Startseite » Technik » Fertigung »

Wenn Narben erwünscht sind

Reichle nutzt Lasertexturieren für Werkzeuge und Prototypen
Wenn Narben erwünscht sind

Oberflächentechnik | Das Erodieren, Ätzen und Strahlen von Werkzeugen oder Bauteilen könnte bald obsolet sein, um Oberflächenstrukturen einzubringen oder Glanzgrade einzustellen. Reichle ersetzt alle drei Verfahren durch das Lasertexturieren – selbst bei riesigen Bauteilen. ❧ Sabine Koll

„Der Markt schreit nach neuen Kunststoff-Oberflächenstrukturen, die klassisch nicht zu realisieren sind“, sagt Marco Reichle, Prokurist und Bereichsleiter „New Technologies“ der Reichle GmbH in Bissingen/Teck. Insbesondere die Fahrzeughersteller sind immer auf der Suche nach innovativen Oberflächen für Interieur und Exterieur, die für neue Design-, Optik- und Haptik-Effekte sorgen. Kein Wunder, dass sich kürzlich beim Tag der Offenen Tür bei Reichle aus Anlass des 35jährigen Firmenjubiläums Experten vieler OEMs die Klinke in die Hand gaben. Doch auch die Kosmetik- und Pharmabranche ist laut Reichle immer stärker an der Technik interessiert, mit der das Unternehmen seit knapp vier Jahren volldigital Texturierungen in Werkzeuge und Formen, aber auch direkt in Bauteilen wie etwa Prototypen einbringt: das Lasertexturieren.

Vier Maschinen hat Reichle seitdem gekauft – und damit das Geschäft kontinuierlich ausgebaut. Kurz vor Weihnachten vergangenen Jahres kam die derzeit größte Lasertexurierungsmaschine der Welt, eine Agie Charmilles Laser 4000 von GF Machining Solutions, hinzu. „Damit haben wir uns selbst ein Weihnachtsgeschenk gemacht, denn mit dieser Maschine können wir nun auch Bauteile in XXL-Größe wie etwa Instrumententafeln oder auch Frontspoiler für LKW bearbeiten“, freut sich Marco Reichle.
Die Maschine, die Bauteile oder Werkzeuge mit den maximalen Maßen 4000 x 3000 x 1500 mm und einem Maximalgewicht von 32 t aufnimmt, ist seit der Inbetriebnahme Januar im Dauereinsatz. Beim Firmenjubiläum konnten die Besucher deshalb auch nur einen Blick von außen auf sie werfen – ein Großauftrag ließ keine Pause zu. „Die Werkzeuggrößen und die Präzision sind erstaunlich bei dieser Anlage“, so Reichle. Bis zu 1 µm präzise sind die Schichtdicken, sodass vom Endkunden vorgegebene Narbungstiefen sehr exakt und präzise realisiert werden können.
Durch die vollständige Digitalisierung ist der Prozess zudem wiederholgenau abbildbar. Dies ermöglicht es Reichle zudem, das gesamte Werkstück mit der gewünschten Oberflächenstruktur vorher am Computer zu berechnen und zu visualisieren, sodass der Kunde vorher schon genau sehen kann, ob die Textur seinen Vorstellungen und Vorgaben entspricht. Die Lasersoftware von GF bietet dafür bereits Basis-Texturen an.
Doch Reichle beschäftigt selbst auch Designer, um die Kunden bei der Entwicklung von Texturen zu unterstützen. Der Lasertexturierungsprozess beginnt mit einer digitalen Bitmap-Graustufendatei, die entweder frei erstellt wird oder durch Reverse Engineering mit einem 3D-Scanner von einer natürlichen Oberfläche abgenommen werden kann. So lassen sich bei Kunststoff-Bauteilen im Interieur mittels Lasertexturierung beispielsweise Stoffoptiken nachstellen. Auch Ledertexturen können auf diesem Weg imitiert werden. Dies ist beispielsweise dann gewünscht, wenn Echt- und Kunstleder nebeneinander zum Einsatz kommen. Reichle: „Durch den digitalen Prozess lassen sich Ausläufe homogen gestalten oder fließende Linien zwischen zwei verschiedenen Narbungen garantieren.“
Der Laser spielt aufgrund der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse seine Vorteile vor allem dann aus, wenn Oberflächennarbungen absolut identisch in mehrere Werkzeuge eingebracht werden müssen. Dabei können vorhergehende Simulationen, hochauflösende Kameras, 3D-Messtaster oder geschützte Sichtfenster den Prozess begleiten und die Qualität der Reproduktion sicherstellen.
Zudem sind damit erstmals Designeffekte wie Texturüberlappungen möglich. Die Experten sprechen dabei vom Morphing: Geometrische Strukturen wie Kreise oder Rechtecke können nahtlos in organisch anmutende Lederstrukturen übergehen. „Der Designfreiheit und Oberflächengestaltung sind praktisch keine Grenzen gesetzt, zumal die Strukturierung bis zur Werkzeugtrennung und auch über Radien und Kanten einbringbar ist“, so Reichle.
Für ihn steht fest, dass Lasertexturierung die künftige Art des Narbens darstellt und damit alle drei traditionellen Verfahren – Erodieren, Ätzen und Strahlen – ablöst. „Das Erodieren hat seine Grenzen bei 1A-Oberflächen, weil zum Beispiel Glanzstellen entstehen. Insbesondere bei einer großer Kavitätenzahl kann dies zum Problem werden“, so Reichle. Außerdem sei durch den Verschleiß der Elektroden die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse eingeschränkt.
Das Ätznarben sei bis vor kurzem weitgehend alternativlos gewesen für das Einbringen von Texturierungen, da es hochgradig standardisiert sei. Auch Reichle habe bis 2015 das Verfahren, das vor allem bei großen Flächen wirtschaftlich sei, noch angewendet. Die Nachteile liegen für ihn in der mangelnden Reproduzierbarkeit – das Verfahren ist zu 100 % ein manueller Handarbeitsprozess – sowie in der Dominanz von einigen wenigen Lieferanten.
Das Strahlen bezeichnet Reichle als „Pflichtprozess für die nachträgliche Glanzgradanpassung“. Das Verfahren sei zeitsparend; schon nach zwei bis drei Stunden können die Kunden das Werkzeug abholen oder aber sie warten gleich darauf. „Das Manko beim Strahlen aber sieht man unter dem Mikroskop: Die Oberfläche des Werkzeugs ist nicht mehr homogen“, so Reichle.
Deutlich verkürzte Arbeitszeiten bei
relativ stabilen Kosten
Auch bei der Bearbeitungszeit liegt das neue Verfahren vorn: Bis zu 70 % Zeit spart man ein, so Reichle. Bei komplexen Werkzeugen, für die man vorher zwei bis drei Wochen benötigt hat, verringert sich die Bearbeitungszeit auf zwei bis vier Arbeitstage. Bei den Kosten verhalte sich das Lasertexturieren „neutral“ zu den drei traditionellen Verfahren.
Ein guter Nebeneffekt, den vor allem die Automobilhersteller zu schätzen wissen: Im Lasertexturierprozess lassen sich gleichzeitig Gravuren ins Werkzeug einbringen.
Vor allem im Hinblick auf die Glanzgradeinstellung von Bauteilen hält Reichle das Lasertexturieren für prädestiniert: Bei einem Bauteil aus Polyoxymethylen (POM) habe man den vorhandenen Glanzgrad damit von 6,8 auf 2,7 senken können. Auch extrem matte Oberflächen – also mit einem Glanzgrad von 0,0 – könne man auf diese Art und Weise umsetzen; beispielsweise bei Scheinwerfern, um das Streulicht zu eliminieren. „Wir lernen jeden Tag hinzu, vieles ist auch für uns Learning by Doing, da wir auf diesem Gebiet Pioniere sind“, so Marco Reichle.
Die Abträge müssen allerdings nicht unbedingt im Mikrometer-Bereich liegen: Bei einem Bauteil mit hohen Qualitätsanspruch habe man kürzlich mit einer der Lasertexturierungsmaschinen auch schon einmal Schichten im Millimeter-Bereich abgetragen, berichtet Reichle. Die Programmierung dauerte dabei natürlich eine Weile – und auch die Lasertexturierung selbst: Die Anlage war damals acht Tage ununterbrochen im Einsatz.
Unsere Webinar-Empfehlung


Hier finden Sie mehr über:
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 4
Ausgabe
4.2024
LESEN
ABO
Newsletter

Jetzt unseren Newsletter abonnieren

Tipps der Redaktion

Unsere Technik-Empfehlungen für Sie

Webinare & Webcasts

Technisches Wissen aus erster Hand

Whitepaper

Aktuelle Whitepaper aus der Industrie

Unsere Partner

Starke Zeitschrift – starke Partner


Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de