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Von der erfahrungs- hin zur wissensbasierten Teilereinigung

Teilereinigung
Auf dem Sprung vom erfahrungs- zu wissensbasiertem Reinigen

Die vom FiT ins Leben gerufene Forschungsinitiative QSRein 4.0 soll der industriellen Teilereinigung den Weg in eine vernetzte Zukunft ebnen. Ein Projekt von Mafac und SEW Eurodrive zeigt, welche Herausforderungen dabei zu meistern sind und welche Chancen die Digitalisierung der Branche bietet. ❧

Mona Willrett

„Wir müssen die Reinigungstechnik auf eine neue Stufe heben“, sagt Prof. Lothar Schulze. Die Voraussetzung dafür sei der Wandel von der erfahrungs- hin zur wissensbasierten Prozessführung. „Das geht aber nur, wenn wir die Prozesse systematisch untersuchen, Daten sammeln, sie analysieren und so aufbereiten, dass sie digital nutzbar sind.“ Im Herbst 2017 wollte der Vorstandsvorsitzende des Fachverbands industrielle Teilereinigung (FiT) von seinen Mitgliedern wissen, wer sich in der Lage sehe, nach Industrie 4.0-Grundsätzen zu arbeiten und Leistungen entsprechend zu dokumentieren. Das Ergebnis: Die Branche traute sich das mehrheitlich nicht zu.

Nachdem viele Betriebe das Thema Industrie 4.0 lange Zeit ignoriert hatten, stellte der FiT im Januar 2018 das Konzept der Forschungsinitiative QSRein 4.0 vor, das konkrete Anwendungen aus der Reinigungstechnik ins Zentrum stellte. Mitgliedsunternehmen sollten anwendungsorientierte Industrie 4.0-Lösungen erarbeiten, die dem Anwender einen echten Mehrwert bieten und zudem die Basis schaffen, um die Reinigung mit vor- und nachgelagerten Prozessen digital zu vernetzen.

Mit drei Schritten in die Zukunft

Die geplanten Aktivitäten waren in drei Teilschritte gegliedert. Zunächst galt es, empirische Prozesse mithilfe verfügbarer Anlagen-, Mess- und Analysetechnik so zu optimieren, dass sie sich systematisch betreiben lassen. Dann sollten neue Sensoren und Messsysteme entwickelt und in die Anlagen integriert werden, die helfen, unterschiedlichste Verschmutzungen – von filmisch bis partikulär – zu beherrschen. Und schließlich sollten innovative Lösungen für eine anpassungsfähige Reinigung entstehen. Die Idee überzeugte und animierte dazu, an Projekten mitzuarbeiten – oder gleich selbst ein Entwicklungsvorhaben anzustoßen.

„QSRein ist eine Art Kompass, der die Richtung vorgibt, wie sich die Prinzipien von Industrie 4.0 in die Reinigungstechnik implementieren lassen“, sagt Schulze. „Fast alle namhaften Unternehmen sind heute in dieser Richtung aktiv“, ergänzt er stolz. Da es sich dabei in der Regel um private, nicht staatlich geförderte Projekte handelt, sind die Akteure weder an eine fixe Laufzeit gebunden, noch zur transparenten Kommunikation ihrer Erkenntnisse verpflichtet. Das erarbeitete Know-how steht zunächst nur den Projektpartnern zur Verfügung. Die Allgemeinheit profitiert dennoch – auf den jährlichen Fachtagungen des FiT werden Projektergebnisse vorgestellt und die beteiligten Unternehmen lassen das neue Wissen sukzessive in kommende Systeme einfließen. So zum Beispiel auch der Reinigungsanlagenhersteller Mafac, der an einem Projekt mit SEW Eurodrive beteiligt ist.

Verifizierte Daten sind schwierig zu bekommen

Auch der Antriebstechnik-Hersteller musste feststellen, dass verifizierte Daten nicht einfach zu bekommen sind. Deshalb starteten die Verantwortlichen in der Getriebegehäuse-Produktion von SEW gemeinsam mit Mafac und weiteren Partnern – darunter Petrofer als Lieferant des Reinigers und des eingesetzten Additivs, sowie der Sensorhersteller Sensaction – ein Projekt, das den Einfluss der Badqualität und des Reinigungsprozesses auf das Ergebnis der nachgelagerten Lackierung untersucht. „Um eine gleichbleibend gute Haftung des 1K-Hydrolacks auf den Aluminiumgehäusen zu gewährleisten, müssen wir eine hohe Reinigungsqualität und – als Voraussetzung dafür – eine konstant gute Badqualität sicherstellen“, sagt Roland Denefleh. „Um das bestmögliche Endergebnis zu erzielen, müssen Lacksystem und Reinigungschemie kompatibel und der Reiniger exakt dosiert sein“, erläutert der Leiter Technologieentwicklung Oberflächenbeschichtung bei SEW. Und Ulrike Kunz, Leiterin des Technical Centres beim Reinigungsmedienhersteller Surtec, bestätigt: „Damit jedes Bauteil zuverlässig sauber aus der Anlage kommt, muss das im Reinigungsverlauf verbrauchte Tensid stets exakt nachdosiert werden.“ Dazu müsse der Anwender jedoch kontinuierlich die Badqualität überwachen, und das scheitere oft an den Kosten.

Die Basis für vernetzte Prozesse

Weitere Projektziele waren eine verbesserte Maschinenverfügbarkeit sowie das umfassende Sammeln von Prozessdaten, aus denen Korrelationen zwischen Reinigungs- und Bauteilqualität abgeleitet werden können – und damit erste Standards fürs digitale Vernetzen der Prozesse.

Dass sich die Branche intensiv mit dem Thema Industrie 4.0 auseinandersetzt, sieht auch Frank-Holm Rögner als Verdienst der Initiative QSRein 4.0. Der Sprecher von Fraunhofer Reinigung betont: „Wenn die Reinigungsbranche am Markt attraktiv bleiben will, muss sie sich in die fertigungstechnische Prozesskette auch digital integrieren lassen.“ Und um Industrie 4.0-tauglich zu sein, müsse man sich auch auf gemeinsame Schnittstellen einigen. Nur so könne sich ein Anwender darauf verlassen, dass eine neue Anlage problemlos ins Produktionssystem einzubinden ist. Eine Chance, das mit überschaubarem Aufwand zu realisieren, bieten die standardisierten Kommunikationsmodule der Umati-Community.

Pilotanlage liefert belastbare Daten

Im April 2019 installierte Mafac eine Pilotanlage am SEW-Standort Forbach in Frankreich. Zu ihr gehören zwei Spritzreinigungsmaschinen des Typs Mafac Kea mit Einbad-Technik, die mittels Roboter mit der Bearbeitungsmaschine verbunden sind. Die im Dreischichtbetrieb produzierten Aluminiumgehäuse durchlaufen vor dem Lackieren einen zweistufigen Reinigungsprozess. Weil dabei zahlreiche Einflussfaktoren wirken, die teils noch unbekannt, schlecht greifbar oder nicht vertrauenswürdig sind, bot die Ausgangssituation reichlich Gelegenheit für Industrie 4.0-orientierte Untersuchungen. Zu klären war unter anderem,

  • welchen Einfluss bestimmte Verschmutzungsarten auf die Lackhaftung haben,
  • wie es effizient gelingt, die Badqualität konstant auf hohem Niveau zu halten,
  • und wie sich der Reinigungsprozess schnell und zielgerichtet an sich ändernde Anforderungen anpassen lässt.

„Zunächst mussten wir die technischen Voraussetzungen schaffen, um die erforderlichen Daten erfassen und auswerten zu können“, erzählt Thomas Gutmann, Leiter Customer Support bei Mafac. Dabei habe die erste Herausforderung schon darin bestanden, die relevanten Einflussfaktoren überhaupt zu identifizieren. Danach baute Mafac die erforderliche Mess- und Analysetechnik auf. Dazu konzipierten die Alpirsbacher ein Pflegemodul, das mit beiden Kea-Anlagen gekoppelt ist und sowohl das Reinigungs- als auch das Spülbad überwacht. In dieses Modul integriert ist

  • ein vorgeschalteter Filter mit Messtechnik, die den Leitwert und die Reinigerkonzentration überwacht,
  • ein digitales Filtermonitoring,
  • ein dreifach-kaskadierter Ölabscheider mit mehreren Probeentnahmestellen,
  • eine verbrauchsorientierte Nachdosierung der Reinigerkomponenten sowie
  • die nötige Soft- und Hardware für den Anschluss ans SAP-System von SEW.

Prozess-, Anlagen- und Qualitätsinformationen, die das Pflegemodul direkt ermitteln kann, leitet die Maviatic-Steuerung der Mafac-Maschinen über das Ethernet ans zentrale Netzwerk von SEW weiter, das sie für die Auswertung speichert.

Gezielte Auswahl der Messverfahren erforderlich

Schnell erkannten die Spezialisten, dass verschiedene Messverfahren unterschiedliche Ergebnisse liefern. Also mussten sie die erfassten Informationen zur Badqualität und zur Oberflächensauberkeit zunächst überprüfen und herausfinden, welche Mess- und Analysetechnik sich überhaupt eignet. Eine weitere Herausforderung bestand darin, dass einige Analyseergebnisse direkt aus dem Prozess zur Verfügung standen, andere hingegen im Labor ermittelt werden mussten und erst Tage später vorlagen. „Als Vorstufe fürs automatisierte Digitalisieren nutzen wir deshalb einen hybriden Prozess, bei dem einzelne Analyseergebnisse manuell oder über einen QR-Code im Datensatz ergänzt werden“, erläutert Thomas Gutmann. Und Roland Denefleh ergänzt: „Der Nachtrag erfolgt immer mit Bezug zur Produktionszeit und zur Charge, so dass stets die korrespondierenden Informationen auf einen Blick zur Verfügung stehen.“ Auch händische Tätigkeiten, etwa der Wechsel eines Reinigerkanisters oder des Filters, werden noch manuell in die Datenbank eingetragen. Das System gleicht dann die ermittelten Werte mit den hinterlegten Grenzwerten ab.

SEW hat eigens ein Software-Tool entwickelt, das ein automatisiertes Reporting ermöglicht. Zeitverläufe der verschiedenen Parameter können in unterschiedlichen Diagrammen dargestellt werden.

Suche nach Korrelationen zwischen Bad- und Bauteilqualität

Nachdem die technische Basis gelegt und die Datenbank zwischen August 2019 und Juli 2020 gefüttert war, arbeiten die Spezialisten nun am nächsten Schritt in Richtung Industrie 4.0. „Jetzt suchen wir Korrelationen zwischen Badqualität, Bauteilsauberkeit und Lackhaftung“, berichtet Roland Denefleh. Allerdings seien die Ergebnisse noch nicht präzise genug, um klare Rückschlüsse zuzulassen. „Deshalb müssen wir die Untersuchungen detaillieren.“

Um herauszufinden, welches Analyseverfahren vertrauenswürdige Aussagen bezüglich der Badqualität zulässt, hat SEW zwei Reiniger mit unterschiedlichen Kühlschmierstoffen kontaminiert und anhand dieser Proben verschiedene Verfahren getestet. Die Ergebnisse differierten stark und waren unter anderem davon abhängig, ob ein mineralölbasierter oder ein synthetischer Kühlschmierstoff verwendet wurde sowie welcher Reiniger zum Einsatz kam. „Unsere Erkenntnis: Es gibt keine universelle Lösung, die immer passt“, sagt Denefleh. Nur ein auf die Anwendung abgestimmter Prozess liefere das bestmögliche Ergebnis.

Auf der Basis der bisherigen Erkenntnisse erlaubt das Pflegemodul von Mafac das automatische Nachdosieren des Reinigers bei zunehmender Kontamination des Bades. Zudem ist das Modul mit einem automatischen Ölabscheider ausgestattet. „Durch diese Maßnahmen konnten wir die bisherige Badstandzeit von zwei bis vier Wochen auf vier bis fünf Monate ausdehnen“, verrät Denefleh. Er schätzt, dass sein Team in drei bis vier Monaten soweit ist, im Sinne von Predictive Maintenance einen notwendigen Badwechsel zuverlässig vorherzusagen.

Automatischer Badwechsel ist technisch schon möglich

Selbst die Technik für einen automatisierten Badwechsel ist laut Thomas Gutmann verfügbar. „Was uns aber noch fehlt, ist das Wissen um die Stellschrauben und wie stark wir an ihnen drehen müssen, um die gewünschten Effekte zu erzielen.“ Die Messtechnik biete zwar bereits viele Möglichkeiten, „aber um den Prozess zu optimieren, brauchen wir einfachere und kostengünstigere Lösungen“, sagt Gutmann. Die Erkenntnisse aus dem SEW-Projekt fließen bei Mafac bereits in überarbeitete Anlagen ein.

Aufwändige und teure Sensorik bremst noch

Zu aufwändige und zu teure Technik bremst auch die Spezialisten von Surtec. Sie denken darüber nach, Medien so zu designen, dass ein Sensor gezielt nur auf diesen Reiniger reagiert. „Ein solches System steht und fällt aber mit der passenden Sensorik, die sowohl zuverlässig als auch wirtschaftlich sein muss“, schränkt Dr. Maximilian Donath vom internationalen Projektmanagement bei Surtec ein.

Bis sich Reinigungssysteme nach Industrie 4.0-Grundsätzen vernetzen lassen, sei noch ein Stück Weg zu gehen, gibt Frank-Holm Rögner zu bedenken. „Reinigungsprozesse in automatisierte und digitalisierte Abläufe einzubinden, ist deutlich schwieriger, als Prozesse mit modernen Werkzeugmaschinen zu vernetzen.“ Das liege zum einen zwar auch daran, dass die Reinigungsbranche in Sachen Digitalisierung noch mit angezogener Handbremse unterwegs ist. Andererseits sei es noch schwierig und aufwändig, die erforderlichen Daten zu erfassen, belastbar zu analysieren und automatisiert in den Prozess einzugreifen. Um hier die nötige Basis zu schaffen, arbeiten auch die Fraunhofer-Forscher daran, die fehlende Sensorik zu entwickeln, die Digitalisierung auszubauen und künstliche Intelligenz für die Datenauswertung nutzbar zu machen.

Neues Denken ist gefragt

Seit Start der Initiative QSRein sehen Lothar Schulze und Frank-Holm Rögner signifikante Verbesserungen. Wichtig sei der Fortschritt in den Köpfen. „Sowohl bei den Anlagen- und Systemanbietern als auch bei den Anwendern brauchen wir neue Denk- und Herangehensweisen“, sagt Schulze. „Die Branche muss weg vom Rezepturdenken, hin zu einem Prozessdenken, das in anderen Bereichen der Fertigungstechnik längst üblich ist.“ Aber auch die Anlagen-, Mess- und Steuerungstechnik habe sich enorm entwickelt. Und nicht zuletzt seien Richtlinien und Literatur entstanden, die als Basis für die Weiterbildung dienen können.

Einig sind sich die befragten Experten, dass eine industrielle Teilereinigung, die sich selbst optimiert, noch in der Zukunft liegt. Das Vernetzen mit vor- und nachgelagerten Prozessen müsse zwar das Endziel sein, sei aber kurzfristig noch nicht umzusetzen.

Kontakt:

Mafac Ernst Schwarz GmbH & Co. KG
Max-Eyth-Straße 2
72275 Alpirsbach
Tel.: +49 7444 9509–0
www.mafac.de

SEW-Eurodrive GmbH & Co. KG
Ernst-Blickle-Str. 42
76646 Bruchsal
Tel.: +49 7251 75–0
www.sew-eurodrive.de

Fachverband industrielle Teilereinigung e.V.
Hauptstraße 7
72639 Neuffen
Tel.: +49 7025 8434–100
www.fit-online.org

Fraunhofer-Institut für Organische Elektronik, Elektronenstrahl- und Plasmatechnik FEP
Winterbergstraße 28
01277 Dresden
Tel.: +49 351 2586–242
www.reinigung.fraunhofer.de

SurTec Deutschland GmbH
Neuhofstraße 9
64625 Bensheim
Tel.: +49 6251 8622–200
www.SurTec.com

Aufbau der Pilotanlage bei SEW: Ein Roboter entnimmt dem Fräszentrum die bearbeiteten Getriebegehäuse und führt sie nacheinander den beiden Reinigungsanlagen zu. Bild: SEW
Um die Badqualität zu untersuchen, werden verschiedene Analysemethoden eingesetzt, die Hinweise über die Korrelation zwischen Badqualität und Bauteilsauberkeit liefern sollen. Bild: Mafac/SEW
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