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Guter Wille ist zu wenig

LeichtbauWerkstoffe: Gefragt, aber schwer zu zerspanen
Guter Wille ist zu wenig

Die angenehme Nachricht zuerst: Composites und Titan sind weiter auf dem Vormarsch. Für Luftfahrt, Windkraft-, Kfz- und Medizintechnik schafft das kreative Freiheit. Auch die Präzisionswerkzeuge kommen mit den leichten, wenn auch schwierig zu spanenden Materialien immer besser zurecht. Und jetzt die Essigtropfen im Schaumwein: Zum einen fehlt oft Bearbeitungs-Know-how, zum anderen ist das Gros der Werkzeugmaschinen technisch überfordert. Fertiger, die ihr Repertoire auf Leichtbaustoffe ausweiten wollen, haben handfeste Probleme.

Kennen Sie den Leidenfrost-Effekt? Nein, oder zumindest: nicht wirklich? Kein Problem, tröstet Peter Müller-Hummel. „Um die Tücken der Titanbearbeitung zu verstehen, reicht es fürs erste völlig aus, sich das Phänomen von auf der Herdplatte tänzelnden statt verdampfenden Wassertröpfchen vorzustellen“, erläutert der promovierte Ingenieur, der beim Aalener Präzisionswerkzeughersteller Mapal Dr. Kress KG für die Business Unit Aerospace zuständig ist. Sei die Temperatur einer Oberfläche so hoch, dass die aufgetragene Flüssigkeit – im Fall der Titanzerspanung: der Kühlschmierstoff – als erstes ein kleines Dampfpolster bilde, dann gleite sie zunächst auf diesem Kissen hin und her und die Wärmeübertragung sei unterbunden.

Der Physiker Johann Leidenfrost hatte solch zeitlich gedehnte Änderungen des Aggregatzustands erstmals 1756 beschrieben. Müller-Hummel hat fast täglich mit dem Phänomen zu tun. „Wo Titan bearbeitet wird, gehen fast drei Viertel der Prozesswärme auf die Schneide. Entsprechend muss die Werkzeugmaschine so ausgerüstet sein, dass der Kühlschmierstoff hinreichend druck- und volumenstark an die Wirkzone kommt und Energie wie auch Späne abgeführt werden.“
Tatsächlich steigen die Temperaturen hier je nach Schnittbedingung auf 1200 bis 1600 °C. In den Randzonen sind es immer noch zwischen 800 und 1200 °C. Deshalb kommt der Schmierstoff bei einem Druck von 120 bar zwischen Span und Schneide eindeutig besser zur Wirkung als bei 20 oder 30 bar. Insoweit gelte unumschränkt der Grundsatz: „Viel hilft viel“, sagt Müller-Hummel. Und zwar beim Kühlen und Schmieren wie bei der Werkzeugqualität.
Bei 4,5 g/cm³ halb so schwer wie Eisen, legiert mit bis zu 895 N/mm² Zugfestigkeit aber ein Drittel zäher als Stahl, verhalte sich Titan beim Spanen fast wie Gummi, erklärt Anwendungsforscher Peter Uttenthaler von der Luxemburger Ceratizit S.A. „Zunächst gibt es der Werkzeugschneide nach, drückt dann aber wieder gegen die Schnittrichtung zurück.“ Das Ergebnis bei der Bearbeitung mit konventionellen Tools seien hohe Temperaturen und Diffusionsvorgänge zwischen Werkstück und Schneide. Oder anders ausgedrückt: ein überaus rascher Werkzeugverschleiß. Hinzu kommen die langen Späne. Werden sie nicht per Kühlschmiermittel gebrochen und abgeführt, wird Serienfertigung schwierig bis unmöglich.
Den meisten Lohnfertigern hilft solche Erkenntnis wenig. Betriebe, die bislang vorrangig Stähle bearbeiten und ihr Programm in der Krise ausweiten wollen auf boomende Materialien wie Titan, aber auch auf Glas- und Kohlenstofffaser-verstärkte Kunststoffe oder gar deren Verbund, fehlt es schlicht an der Technik: Kühlschmierstoff unter 30 bar firmiert oft schon als Hochdruck, 100 bar als galaktische Größe. Mehr geben die Werkzeugmaschinen hier in der Regel nicht her. Lediglich Unternehmen, die den Strahl auch zum Entgraten ihrer Teile nutzen, sind auf höhere Drücke vorbereitet.
Weniger Sorgen machen die Drehzahlen. Weder für Titan noch Composites tun Rekordwerte Not. Bei CFK und GFK liegt die wirtschaftliche Schnittgeschwindigkeit zwischen 400 und 600 m/min, bei Titanlegierungen sind es 40 bis 60 m/min. Allerdings muss das Drehmoment stimmen (siehe Kasten „Nachgefragt“).
Gezieltes Nachrüsten könnte sich rechnen. Gerade in der Luftfahrt, der Windkraft- und Medizinbranche wie auch in der Nahrungsmitteltechnik oder Outdoor-Ausrüstungsbranche legen die neuen Leichtbaustoffe deftig zu. Nach Untersuchungen des Instituts für Fertigungstechnik und Werkzeugmaschinen (IFW) an der Universität Hannover wird sich der Anteil von Titan in Flugzeugen der kommenden Generation gegenüber heute verdoppeln. In Maschinen wie Boeings 787 und dem A350 von Airbus etwa macht das Metall zwischen 15 und 20 % des Konstruktionsgewichts aus und läuft Aluminium als Leichtbaumetall den Rang ab. Der Stahl-Anteil sinkt auf 10 % und darunter, der von Verbundwerkstoff steigt auf 50 % und mehr.
Titan und die Composites kommen im Gleichschritt daher. Dafür sieht Institutschef Berend Denkena den Hauptgrund im Erfolg der 1,55 g/cm³ leichten Kohlenstofffaser-verstärkten Kunststoffe. Bedingt durch den elektrochemischen Potenzialunterschied, führe der Kontakt von CFK mit Aluminium jedoch zu Korrosion. Bei der Kombination CFK/Titan hingegen sei die Potenzialdifferenz auf ein Fünftel reduziert. Genau dies mache das Materialpaar für die Luftfahrt interessant.
Ähnlich ist die Lage in der Windkrafttechnik: Auch hier bauen die Hersteller stetig höher, größer und leistungsstärker. Damit nimmt die Nachfrage der zwischenzeitlich auf 8 Mrd. Euro Jahresumsatz gewachsenen deutschen Branche nach Leichtbaustoffen weiter zu. Wie für die Luftfahrt, rechnen Forscher auch hier mit einer rasanten Zunahme von CFK plus Titan.
Für die seit Jahren gradlinig wachsende Medizintechnik werden aus Titan gut sterilisierbare und allergisch unbedenkliche Instrumente gefertigt. Zudem taugt der Werkstoff als Implantat. Er verhält sich inert zum Körpergewebe, weist de facto keinen Magnetismus auf und empfiehlt sich damit auch für den Einsatz in der Kernspintomographie. Allerdings ist die Herstellung geometrisch komplexer, kleiner Teile teuer und aufwendig. Dies hat den Einsatz auch hier bislang eingeschränkt.
Die Wertschöpfung dieser von der Rezession bislang wenig lädierten Industrien ist flach und Auftragsvergabe der Standard. Für Lohnfertiger, die bislang im zweiten und dritten Glied der Automobilzulieferer standen, aber auch für Werkzeugbauer aus diesem Umfeld, ergibt sich insoweit eine kaum zu ignorierende Chance.
Anbieter wie Mapal, Ceratizit und Branchensaurier wie Kennametal und die Gruppe Sandvik entwickeln bereits seit Jahren Werkzeuge, die die Bearbeitung von Titan und Composites wirtschaftlich machen sollen. „Entscheidend für den Nutzen dieser Tools ist, dass hochwarmfestes Hartmetall als Substrat eingesetzt wird“, erläutert Peter Müller-Hummel von Mapal die Feinheiten. Andernfalls könnte das Titan mit dem Werkzeugsubstrat kaltverschweißen.
Das Resultat wären Aufbauschneiden, die die Werkzeugoberfläche ruinieren und es sich ein ständiger Wechsel aus Anhaften und Abreißen ergibt. Wie die Tools im Einzelnen beschichtet sind, ist nachrangig: Der Anfangsverschleiß bei der Titan-Zerspanung ist oft größer als die Dicke der Schicht. Folgenreicher für die Prozess- und Qualitätssicherung ist, dass der Kühlschmierstoff unter Hochdruck die Wirkstelle trifft. Bei den meisten jüngeren Bearbeitungszentren ist dies unmittelbar durch die Spindel sowie durchs Werkzeug möglich. Alternative wird der Kühlschmierstoff direkt durch die Spannzange geschossen, so dass er sich wie ein Mantel um Werkzeug und Schneide legt und die Prozesswärme sicher abführt.
Soweit die richtigen Tools beschafft und die Schmierstoffpumpen auf Hochdruck getunt sind: Wäre Titanbearbeitung damit grundsätzlich auf jeder jüngeren Werkzeugmaschine möglich? Peter Müller-Hummel antwortet mit einem entschiedenen „Jein“: Unternehmen, die seit Jahren Titan und Composites bearbeiten, hätten ein enormes Know-how und Prozesswissen aufgebaut. Auch wenn sie auf ein und derselben Maschine, mitunter auch als Sandwich-Werkstück bearbeitet werden, seien Titan und Composites verschiedene Paar Schuhe.
Technische Nachrüstung allein reicht da kaum. So lässt sich die Zerspanung von Composites nur mit der Bruchmechanik verstehen. Das Material bricht kalt-spröde durch Druck und durch Risse. Dazu im Vergleich, wird das Bearbeiten von Metall mit Hilfe der Kontinuumsmechanik beschrieben: Hier verformt sich und bricht das Material heiß durch Druck und Temperatur. Des Weiteren trennt man bei CFK und GFK nicht allein ein – mehr oder minder – homogenes Material, sondern vielmehr ganze Lagen, Schichten und Zellenbereiche von Werkstoffen mit sehr verschiedener und äußerst abrasiver Konsistenz.
So war einer der Kardinalfehler der jüngeren Vergangenheit, Composites mechanisch genauso zu bearbeiten, als handle es sich jeweils um Metall. Titan wie auch die meisten anderen Ingenieurmetalle werden vorwiegend im Gleichlauf zerspant. „Vergleichbar der frisch aus dem Kühlschrank geholten Butter, die man mit angewärmtem Messer wesentlich besser schneidet als mit kaltem Metall, wird die Werkzeugschneide beim Eingriff ins Material dabei zunächst aufgewärmt“, sagt Müller-Hummel. In den Bereichen, die für die Oberflächengüte zuständig sind, habe die Schneide dann annähernd die Schmelztemperatur des Metalls erreicht. Die Spanbildung verläuft dann von dick nach dünn – ganz ähnlich einem Komma-Satzzeichen.
Bei CFK und GFK ergibt der Umkehrschluss Sinn: Im Gegenlauf bearbeitet, sollen Schneide und Wirkzone nach Möglichkeit kalt und die temperatur-empfindliche Matrix thermisch unbelastet bleiben. Dieses Prinzip sei immer noch wenig bekannt, respektive nicht hinreichend verstanden, bedauert der Mapal-Mann. Präzisionswerkzeuge mit Diamant-bestückten Hartmetallschneiden hätten bei diesen Werkstoffen eine messbar längere Standzeit als anders beschichtete Tools.
Nicht zuletzt solche Details könnten den Umstieg auf die Bearbeitung von Leichtbaustoffen erheblich erleichtern. Neue CFK- und GFK-Sorten, wie sie in den jüngsten Projekten der Luftfahrzeug-Hersteller eingesetzt werden, sind nämlich erheblich abrasiver als die bislang verwendeten Varianten.
Wolfgang Filì Journalist in Köln

Marktchancen
Die Fertigungstiefe in Luft- und Raumfahrt, Windkraft- und Medizintechnik ist nach wie vor gering. Die Wachstumsaussichten dieser Branchen hingegen sind trotz Krise gut. Was sie ferner verbindet, ist der rasante Verbrauchsanstieg von Leichtbaustoffen wie Titan, GFK und GFK. Lohnfertiger und Betriebe, die Alternativen zur gebeutelten Automobilbranche suchen, wären bestens bedient. Allerdings müssen sie die Tücken dieser Werkstoffe kennen.

Minimum 10 Nm je mm Durchmesser

Nachgefragt

Herr Speetzen: Ihr Rat zum Umstieg von Stahl auf Titan?
Im Grundsatz gibt es da wenig Unterschied. Aber man muss andere Stellschrauben drehen und auf Dämpfung, Werkzeuge nebst Aufnahme, die Kühlschmierstoffzufuhr sowie Drehmomente achten.
Das bedeutet im Einzelnen?
Als Faustregel gilt: Zehn Newtonmeter Drehmoment je Millimeter rotierendem Werkzeugdurchmesser. So könnte eine Maschine mit 300 Newtonmeter mit 100-Millimeter-Fräsern zerspanen. Entsprechend steif müssen Spindel und Aufnahme sein. HSK63 oder ISO50 sind das Minimum.
Wie wird kühlgeschmiert?
Bei 20 bar darf man kein Wunder erwarten. 70 Prozent der Wärme gehen in die Schneide. Bei Titan sind Druck und Volumen nötig. Minimalmengen führen weder die Energie noch die Späne ab.
Und die Zeitspanvolumina?
50 Kubikzentimeter pro Minute beim Schruppen sind Stand der Serien-Technik.
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