damit beschäftigt, die bestmöglichen Algorithmen zu erarbeiten, erforschen Kognitionswissenschaftler menschliche Fähigkeiten und übertragen diese auf technische Systeme. „Unser Ziel ist eine hohe Flexibilität der Fertigung bei gleichzeitig hoher Produktivität. Das erfordert ein hohes Maß an Intelligenz im System selbst“, sagt Florian Geiger. „Eine der großen Schwierigkeiten auf dem Weg dorthin liegt heute noch in der enormen Datenfülle, die es schnell und zuverlässig aufzunehmen, zu verarbeiten und anschließend wieder in den Steuerungsablauf zurückzuführen gilt.“ Geiger ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am iwb und forscht unter Leitung von Prof. Michael Zäh an kognitiven technischen Systemen.
Einen vielversprechenden Ansatz sehen die Bayern in der Berücksichtigung aktueller Bauteilinformationen im Produktentstehungszyklus. Durch die Integration von RFID-Transpondern auf oder in den Bauteilen können Produkte im Produktionsprozess verfolgt und fertigungsrelevante Daten direkt am Bauteil hinterlegt werden. Das löst die heute noch vorhandene physische Trennung von Bauteil und bauteilspezifischen Informationen auf und ermöglicht, das individuelle Produkt zur Feinsteuerung der Produktion zu nutzen. Voraussetzung dafür ist die modulare Gestaltung und Beschreibung des Produktionsprozesses. „Durch die dezentrale Datenspeicherung wird das System viel flexibler. Die Reihenfolge der Abarbeitung muss nicht im Voraus festgelegt werden, vielmehr sagt das jeweilige Werkstück der Maschine, welche Bearbeitungen sie durchführen muss.“
Die auf dem RFID-Transponder gespeicherten Daten können zudem genutzt werden, um die Produktionsplanung zu aktualisieren. Die bisher statische Datenbasis der Produktionsplanungssysteme lässt sich so kontinuierlich an aktuelle Bedingungen anpassen, und das führt zu besseren Planungsergebnissen.
Einen Schritt weiter geht das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi) geförderte Forschungsprojekt RAN (RFID-based Automotive Network). Die beteiligten Wissenschaftler entwickeln innovative Methoden und Systeme, um komplexe, unternehmensübergreifende Produktions- und Logistikprozesse effizient zu steuern. Das Ziel ist ein kombiniertes Datenmanagement, in dem produktspezifische Informationen dezentral auf RFID-Transpondern gespeichert, auftragsspezifische zentral in unternehmensinternen Datenbanken hinterlegt sind.
Forschungsbedarf sieht Geiger unter anderem noch im Bereich Sicherheit – und zwar sowohl hinsichtlich der Prozesssicherheit als auch in Bezug auf die Sicherheit von Mensch und Material. „Bei Fehlfunktionen eines Informatiksystems bleibt es meist bei einer Fehlermeldung. In der Produktionstechnik werden zum Teil erhebliche Massen bewegt. Kommt hier ein Signal um den Bruchteil einer Sekunde zu spät, kann das erhebliche materielle oder – im schlimmsten Fall – gesundheitliche Schäden für beteiligte Menschen zur Folge haben. Daher hat die Sicherheit eine ganz andere Bedeutung als etwa bei Assistenzsystemen wie SIRI beim iPhone 4S“, erläutert Geiger.
Deshalb könne die Fertigungstechnik zwar auf bestehenden Methoden aufbauen, die beispielsweise die Informatik seit den 1980er-Jahren erfolgreich einsetzt, diese seien jedoch umfangreich anzupassen, betont der Forscher. Vom Umfang und Aufwand dieser Adaption hänge wesentlich ab, wann kognitive Systeme für die Fertigungstechnik industrietauglich sein werden. „Ich rechne damit, dass es noch zehn bis zwanzig Jahre dauern wird, bis wir eine kognitive Fabrik in der Praxis erleben.“
Als nächste Schritte nennt der Diplomingenieur das Übertragen erster im Labor gewonnener Erkenntnisse in die Praxis. Neben der Technik sieht er dabei auch den menschlichen Aspekt: „Noch misstrauen zu viele Menschen technischen Systemen, die selbstständig handeln. Hier müssen positive Erfahrungen Vertrauen schaffen.“
Auch wenn kognitive Systeme künftig breit verfügbar sein sollten, wird es weiterhin Situationen geben, in denen klassische Steuerungssysteme wirtschaftlich sinnvoller sind. Wichtigste Entscheidungskriterien sind die anwendungsspezifisch nötige Flexibilität und der für die Entwicklung der Prozesse erforderliche Aufwand. Fertigungssysteme, die immer wieder an sich ändernde Situationen angepasst werden müssen und aufwändig zu projektieren und entwickeln sind, profitieren von kognitiven Lösungen. Für starr verkettete Anlagen und einfache Regelaufgaben reichen klassische Steuerungsmodelle meist aus.
Kognitive Lösungen sollen den Menschen sowohl in der Entwicklung als auch im Betrieb technischer Systeme entlasten. Das gilt besonders dort, wo komplexe Abläufe nicht mehr ohne Weiteres zu überblicken sind. Doch ob derartige Lösungen auch für kleinere Betriebe in der Einzelteil- oder Kleinserienfertigung bezahl- und beherrschbar sein werden, mag Geiger derzeit noch nicht beantworten. „Man darf nicht vergessen: Es geht nicht nur um Hard- und Software. Auch das Einarbeiten und Pflegen firmen- und prozessspezifischer Daten ist aufwändig. Aber nur so lässt sich das Potenzial ausschöpfen.“ Um die Beherrschbarkeit zu sichern, müsse der Aktionsradius, innerhalb dessen sich die Systeme selbst optimieren dürfen, begrenzt bleiben und der Mensch nach wie vor die Möglichkeit haben einzugreifen.
Geiger betont: „Der Mensch wird auch in einer kognitiven Fabrik eine wichtige Rolle spielen. Es geht keineswegs darum, ihn zu zu verdrängen. Vielmehr soll die Technik helfen, Prozesse zu beherrschen, die künftig die Grundlage bilden können, Produktion in Deutschland zu halten.“
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