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ECTA-Präsident Horn über die Zukunft der europäischen Werkzeugindustrie

Präzisionswerkzeuge
ECTA-Präsident Markus Horn über die EMO und die Zukunft der europäischen Werkzeugindustrie

Wie die europäischen Hersteller von Präzisionswerkzeugen die letzten anderthalb Jahre erlebt haben, welchen Herausforderungen sie sich aktuell stellen müssen und was für den künftigen Erfolg nötig ist, das sagt ECTA-Präsident Markus Horn.

» Mona Willrett, Redakteurin Industrieanzeiger

Herr Horn, welche Hoffnungen verbinden die ECTA-Mitglieder nach der langen Messepause mit der EMO?

Wir alle freuen uns darauf, endlich wieder ein Stück Normalität zu erleben, uns endlich wieder im persönlichen Gespräch austauschen zu können. Das war ja in den letzten anderthalb Jahren kaum möglich. Deshalb: Neben all den Neuheiten, die zu sehen sein werden, ist die soziale Komponente diesmal besonders wichtig.

Welche Trends werden die EMO prägen?

Aufgrund des politischen und gesellschaftlichen Wertewandels erleben wir einen Trend in Richtung grüner Technologien, Ressourcenschonung und Kreislaufwirtschaft. Die Themen Effizienz, Produktivität und Wirtschaftlichkeit bleiben auch in Zeiten von Corona und dem Streben nach Nachhaltigkeit aktuell. Ebenso die Digitalisierung. Außerdem steigen die Präzisionsanforderungen stetig.

Mit welchen Herausforderungen hat die Branche derzeit zu kämpfen?

Die Nachfrage ist groß, gleichzeitig sind die Lieferketten vielfach gestört. Das betrifft uns direkt und indirekt – etwa wenn wichtige Kunden ihre Produktion stoppen müssen, weil Teile und Komponenten fehlen. Dadurch haben wir eine volatile Nachfragesituation. Wir erleben schnelle Wechsel zwischen ‚Wir brauchen das unbedingt gestern‘ und ‚Liefert bitte doch erst in vier Wochen‘. Diese Unsicherheit erschwert eine verlässliche Planung. Und das vor dem Hintergrund der gestiegenen Nachfrage, Engpässen bei den Rohstoffen und steigenden Preisen. Das hat unter anderem zur Folge, dass sich viele verstärkt nach lokalen Quellen umschauen und versuchen, alte Kontakte wiederzubeleben, statt global zu beschaffen. Hinzu kommt, dass nach wie vor Reisebeschränkungen – insbesondere in die USA oder nach China – das Geschäft behindern.

Wie stark macht sich der Wertewandel zu mehr Nachhaltigkeit bemerkbar?

Präzisionswerkzeuge sind ein Schlüsselelement in der Industrieproduktion. Obwohl sie einen relativ kleinen Anteil an den Fertigungskosten eines Produkts ausmachen, bieten sie in vielen Fällen einen großen Hebel, um die Fertigungskosten und die Effizienz zu optimieren. Wer seine Prozesse clever auslegt, der kann die eine oder andere zusätzliche Bearbeitungsmaschine einsparen. Das Thema Nachhaltigkeit ist beispielsweise in unserem Unternehmen, der Paul Horn GmbH, seit Jahrzehnten Teil der Firmenphilosophie. Bei den meisten unserer Kollegen in Europa ist das ähnlich. Fast alle sind auf einem hohen Niveau, wenn es um den schonenden Umgang mit Ressourcen und Energie oder – wo möglich – das Betreiben einer Kreislaufwirtschaft geht.

Wie sieht´s diesbezüglich in anderen Weltregionen aus?

In Europa streben wir ja an, möglichst schnell unseren gesamten Energiebedarf regenerativ zu decken. Es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Zeit wir das schaffen. Gleichzeitig müssen wir uns aber auch bewusst sein, dass wir die Welt nicht retten, wenn wir Deutschland oder Europa deindustrialisieren. Im Gegenteil. Wir würden dadurch die Chance vergeben, mit unserer Technologie weiterhin einen positiven Beitrag zu dieser Transformation in der Welt zu leisten. Der Energiehunger ist so groß, dass manche Länder gar keine Chance haben, ihren Bedarf in absehbarer Zeit CO2-neutral zu decken. Die Menschen dort haben andere Prioritäten als Umweltschutz. Selbst in China gehen noch immer neue Kohlekraftwerke in größerem Umfang ans Netz.

Was müsste sich ändern?

Für uns ist es ohnehin wichtig, immer effizienter und sauberer zu werden. Trotzdem muss man sehen, dass die politisch vorgegebenen Ziele sehr ambitioniert sind. Hinzu kommt, dass aktuelle Vorgaben die Umsetzung mitunter massiv erschweren. An mancher Stelle gäbe es bessere Lösungswege, die aber von der Politik behindert oder verbaut werden. Ein Beispiel ist die strikte Fixierung auf die Elektromobilität. Hier wünschen wir uns mehr Offenheit für alternative Lösungen, die in bestimmten Einsatzszenarien unterm Strich vermutlich günstiger wären – etwa ein Verbrennungsmotor mit synthetischen Kraftstoffen. Die europäische Industrie kann mehr, wenn man sie denn lässt.

Wie reagieren andere Regionen auf die aktuellen Herausforderungen?

Wir sind in Europa in einer privilegierten Situation. In anderen Regionen hat eine Milliarde Menschen noch immer keinen ausreichenden Zugang zu Trinkwasser. Geschweige denn, dass es dort ein stabiles Stromnetz gäbe. Diesen Menschen zu sagen, sie müssten E-Autos fahren, ist illusorisch. Wir brauchen einen cleveren Mix aller verfügbaren Technologien. Wir sollten nicht aus Europa heraus versuchen, die Welt zu belehren. Und wir müssen vermeiden, dass überzogene Vorgaben wichtige Unternehmen motivieren, mit ihrer Technologie aus Europa abzuwandern. Denn dann werden uns hier bald die technologischen und die finanziellen Mittel fehlen, die wir brauchen, um eine grüne Zukunft zu gestalten.

An welche Vorgaben denken Sie hier?

Ein Beispiel ist das deutsche Sorgfaltspflichtengesetz. Es wurde in diesem Jahr nach überraschend kurzen Diskussionen verabschiedet. Dieses Gesetz verlangt von uns, die Einhaltung der UN-Menschenrechts-Charta für Lieferanten und Kunden nachzuweisen und zu dokumentieren. Frankreich hat schon seit 2017 ein derartiges Gesetz, ist aber bei dessen Formulierung pragmatischerer vorgegangen. In Deutschland haben wir ein Lieferkettengesetz und damit wieder einmal ein Bürokratiemonster geschaffen, das jedem international tätigen Unternehmen enorme Hürden in den Weg stellt. Es ist schon schwierig, seine Lieferanten zu auditieren. Aber spätestens, wenn man die Lieferanten der Lieferanten einbeziehen muss, wird´s richtig heftig. Es ist doch eher die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte eingehalten werden.

Wie geht´s der deutschen und der europäischen Werkzeugbranche aktuell?

Ende letzten Jahres zeichnete sich bereits eine Erholung ab. Das erste Halbjahr 2021 lief erfreulich gut. Die Herausforderungen entlang der Lieferkette und die damit verbundenen Kostensteigerungen bremsen den Aufschwung etwas. In Europa entwickeln sich wichtige Kundenbranchen gut, allen voran die Automobilindustrie. Auch die Medizintechnik oder der Maschinenbau wachsen wieder. Die Luftfahrtindustrie wird sicher noch eine Weile brauchen, um sich zu erholen. Bis wir das Vor-Corona-Niveau wieder erreichen, wird noch Zeit ins Land gehen – auch wenn einige Unternehmen optimistisch sind, die 2019er-Zahlen 2021 wieder zu erreichen.

Wie unterscheidet sich die Situation in den Teilbranchen?

Wir merken, dass es in Summe wieder aufwärts geht. Aber das Investitionsverhalten ist noch etwas gebremst. Das heißt: Die Zerspanwerkzeuge entwickeln sich sehr positiv, die Spannzeuge noch verhaltener. Wenn wir aber den Auftragseingang der Werkzeugmaschinenhersteller betrachten, dann erwarten wir auch hier eine baldige signifikante Belebung.

Wie unterscheiden sich die Entwicklungen in den europäischen Ländern?

Insgesamt entwickelt sich Europa positiv, was nach einem Jahr wie 2020 wirklich zu hoffen war. Natürlich erleben wir regionale Unterschiede. In Italien laufen die Geschäfte sehr gut. Auch Spanien entwickelt sich gut. Etwas schwieriger ist die Situation in Frankreich, das ja traditionell stark von der Luftfahrt abhängt. Großbritannien ist weniger durch Corona gehemmt als durch den Brexit und die damit verbundenen bürokratischen und organisatorischen Hürden, die von den Brexit-Befürwortern unterschätzt wurden.

Vor einem Jahr sagten Sie, die Erfahrungen aus der Corona-Zeit böten auch Chancen. Inwieweit ist es gelungen, diese Chancen zu nutzen?

Viele Unternehmen waren in den letzten anderthalb Jahren sehr aktiv − mit unterschiedlicher Wirkung. Wenn ich hier unser eigenes Haus betrachte: Wir haben neue Produkte entwickelt, die Effizienz unserer Prozesse verbessert, unsere interne Kommunikation optimiert und auch eine digitale externe Kommunikation aufgebaut. Allerdings haben nicht alle Kunden und Partner diese neuen Kanäle und Möglichkeiten in gleichem Maß akzeptiert. So ähnlich ist das sicher auch in den anderen Unternehmen gewesen. Einiges, was wir ausprobiert haben, war gut, anderes wird wieder einschlafen. Auf alle Fälle hat diese Zeit der Digitalisierung einen ordentlichen Schub verliehen.

Wie haben diese Erfahrungen die Branche und das Geschäft verändert?

Wir spüren sowohl intern als auch in der Kommunikation mit unseren Partnern und Kunden, dass sich alle freuen, endlich wieder in den direkten Dialog treten zu können. Ein wesentliches Merkmal unserer Branche ist, dass wir uns mit unseren Kunden zusammensetzen und gemeinsam Lösungen für Fertigungsprobleme erarbeiten. Wir haben in den letzten anderthalb Jahren gelernt, wie wichtig hier das persönliche Gespräch ist. Natürlich waren wir in dieser schwierigen Zeit froh über virtuelle Messen und Veranstaltungen. Als Notnagel war das gut. Und es wird sicher auch das eine oder andere Bestand haben. Andererseits ist auch deutlich geworden, wie wichtig soziale Kontakte und der persönliche Austausch sind. Das können virtuelle Treffen einfach nicht in dem Maß leisten, wie man sich das wünscht. Deshalb sind wir froh, dass wir nun langsam wieder zurück finden zu persönlichen Treffen und zu Präsenzmessen – wie jetzt der EMO.

Welche weitere Entwicklung erwarten Sie in absehbarer Zeit?

Wir erleben eine Zeit der Deindustrialisierung. Die Frage ist, wie viele Arbeitsplätze wir dabei erhalten können. Der Wettbewerb bleibt global und wird schärfer. Wir werden um Marktanteile kämpfen müssen. Dazu müssen wir die Chancen ergreifen, die sich durch neue Technologien und nachhaltiges Wirtschaften ergeben. Davon hängt die Zukunft der europäischen Wirtschaftsstandorte ab.

Kontakt:

ECTA – European Cutting Tools Association
c/o VDMA Präzisionswerkzeuge
Lyoner Strasse 18
60528 Frankfurt/Main
Tel: +49 69 6603 1467
ecta@vdma.org
www.ecta-tools.org

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