Startseite » Technik » Fertigung »

„Neuer Schwung für die Produktionstechnik.“

WZL-Direktor Prof. Christian Brecher über Potenziale von Industrie 4.0 und Ziele des AWK 2014
„Neuer Schwung für die Produktionstechnik.“

„Neuer Schwung für die Produktionstechnik.“
untersucht, welche Chancen Industrie 4.0 der Produktionstechnik bietet. Eine vernetzte Produktion muss dabei nicht zwangsläufig eine Revolution auslösen, sagt Prof. Christian Brecher, Geschäftsführender Direktor des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) der RWTH Aachen und Direktor des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie (IPT). §

Autor: Das Interview führte Haider Willrett

Herr Prof. Brecher, was versteht die Aachener Fertigungstechnik unter Industrie 4.0?

Industrie 4.0 verbindet aus unserer Sicht die Produktions- und Automatisierungstechnik mit der Informatik, und das unter besonderer Berücksichtigung der Rolle des Menschen – vom Produktionsmitarbeiter bis zum kreativen Entwickler. Wir sehen hier vier wesentliche Felder: den Weg hin zur Single Source of Truth mit Sicht auf Auftrags-, Engineering-, Produktions- und Produktdaten, die Vernetzung und Globalisierung der IT-Infrastruktur, die Nutzung von technisch orientierten Communities und die Vernetzung und Intelligenz auf dem Shopfloor. Viele dieser Elemente sind bereits vorhanden, aber Industrie 4.0 schafft zwischen ihnen besondere Verbindungen und kann durch die Kollaboration zwischen Mensch und Technik zu einem deutlichen Schub für die Industrie führen.
Welche neuen Aspekte soll das AWK zur Diskussion über das Thema beitragen?
Derzeit wollen viele Maschinen- und Anlagenbauer von uns wissen, wie sie sich beim Thema Industrie 4.0 positionieren müssen. Wir helfen, diese Frage zu beantworten – mit einem besonderen Fokus auf den Mittelstand. Das AWK setzt bewusst den Schwerpunkt auf die produktionsbezogenen Facetten von Industrie 4.0. Daher geht es um Anwendungen im unmittelbaren Fertigungsumfeld. Chancen und Risiken lassen sich so greifbar darstellen. Im Rahmen des AWK liegt unser Schwerpunkt sowohl auf dem Vernetzen realer und virtueller Abbildungen der Produktionsmaschine als auch auf Mehrwertdiensten im Bereich maschinennah aufgezeichneter Sensordaten.
Wieviel vierte industrielle Revolution ist wirtschaftlich überhaupt sinnvoll?
Das lässt sich kaum pauschal beantworten und ist maßgeblich mit der Strategie sowie der informationstechnischen Infrastruktur und Prozessgestaltung eines Unternehmens verbunden. Die durchgängige IT-Integration in der Produktion sowie die Notwendigkeit gewisse wiederkehrende Abläufe zu systematisieren und zu automatisieren sind nicht neu. Diesen Prozess bereits im Engineering signifikant zu beschleunigen und damit Deutschland als Leitmarkt und Leitanbieter für Produktionstechnik weiter zu stärken, ist ein hehres Ziel, das mit Industrie 4.0 einen neuen Schwung erhalten hat. Aufgrund der großen Breite des Themas kann man erst in gut 20 Jahren konstatieren, ob Industrie 4.0 wirklich einen revolutionären Charakter besaß. Einzelaspekte können sicherlich in den nächsten Jahren in kleinen Stufen eingeführt werden. So ist es vorstellbar, dass das intelligente Verwalten von Fertigungs- und Prozessdaten die Wettbewerbsfähigkeit stärkt, während an anderer Stelle der Zugriff auf Sensoren an verschiedenen Maschinen zu einer optimierten Feinplanung führt. Die Wirtschaftlichkeit ist stets im Einzelfall zu beurteilen.
Welche Chancen sind mit einer digitalen Produktion verbunden?
Die Chancen liegen auf der Hand: Hohe Transparenz und intelligentes Verarbeiten von Informationen verbessern die disziplinübergreifenden Möglichkeiten sich abzustimmen. Oder konkret bezogen auf die Zustandsüberwachung: Hier lässt sich der Betrachtungsumfang durch Vernetzung und Selbstwahrnehmung von Maschinen ausweiten. Damit besitzen die Mitarbeiter eine größere Entscheidungsbasis. Derartiges wird derzeit noch nicht umfänglich genutzt.
Und wo liegen die Risiken?
Neben der IT-Sicherheit im Allgemeinen ist hier die unternehmensübergreifende Nutzung von Wissen zu nennen, und damit verbunden die Frage, welche Daten in welcher Form und mit welchen Adressaten ausgetauscht werden? Außerdem müssen mitarbeiterbezogene Daten mit der nötigen Sensibilität hinsichtlich Datenschutz behandelt werden. Risiken sind auch in Bezug auf die rechtlichen Rahmenbedingungen zu betrachten. Will ein Unternehmen im Rahmen einer Produktentwicklung gewisse Dienste dynamisch durch Zulieferer erledigen lassen, muss es in der Lage sein, die Verträge entsprechend anzupassen. Bei Komplikationen oder Qualitätsfragen zieht das sehr schnell Haftungsfragen oder Regressansprüche nach sich.
Welche Hindernisse gilt es auf dem Weg zur vernetzten Produktion zu überwinden?
Das ist eine vielschichtige Frage. Man könnte hier auf die häufig noch fehlenden Teilmodelle oder die fehlende Skalierbarkeit in der Simulation eingehen. Des Weiteren spielt die Rückführung von Prozessinformationen in die Entwicklung und Planung sowie die Bereitschaft, gewisse Erfahrungswerte in der Produktion zu digitalisieren, eine wesentliche Rolle. Eine Hürde ist nach wie vor die Existenz nicht kompatibler Formate, die bei den interdisziplinären Fragestellungen besonders zum Tragen kommen. Diese Kompatibilitätsbrüche treten beim Verarbeiten von Sensordaten und der Übernahme von Simulationsmodellen auf. Und ganz wichtig ist aus meiner Sicht: Vernetzung muss anwendungsbezogenen erfolgen – nicht alles, was vernetzt werden kann, muss auch so zusammengebracht werden.
Können Produktionsbetriebe ohne vernetzte Prozesse wettbewerbsfähig bleiben?
Das ist durchaus möglich. In Deutschland sind wir aber extrem stark im Entwickeln und Umsetzen kundenindividueller Projektgeschäfte, und diese Stärke sollten wir uns in jedem Fall erhalten. Es zeichnet sich ab, dass Unternehmen aufgrund der heutigen Komplexität von Produkten und Produktionsprozessen zunehmend auf eine vernetzte Produktion und damit auf eine neue Art der Produktionsplanung angewiesen sind. Das bedeutet aber nicht, dass die Geschäftsführung in Echtzeit auf jeden Sensor der Fertigung zugreifen können muss.
Wie müssen die Systeme gestaltet sein, damit sich die komplexen Prozesse und Anlagen beherrschen lassen?
In technischen Systemen muss es möglich sein, sich mit den relevanten Entwicklungsfragen auseinanderzusetzen. Das heißt, der reine Aufwand für die technische Vernetzung und Schnittstellenentwicklung muss minimal gehalten werden – nur so lässt sich der Komplexitätsgrad systemübergreifend beherrschen. Hier existiert beispielsweise mit OPC UA ein erfolgsversprechender Automatisierungsstandard, der die Vernetzung von Systemen auf einer semantisch abstrakten Ebene auf der Steuerungsseite unter Nutzung moderner Ansätze der Software-Technik erlaubt. Die weitreichende Unterstützung solcher Standards ist eine Möglichkeit, auch komplexe Prozesse effizient und wirtschaftlich in Betrieb zu nehmen.
Wie wird sich das Verhältnis zwischen realer und virtueller Welt entwickeln?
Sowohl in der Anlagenentwicklung als auch in der Betriebsphase bieten virtuelle Maschinen und Anlagen großes Potenzial. In der Entwicklung lassen sich die Vorgaben der Kunden besser erreichen, indem mit Simulationen in frühen Phasen Konzepte abgestimmt sowie detaillierte Entwürfe und Lösungen geprüft werden können. Aber auch die Produktion profitiert von der Möglichkeit, frühzeitig Szenarienrechnungen durchzuführen sowie teilweise oder langfristig auch durch mitlaufende Simulationen eine Fehlerprävention zu ermöglichen. Diese Form der Intelligenz wird zukünftig noch deutlich zunehmen, da Rechenleistung und Vernetzung zur Informationsversorgung heute umfassend bereitgestellt werden können. Sie muss lediglich skalierbar gestaltet werden können. Darüber hinaus müssen wir uns als Produktionstechniker stets erden und sicherstellen, dass Daten der realen Bearbeitung zur Parametrierung der Simulationen zurückgeführt werden können. Damit lässt sich langfristig der oft hemmende Simulationsaufwand auch in der Entwicklung und der Arbeitsvorbereitung verringern.
Wie muss sich die Werkzeugmaschine entwickeln, um für Industrie 4.0 fit zu sein?
Die Werkzeugmaschine wird sich in ihrer Grundstruktur nicht wesentlich verändern. Wichtig ist, die konstruktiven Alleinstellungsmerkmale stetig weiterzuentwickeln und Entwicklungs- sowie Produktionsprozesse über Abteilungs- oder Unternehmensgrenzen hinweg zu harmonisieren. Sicher wird die Werkzeugmaschine – etwa durch die CAD-CAM-Kette – als Baustein in der datentechnischen Vernetzung zu berücksichtigen sein. Im Zentrum steht dabei die Steuerung. Sie muss eine einfache Integration der Maschine in verkettete, flexibel wandelbare oder auch nur temporäre Lösungen ermöglichen. Auch das Anbinden an die Auftragsabwicklung und das Rückführen von Fertigungswissen sind Beispiele, wo das Vernetzen von Steuerungen und der IT-Landschaft ausgeweitet werden müssen.
Wie können Werkzeuge in vernetzte Prozesse eingebunden werden?
Zerspanwerkzeuge können einerseits selbst als intelligente Teilsysteme eingesetzt werden, indem man beispielsweise Sensoren zur Belastungsdiagnose integriert. Das einfache Einbinden der so entstehenden mechatronischen Teilsysteme ist ein direkter Beitrag zu Industrie 4.0. Andererseits ist aber auch hier die virtuelle Repräsentation der Werkzeuge von großem Interesse, um entlang des Lebenszyklus Informationen für die Werkzeug- und Prozessoptimierung geeignet aufnehmen und für unterschiedliche Stakeholder analysieren zu können. So lassen sich dann reale Vorteile in Form wirtschaftlicherer Zerspanprozesse erzielen.
Wann sehen wir praxistaugliche Lösungen?
Da die technischen Entwicklungen rund um Industrie 4.0 bereits seit einiger Zeit verfolgt werden, können schon in ein bis zwei Jahren erste vollständigere Lösungsansätze existieren. Auf diversen Messen sehen wir ja bereits Vorschläge für einzelne Referenzarchitekturen. Diese reichen aber noch nicht so weit, wie die Vision von Industrie 4.0 es vorgibt. Hier ist aufgrund des bestehenden Forschungsbedarfs mit längeren Entwicklungszeiten zu rechnen. Im Rahmen der Plattform Industrie 4.0 planen wir derzeit Innovationsschritte bis 2025. Es bleibt aber abzuwarten, ob sich wirklich revolutionäre Änderungen ergeben, oder ob sich nicht auch wirtschaftlich interessante evolutionäre Fortschritte verzeichnen lassen.
Was erwarten Sie sich vom AWK?
Das AWK bringt Experten aus der Industrie mit Produktionswissenschaftlern von WZL und IPT zusammen. Schwerpunkte von Industrie 4.0 werden aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet und mit ausgeprägter Praxisnähe diskutiert. Hiervon verspreche ich mir richtungsgebende Impulse, mit denen Unternehmen ihre strategische Positionierung gestalten können. •
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 5
Ausgabe
5.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Webinare & Webcasts

Technisches Wissen aus erster Hand

Whitepaper

Aktuelle Whitepaper aus der Industrie

Unsere Partner

Starke Zeitschrift – starke Partner


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de