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WZL-Direktor Prof. Schmitt über das AWK‘23 und nachhaltige Produktion

AWK‘23: Interview
WZL-Direktor Prof. Robert Schmitt über das AWK‘23 und die Vision einer nachhaltigen Produktion

Das Aachener Werkzeugmaschinen-Kolloquium 2023 soll Wege in eine nachhaltige Zukunft der Produktion zeigen. Ein wesentliches Element dabei: moderne Kreislaufwirtschaft. WZL- und IPT-Direktor Prof. Robert Schmitt nennt als Veranstalter des AWK sowohl Chancen als auch Herausforderungen des Wandels in der Produktionstechnik.

» Mona Willrett, Redakteurin Industrieanzeiger

Herr Prof. Schmitt, welche Hoffnungen verbinden Sie mit dem AWK’23?

Wir wollen Zuversicht schüren und zeigen, dass man die Zukunft gewinnen kann, ohne die Welt und die Perspektiven künftiger Generationen durch übermäßigen Ressourcenverbrauch zu kompromittieren. Wir wissen, unsere Visionen werden nicht flächendeckend eintreten, aber wenn wir motivieren können, an der Erfindung dieser Zukunft mitzuwirken, dann war dieses AWK erfolgreich.

Was wollen Sie mit dem Motto „Empower Green Production“ vermitteln?

Die Wahl des Mottos resultiert aus den Herausforderungen des vergangenen Jahres: das Streben nach mehr Nachhaltigkeit, unterbrochene Lieferketten, Sanktionsregime, unsichere Energieversorgung sowie eine hohe Varianz und Volatilität. Mit dem Slogan wollen wir zum Ausdruck bringen, dass Krisen auch Chancen in sich tragen und wir daran arbeiten wollen, gestärkt aus dieser Zeit hervorzugehen.

Wo steht die Produktionstechnik heute mit Blick auf das Thema Nachhaltigkeit?

Die meisten produktionstechnischen Institutionen haben die Notwendigkeit, nachhaltig zu agieren, längst erkannt. Viele wissen aber noch nicht so genau, wie sie damit umgehen sollen. Zudem verunsichern veränderte Rahmenbedingungen und die fehlende Planungssicherheit. Das betrifft nicht nur die Lieferketten und die Energieversorgung, sondern auch den Technologiewechsel. Als Beispiel: Eine elektrische Heizung funktioniert anders und benötigt andere Komponenten als eine Gasheizung. Die Bereitschaft, diesen Wandel anzunehmen ist da, die Herausforderung besteht jetzt darin, ihn ökonomisch verträglich zu gestalten.

Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie dabei?

Die wertegeprägte Politik in Deutschland ist grundsätzlich gut. Aber diesen Wandel werden wir nicht zum Nulltarif bekommen. Wir müssen ihn auch finanzieren können. Im Moment wird alles versucht, starke Branchen wie die Automobilindustrie zu vergraulen und in andere Länder zu treiben. Als Elektrotechnikingenieur finde ich elektrische Energie super. Damit dieser Wandel funktionieren kann, brauchen wir aber auch die nötige Infrastruktur.

Lässt sich der Energiebedarf überhaupt decken, wenn wir alle elektrisch fahren und heizen sollen und dazu noch die zu verarbeitende Datenmenge explodiert?

Was nur wenigen bewusst ist: Wenn wir von 50 Prozent erneuerbaren Energien reden, dann geht es um den elektrischen Anteil der Energie. Das heißt: In Spitzenzeiten werden 50 Prozent der elektrischen Energie aus erneuerbaren Quellen gedeckt. Beim Bruttoendenergieverbrauch sind es nur noch, allerdings beachtlich gute 20 Prozent – unter Berücksichtigung von Wandlungsfaktoren. Elektrische Energie hat aber nur einen Anteil von 20 Prozent im Strauß der Energieträger! Aktuell haben wir eine recht zugangsfreie Infrastruktur, die eine demokratische Energieverteilung erlaubt. Das ist im rein elektrischen System nicht so. Einige Stromanbieter haben schon kommuniziert, sich vorzubehalten, etwa die Anschlussleistung für Wärmepumpen oder Ladestationen von E-Fahrzeugen zu reduzieren. Dieser Wandel bietet auch Potenzial für staatliche Lenkung. Ein solches System nimmt dem Bürger ein gutes Stück seiner Autonomie. Das ist ein wichtiger Aspekt, der noch zu wenig gesehen wird.

Ist eine klima- und ressourcenneutrale Fertigung überhaupt realistisch?

Um das fair zu beurteilen, bräuchten wir vernünftige Bewertungssysteme, die alle Einflussgrößen korrekt berücksichtigen. Auf dem Weg zu einer klima- und ressourcenneutralen Produktion müssen wir zunächst die großen Stellschrauben identifizieren. Den mit Abstand größten Hebel bietet eine konsequente Kreislaufwirtschaft. Dabei geht unsere Vision über das Recyceln von Produkten oder Rohstoffen hinaus. Sie umfasst auch das gezielte Upgraden gebrauchter Produkte, so dass sie für weitere Nutzungsphasen attraktiv sind. Die Produkte müssen dazu zurückgeführt und industriell so aufgewertet werden, dass sie einen vergleichbaren oder höheren Nutzen bieten wie ein aktuelles Neuprodukt.

Was sind die Voraussetzungen, dass dieses Upcycling funktioniert?

Damit das Upcyceln durch den Tausch einzelner Komponenten möglich ist, müssen die Produkte modular aufgebaut sein. Die Herausforderung bei dieser Art der Kreislaufwirtschaft besteht darin, die nötigen Informationen zu haben, wo diese Produkte sind, wie sie genutzt werden, in welchem Zustand sie sich befinden und wie wir sie in eine Upcycle-Fabrik zurückführen können. Für all das brauchen wir Mechanismen, Abläufe und Geschäftsmodelle, durch die es auch ökonomisch interessant wird, gebrauchte Produkte aufzuwerten und weiter zu vermarkten. Sobald das endgültige Lebensende eines Produkts erreicht ist, müssen wir es so recyceln, dass die enthaltenen Rohstoffe wieder in den Kreislauf zurückfließen. Wenn uns das gelingt, dann haben wir viel erreicht. Eine vollkommen ressourcenneutrale Produktion und Wirtschaft halte ich allerdings nicht für realistisch.

Viele Produkte sind ja bewusst so gestaltet, dass sie nur eine gewisse Zeit den vollen Funktionsumfang bieten. Brauchen wir hier nicht ein Umdenken?

Empower Green Production bedeutet, dass wir die Wertschöpfung in Relation zum Kundennutzen betrachten und auf Langfristigkeit achten. Dazu müssen wir Produkte neu denken und so gestalten, dass sie über mehrere Nutzungsphasen eine längere Lebensdauer erreichen. Beim Streben danach, Produkte und Ressourcen besser auszunutzen, könnten Datenhaltung und digitaler Zwilling hilfreich sein.

Längere Nutzungszeiten – und damit mehr Nachhaltigkeit – ließen sich auch erreichen, wenn Produkte wieder besser reparierbar wären. Dazu bräuchten wir aber andere Konstruktionsvorgaben…

Das wäre ein Weg. Allerdings wollen die meisten Menschen keinen altmodischen Kühlschrank oder Fernseher in ihrer modernen Wohnung stehen haben. Insofern wäre es doch gut, solche Produkte mit geringem Aufwand technisch und optisch aufwerten zu können.

Sind die Unternehmen überhaupt bereit, die nötigen Daten einzubringen, um die Wertschöpfungskette vollständig zu vernetzen?

Das ist eine der zentralen Fragen auf diesem Weg. Um die Bereitschaft zu steigern, wird an Verschlüsselungsalgorithmen gearbeitet, die die Zugriffs- und Eigentumsrechte sichern sollen. Ich sehe noch einen erheblichen Nachholbedarf darin, den Unternehmen plausibel zu machen, welche Zielgrößen relevant sind, um künftig erfolgreich zu sein. Der digitale Zwilling ermöglicht es, Szenarien durchzuspielen und zu erproben, ehe wir in der Realität mit ihnen konfrontiert sind. So können wir die Auswirkungen von Maßnahmen beurteilen und bewerten, ehe wir sie umsetzen. Aber diese Potenziale lassen sich nur heben, wenn die nötigen Daten zur Verfügung stehen. Das muss allen klar sein.

Besteht nicht die Gefahr, durch das explodierende Datenaufkommen mehr CO2 zu verursachen, als wir mithilfe von Digitalisierung und KI einsparen können?

Eine aktuelle Vergleichszahl besagt: 100 Gigabyte Daten – das ist ja nicht viel – über zehn Jahre vorzuhalten, verbraucht so viel Energie wie das Erzeugen einer Tonne Rohstahls. Angesichts der enormen Datenmengen, die alleine KI-Anwendungen mit sich bringen, ist schnell klar, dass wir neue Systeme und Methoden brauchen, diese Daten zu sichern und langfristig nutzbar zu halten. Sonst werden Energieverbrauch und Emissionen infolge der Datenverarbeitung komplett aus dem Ruder laufen. Ein Lösungsweg könnte hier ein datenarchäologischer Ansatz sein.

Wie können wir sicherstellen, dass Daten langfristig verfügbar und nutzbar sind – und zwar für alle, nicht nur für wenige große Player?

Das ist ein wichtiges Thema, bei dem es drei Aspekte zu beachten gilt: das Generieren, das Speichern und das Rekonstruieren von Daten. In diesem Zusammenhang beschäftigen wir uns auch mit synthetischen Daten. Das ist zwar weit gesprungen, aber man könnte sich vorstellen, dass wir künftig gar nicht die echten Daten verwenden, sondern synthetische, die in Struktur und Aussage nicht von den echten Daten zu unterscheiden sind. Das könnte ein Lösungsansatz sein – man speichert den Algorithmus, mit dem die synthetischen Daten erzeugt werden und kann damit die eigentlichen Daten wieder rekonstruieren. Das sind Methoden, über die wir gerade nachdenken. Wichtig ist, diese Herausforderungen vielschichtig anzugehen. Wir reden von Produktionstechnik, aber das geht weit über die Maschine hinaus. Der Forschungsbedarf ist hier aber noch riesig.

Laufen wir nicht Gefahr, dass ein Datengau alles zusammenbrechen lässt?

Absolut. Die Gefahr ist mehr als real. Deshalb müssen wir das Risikomanagement von IT-Prozessen unbedingt ins Ingenieurstudium integrieren. Der heutige Nachwuchs ist in einer digital geprägten Welt aufgewachsen. Viele erfassen die Gefahren nicht, die damit verbunden sind. Folglich denken sie auch nicht darüber nach, wie sie sich beherrschen lassen. Die infrastrukturelle Sicherheit muss weit oben auf unserer Prioritätenliste stehen. Gerade auch in der Produktionstechnik. Wenn ein Unternehmen aufgrund einer Störung oder eines Cyberangriffs Tage oder gar Wochen nicht arbeitsfähig ist, dann ist das eine Katastrophe. Wir brauchen Mechanismen, das abzusichern.

Wo sehen Sie noch Potenzial, Produktionsprozesse weiter auszureizen?

Vor 30 Jahren haben wir das Toyota-Produktionssystem eingeführt. Zu dessen Merkmalen gehört, dass es Hardware-getrieben extrem zuverlässig und mit geringer Streuung funktioniert. Das war schon ziemlich cool. Jetzt haben wir aber die Rechenleistung, um große Datenmengen zu verarbeiten. Damit könnten wir beispielsweise eine deutlich höhere Prozessvarianz zulassen. Das heißt, wir können viel mehr Varianten eines Produkts auf einer Linie fertigen, bei Störungen der Lieferketten die Montagereihenfolge anpassen oder bei Bedarf sogar alternative oder gebrauchte Komponenten verbauen. Wir haben jetzt die Werkzeuge, um bei einer hohen Bandbreite unterschiedlicher Einflussfaktoren trotzdem noch sehr gute Ergebnisse zu erreichen. Und mithilfe des digitalen Zwillings können wir nach einem Prozessschritt quasi in Echtzeit sagen, ob das Produkt oder die Komponente die Qualitätsanforderungen erfüllt.

Sie verbinden das Upcycling-Konzept auch mit Abomodellen. Glauben Sie wirklich, dass das die Zukunft ist?

Gerade im B2B-Bereich haben Abomodelle große Vorteile. Viele Nutzer brauchen nicht das Produkt, sondern dessen Funktion. Die Lufthansa braucht nicht die Flugzeugturbine sondern deren Antriebsleistung. Auch bei Produktionsanlagen machen solche Modelle Sinn. Sie bieten die Möglichkeit, die Fabrikausstattung viel einfacher an den jeweils aktuellen Bedarf anzupassen. Und auch für den Endverbraucher hat das Konzept durchaus Charme, weil er Produkte, die er nicht mehr braucht oder nicht mehr haben will oder die nicht mehr wie gewünscht funktionieren, einfach zurückgeben oder gegen ein neuwertiges eintauschen kann. Trotzdem glaube ich nicht, dass Abomodelle eine Lösung für alle Probleme sind.

Die Prozesse werden immer weiter an die Grenze des Machbaren getrieben – wie lässt sich sicherstellen, dass sie beherrschbar bleiben?

In der Vergangenheit stand die Prozessfähigkeit im Vordergrund. Indem wir die Rahmenbedingungen in einem engen Korridor hielten, haben wir uns bemüht, Störungen zu vermeiden. Heute müssen wir uns zwei Herausforderungen stellen: Die größere Varianz der Eingangsgrößen verlangt noch mehr Flexibilität, und wenn wir die Effizienz weiter steigern wollen, nähern wir uns immer weiter den technischen und physikalischen Grenzen. Hier können uns digitale Modelle helfen, bereits im Vorfeld zu prüfen, ob die geplante Prozessführung innerhalb der vorgegebenen Grenzen möglich ist und – falls nicht – alternative Prozessführungen zu untersuchen. Gute virtuelle Modelle sind die Voraussetzung – nicht nur um die Produktqualität vorherzusagen, sondern auch um Störungen in der Produktion bereits im Vorfeld zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern.

Welche Rolle spielt dabei Quantentechnologie?

Quantentechnologie wird kommen. Allerdings ist sie noch zu neu, um auf dem AWK‘23 schon eine Rolle zu spielen. Ich glaube nicht, dass wir hier in den nächsten ein oder zwei Jahren den großen Durchbruch erleben werden, wohl aber in den nächsten zehn Jahren. In den 2030er-Jahren werden wir uns sicher über Quanten-Computing und Quanten-Sensoren unterhalten.

Erstmals wird es beim AWK Co-Hosts geben. Was sind die Gründe für diese Neuerung?

Die Co-Hosts sollen für eine Multiplikatoren-Wirkung sorgen. Wir wollen unsere Ideen nicht nur im akademischen Umfeld präsentieren, sondern sie in die Breite tragen. Deshalb haben wir gezielt Partner angesprochen, von denen wir glauben, dass sie gute Multiplikatoren sind. Wir sind dabei überzeugt, dass unsere Co-Host unsere Vorstellungen teilen und sich bereits aktiv auf dem Weg zum Gewinnen einer „Grünen“ produktionstechnischen Zukunft befinden.

Am Ende der Sessions wird es erstmals Podiumsdiskussionen geben. Warum?

Mit dem neuen Format wollen wir ein verbindendes Element schaffen, das wesentliche Inhalte der beiden zuvor stattfindenden Sessions für alle Teilnehmer nochmal zusammenfasst. Damit reagieren wir darauf, dass viele Teilnehmer immer wieder bedauert haben, die Inhalte der parallel stattfindenden Session nur eingeschränkt nachverfolgen zu können – wo doch alle vier Sessions mit hochkarätigen Informationen gespickt sind.

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