Dass der Ausbau der deutschen und europäischen Stromnetze kaum mit dem Boom der regenerativen Energiequellen mithalten kann ist bekannt. Die Hochspannungsübertragungsnetze werden nach Experten-Ansicht schon heute an den Grenzen ihrer Stabilität betrieben. Netzleitstellen mit den vorhandenen Überwachungs- und Kontrollfunktionen bieten momentan noch genügend Schutz. Doch die Netzbetreiber werden sich beim Betrieb ihrer Systeme nicht mehr lange auf einfache Datenerfassung, bewährte Regeleinrichtungen und statische (n-1)-Analysen verlassen können.
Neue Funktionen, die unter Einsatz moderner Betriebsmittel den Netzsystemzustand stabil halten können, gewinnen deshalb zunehmend an Bedeutung. Bisher unbekannte dynamische Vorgänge im Netz müssen künftig schneller erkannt werden und durch genauso schnelle Reaktionen zu stabilen Netzen führen. Jedoch wissen Netzbetreiber heute noch nicht genau, welche Aufgaben auf sie zukommen. Die Gründe hierfür liegen nicht nur an der dezentralen Energieeinspeisung und dem sukzessiven Wegfall konventioneller Kraftwerke, sondern auch an der Kombination von Drehstrom- und Gleichstromsystemen. Wichtig ist daher zunächst neue Strategien zur zukünftigen Netzleitung zu entwickeln und marktreif zu machen.
Ziel: stabiles Hochspannungsnetz
Der Siemens-Konzern hat gemeinsam mit den Universitäten Magdeburg, der Ruhr-Universität Bochum und der technischen Universität Ilmenau sowie den Fraunhofer-Instituten in Magdeburg und Ilmenau im Rahmen des Forschungsprojekts „DynaGridCenter“ eine dynamische Netzleitwarte als weltweit erste ihrer Art in Betrieb genommen. Ziel des Projekts ist, auf die sich ändernden Anforderungen im Netz schnell reagieren zu können.
Um in Ilmenau unter realen Bedingungen arbeiten zu können wird die Netzleitwarte mit einem Netzmodell an der Universität Magdeburg informationstechnisch verbunden. Das Netzmodell schickt seine Messdaten nach Ilmenau, wo sie in Echtzeit ausgewertet werden, um auf Basis der Ergebnisse das Magdeburger Modell dynamisch zu führen.
„Ein vorrangiges Ziel war es, quasi einen Autopiloten für das Übertragungsnetz zu entwickeln, um das System ‚Hochspannungsnetz‘ selbsttätig so zu regeln, dass der Betrieb jederzeit möglichst ruhig und stabil bleibt. Das frühzeitige Erkennen von Hindernissen oder Störungen ist dabei zwingend notwendig, damit der Operator in der dynamischen Netzleitwarte die aktuelle Situation im Netz erkennt. Wir geben ihm Maßnahmen an die Hand, damit er das tun kann, was heute so nicht möglich ist: Auf verifizierte dynamische Netzzustände gezielt zu reagieren“, erklärt Prof. Rainer Krebs, Leiter der Fachabteilung für schutz- und leittechnische Systemstudien in der Siemens-Division Energy Management.
Für Krebs ist klar, dass der Übergang von der analogen zur digitalen Netzwelt der entscheidende Schritt zum Erfolg sein wird. Auch hier wird es, wie der Siemens-Manager betont, eine Fülle von Daten geben, die nur mit neu entwickelten Algorithmen und Software-Entwicklungen in den Griff zu bekommen sind. Technische Grundlage und Basis für die Forschungsarbeiten zum angestrebten Ziel sieht er im Control Center Spectrum 7 von Siemens. „Die Algorithmen werden auf dieser Basis entwickelt und eines der Ziele des Projekts ist auch, herauszufinden, wie lange eine Control-Center-Struktur von heute zukünftig verwendet werden kann und welche Anforderungen auch an die Hardware der Zukunft gestellt werden müssen“. Der Experte sieht gleichzeitig Systeme, wie das erste dynamische Assistenz- und Informationssystem Sigurad DSA, das bereits schon jetzt für alle Control-Center-Hersteller verfügbar ist. Das System wurde etwa in der neuen Leitwarte des Netzbetreibers 50 Hertz in Berlin integriert. Bis jedoch die ersten zentral gesteuerten Closed-Loop-Regelungen bei einem Übertragungsnetzbetreiber in Betrieb gehen werden, wird es nach Ansicht von Krebs noch einige Jahre dauern.
Bei der Kombination von Drehstrom- und Gleichstromsystemen wiederum liegen noch keine Erfahrungen vor, wie sich zum Beispiel Fehler auf der Gleichstromseite auf das Gesamtsystem auswirken. Hier ist die Frage, wie Kurzschlüsse zwischen Gleichstrom- und Drehstromnetz beherrscht werden können, von hoher Bedeutung. Am Institut für Energiesystemtechnik und Leistungsmechatronik der Universität Bochum forscht das Team um Prof. Volker Staudt an Grundlagen auf diesem Gebiet. Damit sollen solche kombinierten Netze mit möglichst wenig Raumbedarf bei gleichzeitig hoher Wirtschaftlichkeit geschaffen werden, erklärt der Professor. In Zusammenarbeit mit dem Netzbetreiber Amprion wurden Erkenntnisse gesammelt, die auch in Ilmenau helfen sollen, schwierige Situationen im Hochspannungsnetz zu entschärfen.
Das Forschungsprojekt in Kürze:
- Start „DynaGridCenter“: Oktober 2015
- Laufzeit: Drei Jahre
- Beteiligte: Siemens AG (Koordinator), Universität Magdeburg, TU Ilmenau, Ruhr-Universität Bochum, Fraunhofer-Institute in Magdeburg und Ilmenau
- Projektpartner: 50 Hertz Transmission, Transnet BW, Tennet, Amprion
- Förderung: Rund 5 Mio. Euro vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi)
- Projektvolumen: 7,2 Mio. Euro
- Weiter Informationen: www.forschung-stromnetze.info