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AWK‘21: Prof. Thomas Bergs, geschäftsführender Direktor des WZL, über die Zukunft der Produktion

AWK‘21
Prof. Thomas Bergs, geschäftsführender Direktor des WZL, über die Zukunft der Produktion

Prof. Thomas Bergs, geschäftsführender Direktor des WZL, über die Zukunft der Produktion
„Anlässlich des Aachener Werkzeugmaschinen-Kolloquiums 2021 wollen wir mit einer heterogenen Community über die Produktion von morgen diskutieren“, sagt Prof. Thomas Bergs. Er ist geschäftsführender Direktor des Werkzeugmaschinenlabors (WZL) der RWTH Aachen und Direktor des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie (IPT). Die beiden Institute veranstalten den Expertentreff bereits zum 30. Mal. Bild: Sarah Thelen
Weshalb wir eine Produktionswende brauchen und was dazu erforderlich ist, um sie erfolgreich umzusetzen, das erklärt Prof. Thomas Bergs. Er ist der derzeit geschäftsführende Direktor des Werkzeugmaschinen-Labors (WZL) der RWTH Aachen und Mitglied des Direktoriums des Fraunhofer-IPT.

» Mona Willrett, Redakteurin Industrieanzeiger

Herr Prof. Bergs, welche Hoffnungen verbinden Sie mit dem Aachener Werkzeugmaschinen-Kolloquium 2021?

Vor allem hoffe ich, dass wir uns endlich wieder im Rahmen einer Präsenzveranstaltung über anstehende Themen austauschen können. Vom AWK gehen traditionell wegweisende Impulse für die Zukunft der Produktion aus, die nicht nur aus der Forschung kommen, sondern auch aus der Industrie. Deshalb ist uns der persönliche Kontakt so wichtig. Ich wünsche mir, dass eine Art postpandemische Aufbruchstimmung entsteht. Wir sollten die Erfahrungen aus den vergangenen Monaten nutzen, um die Zukunft zu gestalten und Chancen zu ergreifen.

Sie haben das Motto von ‚Turning Data into Value‘ in ‚Turning Data into Sustainability‘ geändert. Warum?

In der Vorbereitung des AWK’20 – das wir dann Corona-bedingt verschieben mussten – diskutierten wir lange über den Begriff ‚Value‘ und darüber, was anzustrebende Werte sind. Schon damals zeigte sich, dass wir ‚Wertigkeit‘ weiter fassen müssen. Stand vor einem Jahr noch im Vordergrund, wie wir mit Störungen der Lieferketten, mit Handelskonflikten, dem Brexit oder einer Pandemie umgehen müssen, um Produktion weiterhin erfolgreich betreiben zu können, so rückten in den letzten Monaten zunehmend andere Fragen in den Fokus. Etwa: Wie verstehen wir Produktion unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit? Oder: Wie können wir Daten und Modelle nutzen, um die Nachhaltigkeit von Produkten und Produktionsprozessen zu verbessern? Es wurde immer deutlicher, dass wir eine Art Produktionswende brauchen. Und das sollte sich sowohl im Motto als auch in den Inhalten des AWK‘21 widerspiegeln.

Produktionswende – was bedeutet das?

Der Begriff soll beschreiben, dass wir Produktion vor dem Hintergrund der Nachhaltigkeit künftig anders denken müssen. Es geht um viel mehr als um Klima- und Ressourcenschutz. Künftiger unternehmerischer Erfolg setzt nicht nur mit Blick auf die Wirtschaftlichkeit und den Umweltschutz schlüssige Konzepte voraus, sondern auch hinsichtlich sozialer Aspekte oder der Unternehmensführung. Wir müssen neben dem Bereich ‚Finance‘ auch die Aspekte ‚Environmental‘, ‚Social‘ und ‚Governance‘ berücksichtigen, sie bewertbar machen und aus den gewonnenen Erkenntnissen Handlungen ableiten. Diese so genannten ESG-Kriterien, gewinnen übrigens auch am Kapitalmarkt zunehmend an Bedeutung.

Wie ist eine solch ganzheitliche Sichtweise in der Praxis zu realisieren?

Vom Grundsatz her ist der Gedanke nicht neu. Die Frage ist: Haben wir heute bessere Werkzeuge als noch vor wenigen Jahren, um sämtliche Stufen der Wertschöpfungskette – von der Rohstoffgewinnung über die Fertigung und Nutzung eines Produkts bis hin zum Recycling – zuverlässig zu bilanzieren? Damit sind wir bei der Frage der Datenverfügbarkeit. Um die sicherzustellen brauchen wir Werkzeuge, die Material- und Wertschöpfungsflüsse transparent machen. Dazu müssen wir sämtliche Informationen eines Produktlebens in einem digitalen Zwilling speichern – von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung. Diese Daten geben uns am Ende des Produktlebens Auskunft, welchen Belastungen einzelne Komponenten im Lauf der Zeit ausgesetzt waren, welche Rohstoffe enthalten sind und welche davon in einen weiteren Lebenszyklus überführt werden können.

Wo liegen dabei die Herausforderungen?

Es gibt bereits viele Werkzeuge, die uns eine teilweise Lebenszyklusanalyse ermöglichen. Um eine echte, objektive Gesamtbilanz zu erstellen, müssen wir aber in der Lage sein, nachzuverfolgen und abzubilden, welche Rohstoffe für ein Bauteil verwendet wurden und was dieses Bauteil im Lauf seines Lebens erlebt hat. Das Internet der Produktion bietet uns hier viele Möglichkeiten, die wir aber noch erweitern müssen. Was das Ganze noch komplexer macht: Neben den Effekten durch das Produkt selbst, müssen wir auch den Ressourcenverbrauch für dessen Entwicklung, Herstellung und Nutzung berücksichtigen. Diese Verflechtung transparent zu machen und damit die Frage, welcher Rohstoffverbrauch und welche Umweltbelastung tatsächlich mit einem Produkt verbunden sind, das ist die Herausforderung.

Wie muss sich Produktion verändern, um für die neue Denkweise fit zu sein?

Handlungsbedarf besteht auf mehreren Ebenen. Zunächst brauchen wir die passenden regulatorischen und politischen Rahmenbedingungen für diese Transformation. Dann müssen wir die Verfügbarkeit wichtiger Daten gewährleisten. Das ist – neben modernen Technologien auf Produkt- und Produktionsseite – essentiell. Wir müssen definieren, welche Daten wichtig sind. Und wir müssen Wege finden, diese Daten zu erheben und nutzbar zu machen. Außerdem brauchen wir standardisierte Schnittstellen, um Informationen über Systemgrenzen hinweg austauschen zu können. Nur so schaffen wir es, den Transformationsprozess transparent zu gestalten, Maßnahmen zu bewerten und ihre Auswirkungen vorherzusagen. Eine Grundvoraussetzung dafür ist ein leistungsfähiges Netz. Und zu guter Letzt müssen wir ins Handeln kommen und Lösungsansätze in die Praxis bringen, um ihren Nutzen sichtbar zu machen. Das Ziel ist, nicht nur nachhaltig zu produzieren, sondern auch schnell nachhaltige Produkte verfügbar zu machen.

Können Sie ein Beispiel für ein solches Leuchtturmprojekt nennen?

Ein wichtiger Impulsgeber ist die Luftfahrt, die sich erheblich verändern wird. Es wird neue Triebwerke und andere Treibstoffe geben. Umweltwirkung und Ressourcenverbrauch werden künftig ein zentraler Aspekt in der Luftfahrtbranche sein. Wenn zum Beispiel Airbus ab 2030 emissionsfrei fliegen will, dann ist das ein extrem kurzer Zeitraum, um die notwendigen Technologien zu entwickeln. Das geht nur mit einer konsequenten Verknüpfung von Produkt- und Produktionsentwicklung. Dazu brauchen wir die Vernetzung und die zuverlässige Verfügbarkeit aller wichtigen Daten. Insofern ist die Digitalisierung die notwendige Voraussetzung für diesen Transformationsprozess.

Wo sehen Sie mit Blick auf die betriebliche Praxis noch Handlungsbedarf?

Ich erlebe in vielen Betrieben – unabhängig von ihrer Größe – einen Wertewandel hin zu mehr Nachhaltigkeit. Innerhalb eines Unternehmens kann jeder schon heute daran arbeiten, den eigenen Fußabdruck zu optimieren. Was noch dazu kommt: Jeder an einer Wertschöpfungskette Beteiligte muss künftig auch einen Beitrag leisten und Daten beisteuern, so dass wir unterm Strich die Umweltwirkung eines Produkts objektiv und zuverlässig bilanzieren können. Wichtig ist dabei, dass alle Daten durchgängig verfügbar, die Datensicherheit gewährleistet und die Nutzungsrechte geklärt sind. Die große Frage lautet: Wer trägt letztlich die Verantwortung dafür, dass die Bilanz durchgängig und korrekt gezogen wird? Zudem muss klar sein, mit welchen Hilfsmitteln und auf welcher Plattform das geschieht und wer am Ende von neu entstehenden Geschäftsmodellen profitiert.

Wie lässt sich vermeiden, dass mächtige Player diese Situation ausnutzen, um eigene Interessen durchzusetzen?

Um diese Gefahr zu minimieren, brauchen wir eindeutige Regeln. Hier sollte die Industrie proaktiv Vorschläge erarbeiten, ehe wir mit politischen Vorgaben leben müssen, die wichtige Aspekte außer Acht lassen. Das AWK bietet eine tolle Chance, in diese Diskussion einzusteigen.

Welche Konsequenzen hat diese Produktionswende für deutsche Fertigungsbetriebe und deren Ausrüster?

Wie sich das Ganze ausgestalten wird, lässt sich noch nicht sagen. Aufhalten können wir diesen Prozess, der durch politische und gesellschaftliche Veränderungen angestoßen wurde, nicht. Das ist eine sukzessive Entwicklung. Aber die ersten, wegweisenden Schritte müssen wir jetzt gehen. Für die deutschen Marktteilnehmer sehe ich gute Chancen, sich im internationalen Wettbewerb wieder eine Vorreiterrolle zu sichern. Unser Prozess- und Technologiewissen ist auch künftig eine gute Basis für den Erfolg. Ein Risiko liegt allerdings in der extrem hohen Komplexität. Wir brauchen einen integrativen Ansatz über Betriebsgrenzen hinweg und damit verbunden ein hohes Maß an Standardisierung für viele Schnittstellen.

Wie lässt sich sicherstellen, dass Projektteilnehmer aus unterschiedlichen Disziplinen sich gegenseitig verstehen?

Wenn unterschiedliche Disziplinen zusammenarbeiten sollen, ist es wichtig, mit kleineren Projekten zu beginnen. Dadurch haben die Beteiligten die Chance zu lernen, an welchen Stellen die Kommunikation hakt, wo sich das Verständnis unterscheidet oder wo bestimmte Begrifflichkeiten unterschiedliche Bedeutungen haben. Das haben wir bereits mehrfach erlebt, unter anderem im Zusammenspiel zwischen Produktion und Biologie oder auch zwischen Produktion und Informatik. Es ist normal, dass es da anfangs Missverständnisse gibt, wie man bestimmte Daten zu interpretieren hat, um gemeinsam gute Lösungen zu entwickeln. Da bin ich ein Freund des Prinzips: Einfach handeln und dabei lernen.

Wie haben die letzten anderthalb Jahre die Produktion verändert?

Die Philosophie der minimalen Lagerbestände führte zu komplexen, globalen Lieferketten. Komponenten waren stets genau dann verfügbar, wenn sie verbaut werden sollten. Unterbrochene Lieferketten haben aber ganze Produktionen stillgelegt. Aufgrund der vielen unvorhersehbaren Einflüsse müssen wir uns gut überlegen, wie wir Produktion künftig betreiben wollen. Die Konsequenz aus den letzten anderthalb Jahren ist, dass bisher Selbstverständliches hinterfragt wird. Das betrifft nicht nur das Thema Resilienz, sondern auch die ESG-Kriterien. Letztendlich hat sich die Haltung der Menschen, also der Kunden, verändert. Der Wert der Nachhaltigkeit rückt zunehmend in den Vordergrund. Das müssen wir beim Gestalten der Produktion der Zukunft berücksichtigen.

Was kann das AWK dazu beitragen?

Das AWK zeichnet sich dadurch aus, dass unterschiedliche Sichtweisen auf die Produktion vorgestellt werden und im Dialog ein Verständnis für die bestmöglichen Lösungen entsteht. Deshalb hoffe ich, dass wir eine Präsenzveranstaltung in ausreichender Größe erleben werden. Darüber hinaus haben diejenigen, die nicht vor Ort sein können, erstmals die Möglichkeit, sich über digitale Kanäle in die Diskussion einzubringen. Ich hoffe, dass bei der heterogenen Community ein Gesamtbild entsteht, wie Produktion vor dem Hintergrund der beschriebenen Produktionswende aussehen kann und wo Herausforderungen sowie Handlungsbedarfe liegen.

Kontakt:

WZL – Werkzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen
Steinbachstr. 19
52074 Aachen
www.wzl.rwth-aachen.de
www.awk-aachen.com

Fraunhofer-Institut für Produktionstechnologie (IPT)
Steinbachstr. 17
52074 Aachen
www.ipt.fraunhofer.de

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