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Leichtbau nutzt zunehmend CO2-Bilanzen

Technologietag Leichtbau BW: Das Bilanzieren kommt
Leichtbau nur mit CO2-Bilanz

Leichtbau nur mit CO2-Bilanz
In diesem Jahr fand der Technologietag Leichtbau hybride und erstmalig als Global Lightweight Summit statt. Rund 130 Interessierte nahmen am Kongress teil. Bild: Leichtbau BW GmbH
Der „Technologietag Leichtbau 2021“ im November deutete eine Trendwende an: Es geht im Leichtbau nicht mehr nur um Gewichtsreduktion. Künftig hinterfragt sich der Leichtbau selbst und prüft über Bilanzen, ob er wirklich CO2 reduziert. Wo ihm dies nachweislich gelingt, hat er unschlagbare Argumente in der Hand.

» Olaf Stauß, Redakteur im Konradin-Verlag

„Nachhaltigkeit durch Leichtbau“ war der Leitgedanke des achten Technologietags der Leichtbau BW GmbH. Das Thema ließ erahnen, dass die immensen Potenziale von Gewichtsminimierungen zur Sprache kommen. Und Geschäftsführer Dr. Wolfgang Seeliger ließ sich nicht nehmen, dafür Impulse zu liefern, indem er bei der Begrüßung mit einer Hochrechnung konfrontierte: Fünf ausgewählte Unternehmen aus dem baden-württembergischen Netzwerk könnten mit ihren Leichtbau-Lösungen jährlich etwa 36 Mio. t CO2 einsparen, um Klimaschutzziele zu verwirklichen. „Das ist vergleichbar mit den nationalen Treibhausgas-Emissionen von Ländern wie Schweden oder der Schweiz“, so Seeliger.

Dennoch bestimmten nicht Begriffe wie Gewichtseinsparung oder Massereduktion das Vokabular der Tagung, das Buzzword war „Bilanz“. CO2-Bilanzen tauchten an allen Ecken und Enden auf, in Vorträgen und in Fachgesprächen. „Bilanzen für mehr Nachhaltigkeit sind alltäglich in unserer Forschungsarbeit und auch in Industrieprojekten“, bestätigte etwa Felix Baumgärtner vom Institut für Kunststofftechnik IKT die Situation in der Forschung.

VDMA-Leichtbau fokussiert Nachhaltigkeit

Für die VDMA-AG Hybrider Leichtbau sagte ihr Vorsitzender Marc Kirchhoff, die Arbeitsgemeinschaft habe dieses Jahr ihre Aktivitäten auf das Thema Nachhaltigkeit fokussiert. Der Maschinenbau sei technologisch in der Lage, klimafreundliche Lösungen zu forcieren. Aber auch er sieht als zentral an: „Der CO2-Fußabdruck muss messbar und vergleichbar sein, am besten weltweit.“

Zum Kronzeugen für diese Notwendigkeit wurde Prof. Frank Henning, Leiter des Fraunhofer ICT, in der Session „Produktion für den kreislauffähigen Leichtbau“. Wo Schmerzpunkte liegen, erklärte er in seinem Beitrag „Hybrider Leichtbau als Instrument zu mehr Nachhaltigkeit – wenn da nicht das Recycling wäre“. Hybride Systeme bieten ein großes Potenzial zur Gewichtsreduktion durch Kombinieren von Faserverbundkunststoff-, Vlies-, Schaum- und/oder Metallstrukturen. Doch das schwierige Entsorgen und Wiederverwerten stellen ihre Nachhaltigkeit in Frage. Das ICT erstellte dafür Bilanzen. So zeige sich bei Hightech-Komponenten, dass ihr Transport kaum und ihre Herstellung nur untergeordnet ins Gewicht fielen. „Die Nutzungsphase steht im Vordergrund“, fasst Henning die Erfahrungen am Fraunhofer ICT zusammen. „Wir müssen die Systeme ganzheitlich bewerten und bemessen.“

Nutzungsphase dominiert CO2-Bilanz

Eine hybride Flugzeugsitzstruktur auf Basis von Carbonfaser-verstärktem Kunststoff (CFK) schneidet zum Beispiel schlechter ab als eine mit Aluminium, solange nur der Herstell- und (teils chemische) Recycling-Prozess betrachtet wird. Geht die achtjährige Nutzungsphase in die Rechnung mit ein, sieht es anders aus: Die Sprit-Ersparnisse durch das reduzierte Gewicht gleichen das Manko mehr als aus und sorgen für einen besseren CO2-Footprint. Noch günstiger fällt das Ergebnis bei einer Blattfeder aus Glasfaser-verstärktem Kunststoff (GFK) aus, die eine Metallfeder ersetzt. Im Projektbeispiel des ICT senkt sie das Gewicht um 60 % und kann durch mechanisches Recycling zusätzlich neuwertiges Spritzguss-Granulat aufmischen, wenn das Lebensdauer-Ende erreicht ist.

Erst die Bilanzierung bringt Licht in die komplexen Zusammenhänge. Sie deckt auch auf, wo noch Aufgaben zu lösen sind. „Das muss immer mehr in die Köpfe der Ingenieure gelangen“, sagte Prof. Henning. Doch dieser Prozess ist schon im Gange. Das bestätigte Dr. Marco Schneider, der die Session moderierte, Leiter Leichtbautechnologien am Fraunhofer IPA. „Die Zielgrößen und -kriterien ändern sich“, konstatierte er. Seien es gestern Wirkungsgrade (und dafür reduzierte Massen) gewesen, ist es heute der CO2-Fußabdruck – als eine umfassendere Bilanz.

Der Leichtbau braucht die Bilanzen

Für diesen Ansatz steht auf dem Technologietag kein zweiter wie Dr. Matthias Harsch. Harsch hat vor 28 Jahren mit dem Bilanzieren begonnen und sich vor 20 Jahren mit der LCS Life Cycle Simulation GmbH selbständig gemacht. „Die Forstwirtschaft ist der einzige Zweig, der einen negativen CO2-Fußabdruck hat“, sagte er. „Deswegen müssen wir Kreisläufe schließen und Bilanzen erstellen.“ Mit Öko-Bilanzen könnten Unternehmen viel mehr erreichen als mit Kostenbetrachtungen – nicht nur wegen des CO2-Emissionspreises. Denn sie eröffneten Einblicke in die Nutzungsphase beim Kunden und damit die Chance, auf ökologische und andere Defizite zu reagieren. „Wir haben alle Technologien dafür verfügbar. Wir müssen es nur tun.“ Will der Leichtbau die CO2-Emissionen wirklich verringern, kommt er am Bilanzieren nicht vorbei.

LCS liefert Software-Tools als Kundenlösungen, um Bilanzen zu erstellen. Oft führen sie zu überraschenden Erkenntnissen. Von Leichtbau BW hat Harsch zum Beispiel den Auftrag erhalten, die „ThinKing“-Leichtbaupreise zu bewerten. Als Highlight entpuppte sich eine additiv gefertigte Ausblasdüse, mit der Burgmaier Technologies störende Späne beim Drehen beseitigt. Die geniale Düse beendet häufige Maschinenstillstände und kann so in ihrer Nutzungsphase 9147 kg CO2 einsparen. Im Vergleich dazu: Die Dipl.-Ingenieure Rainer & Oliver Puls GmbH entwarf einen Elektroantrieb für Nutzfahrzeuge, der durch Funktionsintegration um 80 % leichter ist. Diese beeindruckende Entwicklung reduziert CO2-Emissionen schon in der Herstellung und noch mehr in der Nutzung. Insgesamt spart sie laut Bilanz 8733 kg CO2 ein – ein tolles Ergebnis, aber in der Summe weniger als die unscheinbare Düse.

Auch eine schlechte Bilanz hilft weiter

Selbst wenn eine Bilanz zu einem ungünstigen Ergebnis führt, sei sie von Vorteil, argumentiert Dr. Harsch. Denn dann dient sie zur Warnung, einen Ansatz nicht oder anders weiter zu verfolgen. Den CO2-Preis von zurzeit 25 Euro/t hält er für viel zu niedrig, um Veränderungen für das Klima zu erreichen. 100 Euro/t würde er für sinnvoller halten. Doch er glaubt, dass die Entwicklung sich beschleunigt. Sein Tipp: „Warten Sie nicht darauf, bis es soweit ist. Seien Sie Vorreiter.“

Bosch gilt schon seit 2020 als klimaneutral. 46 % der Firmen in Deutschland haben laut Bitcom angegeben, zu welchem Zeitpunkt sie klimaneutral werden wollen. Die Hälfte unter ihnen will es bis spätestens 2030 schaffen. Auch ihre Zulieferer werden davon betroffen sein. Damit kommt eine Dynamik in Gang, die CO2-Bilanzen unverzichtbar macht. Über kurz oder lang werden sie zum Grund-Handwerkszeug eines jeden Ingenieurs.

3D-Druck könnte nachhaltiger sein

Für den Leichtbau bedeutet dies, dass er sich selbst hinterfragt, ob er wirklich CO2 reduziert, um so eine höhere Stufe zu erklimmen – mit dann unschlagbaren Argumenten. Das machte die ELA-Session (European Lightweight Association) auf dem Technologietag deutlich. Drei der vier vorgestellten Projekte nutzen den 3D-Druck und seine Gestaltungsfreiheit, um Leichtbau zu verwirklichen. Doch auch der 3D-Druck könnte noch nachhaltiger werden: Der Prozess ist energieintensiv und teils landet nur ein Bruchteil des Rohmaterials im Bauteil.

Umso mehr mühen sich die Forscher und Ingenieure, den Prozess so nahe wie möglich an reale Fertigungsbedingungen heranzuholen. Für Bayern Innovativ stellte der Lehrstuhl für Kunststofftechnik (LKT) Erlangen beispielsweise eine „Dual Robot Machine“ vor. Der erste Roboter kann additiv Granulat mit Extrudern verarbeiten und eine Endlosfaser oder Draht verlegen. Der zweite Roboter übernimmt die subtraktive Nachbearbeitung. Die Forschungsanlage arbeitet mit einer Sinumerik-Steuerung und ist mit unzähligen Stellhebeln ausgestattet, um den Prozess für Anwendungen maßschneidern zu können. Dazu gehören variable Materialien und Temperaturen bis 400 °C, diverse Hitzezonen, das Schäumen, das Positionieren von Einlegeteilen, ein offenes Datensystem und mehr. Machbar wäre etwa die Produktion einer leichten B-Säule. Das Projekt ist DFG-gefördert. Ob Leichtbauteile eines Tages so produziert werden? Es könnte auch eine Frage der Bilanz werden.

Kontakt:
Leichtbau BW GmbH
Landesagentur für Leichtbau Baden-Württemberg
Breitscheidstraße 4
70174 Stuttgart
Tel.: +49 711 128988–40
www.leichtbau-bw.de

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