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Hart wie Stahl, doch leichter und intelligenter

Formgedächtnislegierungen punkten mit geringem Gewicht und vielfältigen Einsatzmöglichkeiten
Hart wie Stahl, doch leichter und intelligenter

Bei Formgedächtnislegierungen handelt es sich um intelligente Werkstoffe: Sie können sich nach einer Verformung an ihre ursprüngliche Gestalt „erinnern“. Bochumer Wissenschaftler erforschen, wie sich dieses Erinnerungsvermögen nutzen lässt.

Das Formgedächtnis beschreibt die Fähigkeit eines Werkstoffs, sich nach einer scheinbar bleibenden Verformung an seine ursprüngliche Gestalt erinnern zu können. Vor fast 80 Jahren wurde dieses Materialverhalten erstmals an einer Gold-Cadmium-Legierung beobachtet. Die Eigenschaften des Werkstoffs waren für den Einsatz in technischen Anwendungen jedoch nicht ausreichend. Das Formgedächtnis konnte in der Folge in einer Vielzahl von Materialien nachgewiesen werden.

Es findet sich in einigen Keramiken wie dem Blei-Zirkonat-Titanat. Polynorboren und Polyurethan sind die bekanntesten Vertreter unter den Formgedächtnispolymeren. Die größte Bedeutung haben jedoch metallische Formgedächtnismaterialien, da sie über das prägnanteste Eigenschaftsprofil hinsichtlich der strukturellen und funktionellen Eigenschaften verfügen. Zu diesen gehören unter anderem die Nickel-Titanlegierung Nitinol und Eisenplatin. Nitinol stellt bis heute das einzige, technologisch erfolgreiche metallische Formgedächtnismaterial dar. Neben der kommerziellen Verfügbarkeit liegt die Hauptursache in den guten mechanischen Eigenschaften und der damit einhergehenden Verarbeitbarkeit.
Die physikalische Grundlage des Formgedächtniseffekts ist eine martensitische Phasenumwandlung. Hierbei handelt es sich um eine Umwandlung zwischen den Kristallstrukturen Martensit (Tieftemperaturphase) und Austenit (Hochtemperaturphase). Diese Art der Umwandlung ist auch aus konventionellen Stahlwerkstoffen bekannt. Während sie bei Stählen jedoch von einer plastischen Verformung begleitet wird, ist sie in Formgedächtniswerkstoffen nahezu reversibel und begründet dadurch die Fähigkeit des Materials, seine Ursprungsform wieder einnehmen zu können.
Bei Nitinol sind drei Arten von Formgedächtniseffekten zu unterscheiden. Welcher Effekt konkret unter den vorliegenden Umgebungsbedingungen genutzt werden kann, hängt sowohl von der Legierungszusammensetzung als auch von den thermomechanischen Behandlungen während der Herstellung ab.
Beim Einwegeffekt wird der Werkstoff scheinbar plastisch verformt. Durch eine Erwärmung über eine kritische Temperatur nimmt er seine Ursprungsform wieder ein. Beim Zweiwegeffekt kann der Werkstoff zwischen zwei definierten Strukturen durch reine Erwärmung oder Abkühlung umwandeln. Die Strukturen müssen dem Material zuvor in einer festgelegten thermomechanischen Behandlung eintrainiert werden. Bei der Pseudoelastizität verfügt der Werkstoff über die Eigenschaft, reversible Verformungen von etwa 8 bis 10 % zu vollziehen. Herkömmliche Stähle erreichen dagegen nur elastische Dehnungen von etwa 0,1 %.
Die Herstellung von Nitinol-Formgedächtnislegierungen erfolgt über schmelzmetallurgische Methoden wie das Vakuuminduktionsschmelzen oder das Vakuumlichtbogenschmelzen, wobei aufgrund der Oxidationsneigung von Titan zumindest unter Schutzgasatmosphäre gearbeitet werden muss. Zudem sind besondere Vorkehrungen hinsichtlich der Chargierung des Materials und der Rohmaterialvorbereitung zu treffen.
Ursache dafür ist, dass die so genannten Phasenumwandlungstemperaturen, welche für den Einsatz eine sehr wichtige Rolle spielen, stark von der chemischen Zusammensetzung abhängen. Bereits geringste Verunreinigungen an Sauerstoff, Kohlenstoff oder anderen Fremdelementen können zu Ausscheidungsreaktionen im Schmelzprozess führen, die wiederum die Matrixzusammensetzung des Materials verändern.
Nitinol zeichnet sich durch eine gute Korrosionsbeständigkeit und Biokompatibilität aus. Das Material erzielt Festigkeiten von über 1200 MPa und reicht damit an die der meisten Stähle heran. Um die verschiedenen Formgedächtniseffekte sinnvoll technisch nutzen zu können, muss die Anwendung in einem Temperaturintervall erfolgen, welches durch die Umwandlungstemperaturen festgelegt wird. Für Nitinol-Formgedächtnislegierungen liegt dies in einem Bereich von etwa -50 bis +100 °C. In diesem Temperaturbereich kann die Phasenumwandlungstemperatur, also die Aktivierungstemperatur für das Formgedächtnis, nach aktuellen Laborversuchen auf etwa ein Grad genau eingestellt werden. Aus diesem Grund ist neben der Bestimmung der chemischen Zusammensetzung die Ermittlung der Phasenumwandlungstemperaturen die wichtigste Methode zur Charakterisierung der funktionellen Eigenschaften.
Durch die Phasenumwandlung zwischen Martensit und Austenit verändern sich sprunghaft verschiedene physikalische Eigenschaften, wie zum Beispiel der spezifische elektrische Widerstand. Widerstandsmessungen, aber auch kalorimetrische Verfahren, können daher verwendet werden, um die Eigenschaften für die Qualitätssicherung quantitativ zu erfassen. Für den technischen Einsatz von Formgedächtnislegierungen muss berücksichtigt werden, dass eine zyklische Betätigung des Formgedächtniseffektes zu einer funktionellen Ermüdung führt. Das heißt, es kommt zu einer Verschiebung der Umwandlungstemperaturen und einer Veränderung der mechanischen Eigenschaften. Dieser Effekt tritt zusätzlich zu der von anderen metallischen Werkstoffen bekannten strukturellen Ermüdung auf.
Intelligente Steuerungen und eine entsprechende Auslegung müssen daher auf den konkreten Anwendungsfall angepasst sein. Der Effekt der funktionellen Ermüdung ist von wissenschaftlicher Seite gut verstanden. Es befinden sich derzeit eine Vielzahl von Formgedächtnislegierungen in der Entwicklung, die nur eine minimale Ermüdung aufweisen. Die Optimierung der Herstellungsparameter ist Gegenstand der aktuellen Forschung.
Formgedächtnislegierungen, die den Ein- oder Zweiwegeffekt aufweisen, werden in der Regel eingesetzt, um Stell- oder Entriegelungsmechanismen zu realisieren. Pseudoelastische Komponenten hingegen übernehmen Dämpfungsaufgaben oder werden dort genutzt, wo der Werkstoff extrem großen Verformungen ausgesetzt ist.
Momentan sind etwa 80 bis 90 % aller Anwendungen von Nitinol-Formgedächtnislegierungen in der Medizintechnik zu finden. Dort werden zusätzlich zu den herausragenden mechanischen Eigenschaften, welche denen von Knochen und Gewebe sehr ähnlich sind, die Biokompatibilität und gute Korrosionsbeständigkeit ausgenutzt. Neben Implantaten wie gefäßerweiternden Stents oder Knochenklammern wird der Werkstoff auch in verschiedenen medizinischen Geräten eingesetzt. In der Dentaltechnik sind Wurzelkanalbohrer in der Lage, ohne große Schwierigkeiten der nichtlinearen Wurzelkanalgeometrie zu folgen und „um die Kurve“ zu bohren.
Daneben besteht in der Automobilindustrie großes Interesse an diesem Material. Dies belegt eine Vielzahl an Patenten, die aus diesem Sektor stammen. Die intelligenten Werkstoffe können vor dem Hintergrund der Gewichtsersparnis eine Vielzahl an Stellantrieben ersetzen, beispielsweise für Seitenspiegel, Sitze oder auch in der Motortechnik. Darüber hinaus wird der Einsatz für sicherheitsrelevante Funktionen derzeit von einigen Unternehmen diskutiert.
In der Luftfahrt können sich adaptive Flügel oder Luftauslässe den jeweiligen Flugphasen und damit den unterschiedlichen strömungsmechanischen Gegebenheiten anpassen. Auf diese Weise können Formgedächtnislegierungen maßgeblich zur Treibstoffreduzierung beitragen. Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Raumfahrttechnik, um wie in der Luftfahrttechnik das Gewicht zu reduzieren.
Ein Verbundprojekt am Sonderforschungsbereich Formgedächtnistechnik der Universität Bochum beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Entwicklung neuer und leistungsstärkerer Werkstoffe sowie deren struktureller und funktioneller Ermüdung. Werkstoffingenieuren und Biologen haben zum Beispiel gemeinsam das An- und Einwachsverhalten von Gewebezellen auf makro-, mikro- und nanostrukturierten Oberflächen von Nitinol-Formgedächtnislegierungen untersucht. Daraus konnten wichtige Erkenntnisse für die zukünftige Entwicklung orthopädischer Implantate gewonnen werden.
Im Bereich der Zerspanungstechnik wurden das Kurzloch- und Tiefbohren sowie die laserunterstützte Mikrostrukturierung analysiert. Die dabei gewonnenen Ergebnisse eröffnen neue Möglichkeiten der Mikrobearbeitung wie etwa das Fräsen von Folien oder die Strukturierung feinster Rohre aus Nitinol für Anwendungen in der Medizintechnik.
Von großer Bedeutung für die Integration der Formgedächtnis-Technologie ist auch die Frage, wie dieses Material gefügt werden kann. Neben dem Crimpen und Klemmen kommt für Nitinol-Bauteile auch das Laserschweißen als Alternative in Frage. Experimente zum Mikrofügen von Drähten artgleicher (NiTi-NiTi) aber auch artfremder Verbindungen (NiTi-Stahl) wurden durchgeführt.
In der aktuellen Förderphase des Sonderforschungsbereichs tritt der Industrietransfer in den Vordergrund. In Zusammenarbeit mit Industriepartnern werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in konkrete Produkte umgesetzt. So finden gemeinsam mit Phenox, einem Hersteller medizinischer Formgedächtnis-Instrumente zur mechanischen Entfernung von Thromben, Untersuchungen zur Röntgensichtbarkeit, Biokompatibilität und Schweißbarkeit von Formgedächtnis-Komponenten statt. Spielfreie Getriebe unter Verwendung von pseudoelastischen Formgedächtnis-Komponenten werden mit Rhein Getriebe konzipiert.
Die Firmen Otto Egelhof, Eberspächer und Faurecia befassen sich mit der Entwicklung thermoelektrischer Formgedächtnis-Aktoren, die in Heizungs- und Automobilanwendungen zum Einsatz kommen sollen. Die Herstellung von Nitinol-basierten Verbindungshülsen durch das Metallpulver-Spritzgießen ist das Ziel eines Gemeinschaftsprojekts von SAES Getters und dem Forschungszentrum Jülich. Der Einfluss von Sekundärphasen auf die Ermüdungslebensdauer von Implantatwerkstoffen ist die zentrale Fragestellung, welche mit den Firmen Admedes Schuessler und G. Rau sowie der Universitätsklinik für Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie des Knappschaftskrankenhauses Bochum-Langendreer aktuell bearbeitet wird.
Christian Großmann Geschäftsführer Ingpuls, Bochum
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