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Umformtechnik: Wirtschaftliche Wege zu hochfesten Karosseriebauteilen

Umformtechnik
Wirtschaftliche Wege zu hochfesten Karosseriebauteilen

Hochfeste und ultrahochfeste Stähle sind die Leichtmacher fürs Auto der Zukunft. Weiterentwickelte Werkstoffe und ausgeklügelte Werkzeuge eröffnen dem Tiefziehen neue Möglichkeiten.

Volker Albrecht
Fachjournalist in Bamberg

Alle reden vom Presshärten, auch wenn die meisten Karosserieteile wohl auch künftig kaltumgeformt werden – und zwar in höher- und hochfesten Stahlgüten. Im Januar hat Mazda veröffentlicht, in der neuen Generation des Mazda 3 seien kaltumgeformte Stahlteile mit Festigkeiten von 1310 MPa für die A-Säule, Scharniersäule, den Dachinnenholm und andere Segmente verbaut. Bislang galt oberhalb von 1200 MPa das Presshärten als Methode der Wahl.

Die Zahl der pressgehärteten Bauteile im Automobilbau hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, und zwar nach Angaben der Forschungsvereinigung Stahlanwendung von 107 Mio. Teilen im Jahr 2007 auf rund von 574 Mio. 2018. Eine Erfolgsgeschichte, die weniger der Effizienz des Verfahrens als mehr der Tatsache geschuldet ist, dass sich ultrahochfeste und höchstfeste Stähle mit mehr als 1200 MPa nur warmumformen lassen. Denn trotz der Vorteile pressgehärteter Bauteile für den Leichtbau, das Verfahren ist aufwendig und schwierig in der Prozessführung. Das Glühen der Bauteile auf 950 °C, der Transport der heißen Teile, Umformen, Abschrecken und Härten im Werkzeug – das alles erfordert große Anlagen und Öfen. Und nicht zuletzt ist der Verschleiß vor allem der Werkzeuge hoch.

Jährlich werden derzeit rund 83 Mio. Fahrzeuge hergestellt, die meisten Karosserieteile darin sind kaltumgeformt, meist tiefgezogen. Die Anlagentechnik dafür ist im Vergleich zu Presshärteanlagen weniger komplex und sehr viel einfacher zu beherrschen, die Zykluszeiten sind kürzer und die Bauteile profitieren von einer höheren Oberflächenqualität. Allerdings sind die erforderlichen Umformkräfte deutlich höher, es lassen sich nur vergleichsweise geringe Umformgrade realisieren und die Rückfederung wirkt sich negativ auf die Maßhaltigkeit der Bauteile aus.

Auf der einen Seite entwickeln die Stahlhersteller stetig neue hochfeste Stahlgüten mit höherer Duktilität, unter anderem kommen verbesserte hoch- und höchstfeste Mehrphasenstähle wie Dual- und Komplexphasenstähle aber auch TWIP- (Twinning Induced Plasticity), TRIP- (Transformation Induced Plasticity) und Martensitstähle zum Einsatz. Auf der anderen Seite reizen weiterentwickelte Umformverfahren und neue Werkzeuge die Grenzen der Umformbarkeit dieser Stähle aus. Diese neuen Umformtechniken gehen über das hinaus, was Methodenplaner beim Tiefziehen klassischerweise umsetzen, wenn in der Simulation oder im Tryout Umformfehler wie Blechreißer, Faltenbildung, Oberflächenfehler, Einfallstellen oder Rückfederung erkannt werden. Dazu zählen Änderungen der Radien oder der Niederhaltekräfte ebenso wie gezielte partielle Änderungen an der Umformgeschwindigkeit beim Einsatz servoangetriebener Pressen. Zwei Verfahren haben dabei in den letzten Jahren für Aufmerksamkeit gesorgt.

Es geht darum, das Material während der Umformvorgänge dorthin zu bringen, wo es im Prozess gebraucht wird, hat Helmar Aßfalg, Geschäftsführer bei Allgaier das Problem seinerzeit bei der Vorstellung des Variotempo-Verfahrens auf den Punkt gebracht.

Variotempo zielt als Umformmethode darauf, die erreichbaren Umformgrade beim Kaltumformen hochfester Stähle und Aluminiumlegierungen zu verbessern. Bei Stahl funktioniert das Verfahren für Materialien mit Festigkeiten bis 1200 MPa. In wenigstens einer der Ziehstufen eines mehrstufigen Umformprozesses wird dazu eine geteilte Matrize eingesetzt, wobei ein Matrizenteil unabhängig vom anderen mit einer anderen Geschwindigkeit bewegt wird. Damit wird das Werkstück in definierten Bereichen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten geformt. Das verbessert den Materialfluss in die kritischen Bereiche des Werkstücks, so dass hochfeste Stahlbauteile mit erstaunlich hohen Umformgraden erreicht werden.

Das Variotempo-Verfahren lässt sich mit einem oder mehreren Werkzeugelementen in einer oder mehreren Ziehstufen eines mehrstufigen Prozesses realisieren. Wesentlich ist, dass die geteilten Matrizen mit Hilfe der Umformsimulation gezielt dort angeordnet werden, wo sie das Fließen des Materials optimal unterstützen.

Allgaier setzt das Variotempo-Verfahren in seinem Werk in Oelsnitz für mehrere Bauteile großer Automobilhersteller ein. Realisiert werden unter anderem ein Radhaus, ein Teil einer Bodenblechgruppe oder ein Schiebedachrahmen. Die Vorteile des Verfahrens gibt das Unternehmen mit Materialeinsparungen um 40 % und Gewichtseinsparungen um 60 % gegenüber konventioneller Bauweise an. Das ergibt sich unter anderem daraus, dass die höheren Umformgrade erlauben, bisher zweiteilige, verschweißte Teile einteilig auszuführen.

Das Material beim Umformen an die richtigen Stellen zu bringen, ist auch ein Ziel des Smartform-Verfahrens das Thyssenkrupp im letzten Jahr vorstellte. „Stauchen statt Ziehen“ soll dabei die Formabweichungen durch Rückfederungseffekte minimieren und so auf Anhieb zu passenden Bauteilen führen. Nach Thyssenkrupp-Pressesprecher Mark Stagge ist das Verfahren für hochfeste Stähle mit Festigkeiten bis 1200 MPa konzipiert. Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass beim Tiefziehen Material in die Umformbereiche nachfließen muss und ergo ausdünnt. Wanddickenreduzierungen aber verstärken den Rückfederungseffekt.

Das Verfahren beginnt mit einem nahezu passgenauen Beschnitt der Platinen, an der in der Presse zunächst der Boden vorgeprägt und anschließend die Vorform erstellt wird. Bei der Vorform spielt dabei die Rückfederung keine Rolle. Im entscheidenden Prozessschritt wird diese u-förmige Vorform kalibriert, wobei eine Art Schieber über die Bauteilkante Druckspannungen in die Vorform einbringt. Damit fließt mehr Material in die Umformzonen, sodass das Bauteil seine Endgeometrie nahezu ohne Rückfederungseffekte erhält.

Das endkonturnahe Beschneiden verringert nach Thyssenkrupp den Materialeinsatz um bis zu 15 % und reduziert über eine längere Einsatzdauer die Material-, Entsorgungs- und Energiekosten. Prinzipiell sei das Verfahren für unterschiedliche Bauteile der Fahrzeugstruktur geeignet. Die Smartform-Werkzeuge sind mit jeder Standardanlage kompatibel. Aktuell sei das Smartform-Verfahren bei einem großen Automobilhersteller in Deutschland für verschiedene Strukturteile der nächsten Fahrzeuggeneration in Erprobung.

Wie die hochfesten kaltgeformten Karosserieteile am Mazda 3 hergestellt sind, haben die Entwickler aus der Kooperation von Mazda, Nippon Steel & Sumitomo Metal und JFE Steel Corporation nicht veröffentlicht. Aber die kaltgeformten hätten 3 kg Gewicht gegenüber dem Vorgängermodell eingespart. Insgesamt liegt der Anteil an hochfesten Stählen im Mazda 3 bei 60 % und an ultrahochfesten Stählen bei 30 %.

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