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Energieeffizienz: Nutzung industrieller Abwärme bietet viel Potenzial

Energieeffizienz
Nutzung von industrieller Abwärme bietet reichlich Potenziale

In Europa stehen große Wärmemengen aus der Industrie zur Verfügung. Sie werden nur selten genutzt, obwohl die Technik dazu bereits vorhanden wäre. Wie das gehen kann, welche Potenziale hier bracht liegen und welche Herausforderungen dabei zu bewältigt sind, zeigen einige Leuchtturmprojekte.

» Tobias Meyer, freier Autor für den Industrieanzeiger

Energieintensive Industriestandorte aus den Branchen Chemie, Eisen und Stahl, Zement, Glas, Papier sowie Raffinerien produzieren vor allem durch Rauchgase viel überschüssige Wärme, die derzeit aber nur selten genutzt wird. Denn häufig ist das nicht einfach so machbar: Das Temperaturniveau ist niedrig, die Abwärme fällt dezentral oder unregelmäßig an und ist teilweise stark verschmutzt. „Dennoch gibt es bereits einige Leuchtturmprojekte, an denen wir auch beteiligt sind“, sagt Sven Schreiber, Geschäftsführer der Alfa Laval Mid Europe GmbH. Denn das Unternehmen ist unter anderem auf Wärmetauscher spezialisiert und berät Kunden auch hinsichtlich deren Potenzials im Bereich Abwärmenutzung.

In Hamburg hat man das bereits komplett umgesetzt: Die Kupferhütte Aurubis nutzt nur etwa ein Viertel ihrer Abwärme intern, mit dem Rest versorgt sie seit 2018 durch eine 3,7 km lange, neu gebaute Leitung die östliche HafenCity. Dieser erste Strang spart jährlich etwa 20.000 t Kohlendioxid-Ausstoß ein. Außerdem muss das Unternehmen kein Kühlwasser mehr aus der Elbe entnehmen. Ab der Heizperiode 2024/25 sollen dann bereits rund 20.000 weitere Hamburger Haushalte mit Industriewärme aus der Kupferproduktion beliefert werden. So könnten jedes Jahr bis zu 100.000 t CO2-Emissionen in der Hansestadt eingespart werden. Die angestrebte Wärmelieferung stelle nach Aussage des Unternehmens die größte Nutzung von industrieller Abwärme in Deutschland dar.

Sie entsteht in der sogenannten Kontaktanlage, einem Teil der Kupferraffination, in der in mehreren Schritten durch eine exotherme chemische Reaktion Schwefelsäure hergestellt wird. Für den Fernwärmetransport muss das heiße Wasser eine Ausgangstemperatur von 90 °C haben. Um das zu erreichen, musste Aurubis einen komplett neu konstruierten Zwischenabsorber errichten, in dem die Prozesstemperatur bei der Schwefelsäureherstellung nicht wie bisher 50 °C, sondern 120 °C beträgt. Die höhere Temperatur führt aber auch zu einem exponentiellen Anstieg des Korrosionspotenzials der Säure, dem herkömmliche Werkstoffe nicht lange standhalten würden: Die hochkonzentrierte Schwefelsäure ist so aggressiv, dass sie sogar Stahlblech perforiert. Dies stellte neben dem Druck und der Hitze eine große Herausforderung dar.

Um die hohen Anforderungen zu erfüllen, lieferte Alfa Laval acht semigeschweißte Plattenwärmetauscher, speziell angepasst an die anspruchsvolle Prozessumgebung. Die Plattenbleche der Sonderkonstruktionen bestehen aus Hastelloy D-205, einer besonders korrosionsbeständigen Nickelbasislegierung. Die Wärmetauscher bieten konstruktionsbedingt eine Temperaturannäherung von 3 °C. Das Wasser ist deshalb nach dem Wärmetausch nur wenige Grad kühler als die Säure. Aurubis hat rund 20 Mio. Euro für den Umbau der Anlagen sowie die Verlegung der Wärmeleitung an die Werksgrenze investiert, nochmals 16 Mio. kamen vom zuständigen Energiedienstleister Enercity. Die Erfahrungen werden auch in das Forschungsvorhaben Norddeutsches Reallabor eingebracht, um einen Transfer für weitere Projekte dieser Art zu ermöglichen.

Potenziale aufzeigen

Um das bisher meist ungenutzte Potenzial der industriellen Abwärme europaweit abschätzen zu können, verzahnt ein Konsortium aus Universitäten und Forschungseinrichtungen wie dem Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI verschiedene Datenbanken im EU-Projekt sEEnergies. Inzwischen wurden über 1800 Industriestandorte integriert. Dabei wurde klar: In Deutschland entstehen mehr als 35 % der industriellen Abwärme maximal zehn Kilometer von bestehenden Fernwärmesystemen entfernt und könnten somit etwa eine halbe Million Haushalte versorgen.

Die Information über mögliche Abnehmer in der Nähe allein reicht jedoch nicht. Denn oft sind sich die Firmen schlicht nicht bewusst, welche Energiemengen sie eigentlich verschenken: „Das Thema Nachhaltigkeit ist vor allem in den Management-Ebenen seit Längerem angekommen, CO2-Preise sind relevant fürs Geschäft. Dort weiß man aber selten über die entstehende Abwärme Bescheid, da das kein allgegenwärtiger Wert wie Strom- oder Wasserverbrauch ist. Einschätzen können das eher die für den Shopfloor verantwortlichen Spezialisten, welche aber meist nicht in den Meetings zur Nachhaltigkeitsstrategie sitzen“, sagt Sven Schreiber. Wie so oft ist also interdisziplinäre Kommunikation über verschiedene Ebenen notwendig. „Hier muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, das merken wir auch bei unseren Kunden immer wieder.“ Das bestätigt auch eine Potenzialstudie aus Nordrhein-Westfalen, wonach 42 % der befragten Unternehmen unentschlossen seien, was die Nutzung von Abwärme betrifft. 35 % sind generell am Thema interessiert, 12 % würden sogar Wärme aufnehmen wollen.

Strom aus Wärme

Ein Grund für die fehlenden Begeisterungsstürme ist zudem, dass ein angeschlossenes Nahwärmenetz zusätzliche Abhängigkeit bedeutet. Feste Lieferzusagen schrecken wohl einige noch ab. Zudem ist eine Herausforderung für den Betreiber die steigende Komplexität. Denn zusätzlich zu seiner Produktionsanlage muss er sich nun noch um Komponenten kümmern, die mit seiner Wertschöpfung nichts zu tun haben. Ein separater Business-Case durch die verkauften Kilowattstunden rechtfertigt nicht immer sofort ein zusätzliches Risiko im Hauptgeschäft.

Strom für viele Haushalte

Als Wärmesenke – also einen Abnehmer für die Energie – braucht es aber nicht zwangsläufig ein Nahwärmenetz. Auch intern können oft Verwendungen gefunden werden, etwa zur Gebäudeheizung der Büros und Hallen oder als Prozesswärme. Außerdem kann auch eine Verstromung über das Organic-Rankine-Cycle-Verfahren (ORC) erfolgen. Lösungen dafür hat beispielsweise Orcan Energy aus München parat: Würde man die komplette industrielle Abwärme Deutschlands in ihre Anlagen einspeisen, könnten sie 18 % der hiesigen Haushalte mit Strom versorgen, so das Unternehmen.

Die ORC-Technik basiert auf einer Turbine, die mit einer bereits bei niedrigen Temperaturen verdampfenden Spezialflüssigkeit arbeitet. Dass dadurch der Wirkungsgrad je nach Abwärmetemperatur nur zwischen 10 und 20 % liegt, fällt nicht sehr stark ins Gewicht, da die eingesetzte Energie vorher gar nicht genutzt wurde. So können auch kleinere Abwärmemengen verstromt werden. Zum Einsatz kommen die Systeme etwa bereits auf dem Dach eines Automobilzulieferers oder bei BASF. Hier empfiehlt sich jedoch eine innerbetriebliche Nutzung des Stroms, da eine Einspeisung zu Großmarktpreisen laut Fraunhofer ISI nicht wirtschaftlich sei. Größere Anlagen mit Containermaßen sind etwa in einem Zementwerk (8 GWh Strom pro Jahr), einem Recyclingunternehmen (1,5 GWh) oder einer Zinkhütte (5 GWh) installiert. Allein in der Zementindustrie könnten nach Schätzung von Orcan Energy mit Abwärmelösungen insgesamt weltweit 82.000 GWh Strom – das entspricht 25 Millionen 3-Personen-Haushalten – erzeugt und 36 Millionen Tonnen CO2 eingespart werden.

Abwasser stark unterschätzt

Bei Alfa Laval steht neben der Abwärme noch ein weiteres Thema auf der Agenda, das künftig immens wichtig werden könnte: Die Wiederaufbereitung von Abwasser. Am eigenen Servicestandort für Plattenwärmetauscher in Frechen bei Köln konnte man den Wasserverbrauch um bis zu 95 % senken. Denn das Brauchwasser – beispielsweise aus der Waschanlage mit einem Verbrauch von bis zu 1400 l/min – wird aufbereitet und wiederverwendet. Ab spätestens 2030 möchte man das gesamte, in allen Prozessen des Unternehmens entstehende Abwasser, das in Regionen mit Wasserknappheit anfällt, recyceln. Da das Wasser dazu in einem großen Tank gesammelt wird, böte sich hier auch gleichzeitig das Thema Abwärmenutzung an.

Ganz trocken legen sollten wir die Kanalisation aber nicht, denn auch sie könnte für den künftigen Energietransfer ein geeigneter Kandidat sein: So müssten keine neuen Leitungen verlegt werden, als Träger funktioniert das Abwasser. Untersucht wird das derzeit im Projekt InnoA2 der Technischen Universität Kaiserslautern. Es wird dabei kein zusätzliches Wasservolumen in die Kanalnetze eingeleitet, sondern lediglich die im Kühlwasser gespeicherte Energie über Wärmetauscher dem vorhandenen Abwasserstrom zugeführt. An beliebiger Stelle stromabwärts kann die Wärme wieder entnommen und genutzt werden.

Pia Manz, Projektleiterin am Fraunhofer ISI betont: „Der ambitionierte Ausbau von effizienten Fernwärmenetzen und die Anbindung industrieller Abwärmequellen an Fernwärmesysteme sollten zentrale Elemente beim Übergang zu einer nachhaltigen und CO2-neutralen Wärmeversorgung in Europa sein. Dafür müssen Hemmnisse abgebaut werden, beispielsweise durch einen Marktzugang zu Wärmenetzen für Dritte und eine Absicherung von langfristigen Lieferverträgen durch Ausfallversicherungen. Industrielle Abwärme alleine wird jedoch nicht ausreichen: Die Hauptquelle für Fernwärme müssen zukünftig Erneuerbare Energien sein, in Kombination mit Großwärmepumpen und dezentralen Wärmepumpen.“


Alexander Gölz, Chefredakteur Industrieanzeiger
Bild: Tom Oettle

Anreize für Eigennutzung schaffen

Selbst kleine Firmen wie Spritzguss-Zulieferer könnten ihre Abwärme geschickter nutzen, etwa durch ORC-Verstromung und anschließende Eigennutzung sowie Heizung der Geschäftsräume, auch über die eigenen Firmenwände hinaus. Durch passende Fördertöpfe muss das auch nicht alleine gestemmt werden. Um dieses Potenzial zu heben, braucht es aber auch politische Weichenstellungen. So könnten auch für CO2-Emissionen, die außerhalb des Firmengeländes vermieden werden, kostenlose Zertifikate für den EU-Emissionshandel zugeteilt werden.

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