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Langsam, aber sicher auf die Überholspur

Elektromobilität in Deutschland
Langsam, aber sicher auf die Überholspur

Die Elektromobilität ist auf deutschen Straßen noch nicht angekommen. In den Hallen der Automobilindustrie wird dagegen mit Hochdruck an der alternativen Antriebstechnik sowie der dafür notwendigen Infrastruktur gefeilt. Vor allem die Zulieferindustrie entpuppt sich dabei als Technologietreiber.

„Elektrisches Fahren ist keine Vision mehr, sondern Realität“, sagte Matthias Wissmann, Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA), auf dem „Fachkongress Elektromobilität“ im Rahmen der diesjährigen Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main. „Bis Ende 2014 werden 16 elektrifizierte Serienmodelle ‚Made in Germany‘ im Handel sein, die rein batterieelektrisch betrieben werden oder mit einer Kombination aus Elektro- und Verbrennungsmotor ausgestattet sind.“ Die steigende Anzahl von Fahrzeugmodellen werde der Elektromobilität einen weiteren Schub geben, so Wissman weiter.

Im kommenden Jahr könnten einige zehntausend Fahrzeuge verkauft werden – Mitte des Jahrzehnts möglicherweise auch schon eine sechsstellige Zahl. Zudem wird die deutsche Automobilindustrie nach Angaben des VDA allein in den nächsten drei bis vier Jahren 12 Mrd. Euro in die Entwicklung alternativer Antriebe investieren.
Während der deutsche Autofahrer noch zurückhaltend auf die Stromer reagiert – derzeit werden laut Kraftfahrt-Bundesamt gerade einmal 3000 reine Elektroautos pro Jahr in Deutschland zugelassen – befindet sich die hiesige Automobilindustrie auf der Überholspur: Laut dem Electric Vehicle Index (EVI) der Unternehmens- und Strategieberatung McKinsey könnte die Bundesrepublik in den nächsten Jahren zu einem der weltweit wichtigsten Produktionsstandorte für die E-Mobility aufsteigen. „Nach unserer Prognose für 2018 wird Deutschland die USA in der Produktion von E-Fahrzeugen überholen“, erläutert Christian Malorny, Direktor im Berliner Büro von McKinsey und Experte für Elektromobilität. Rund 370 000 E-Fahrzeuge würden dann in Deutschland hergestellt gegenüber 268 000 in den USA und nur 74 000 in Frankreich. Wichtigstes Produktionsland werde Japan mit prognostiziert 950 000 Elektrofahrzeugen sein.
Eine wichtige Rolle bei der Aufholjagd spielt zunehmend die Zulieferindustrie. Wurde ihr 2011 vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) noch eine „zurückhaltende Innovationsanstrengung“ attestiert, zählen viele Unternehmen der Branche inzwischen zu den Treibern neuer Antriebstechnologien.
Ein Beispiel dafür ist der Konzeptwagen „Innovationsträger“ von ZF Friedrichshafen. „Ausgehend von unserer Kernkompetenz bei Getrieben haben wir in dem Fahrzeug einen kompletten rein elektrischen Antriebsstrang geschaffen – inklusive Leistungselektronik und Energiemanagement“, erklärt Dr. Stefan Sommer, Vorstandsvorsitzender des badischen Automobilzulieferers. Doch damit nicht genug: Bei dem Anfang Juni 2013 vorgestellten Konzept ergänzen Leichtbau-Fahrwerkskomponenten den elektrischen Achsantrieb und erhöhen sowohl die Reichweite als auch die Fahrdynamik des E-Fahrzeugs. Der Elektroantrieb ist laut ZF auf künftige Anforderungen im urbanen Verkehr zugeschnitten. Das zentral auf der Achse positionierte Antriebsmodul bietet 90 kW mechanische Leistung und hohe Drehmomente schon bei niedrigen Drehzahlen. Das elektrische Achsmodul kann als effizienter Antrieb für rein elektrische Klein- und Kompaktwagen oder als elektrische Hinterachse im Achshybrid eingesetzt werden.
Die Friedrichshafener haben nach eigenen Angaben die Leichtbaumaßnahmen im Fahrwerk optimal an die spezifischen Anforderungen der Elektromobilität angepasst: Die Gewichtseinsparung trägt direkt dazu bei, die Reichweite oder die Zuladung von elektrisch angetriebenen Pkw zu erhöhen. Gewichtseinsparungen und die Reduktion ungefederter Massen bieten aber auch konventionell motorisierten Fahrzeugen Vorteile, da sie Verbrauchseinsparungen ermöglichen und die Fahrdynamik erhöhen.
An der Vorderachse des ZF-Fahrzeugs übernimmt ein Leichtbau-Federbein-Radträgermodul aus Faser-Kunststoff-Verbund (FKV) Dämpfung und Radführung. Ein spezielles Design sorgt dabei für eine glatte Oberfläche. Die Gewichtseinsparung ist enorm: Im Vergleich zur Standardausführung aus Stahl sind es bis zu 40 %. Ebenfalls an der Vorderachse des Innovationsträgers ersetzt eine Stabilisatoranbindung in Hybridbauweise das konventionelle Bauteil aus Stahl. Zur Gewichtseinsparung von bis zu 16 % trägt der Einsatz von Kohlefaser (CFK), spritzgegossenem Polyamid und hochfestem Stahl bei.
Mit einer neuartigen Verbundlenker-Hinterachse reduzieren die ZF-Ingenieure nicht nur Gewicht, sie steigern damit auch die Variabilität. Denn dank eines Stabilisator-Wechsel-Konzepts lässt sich das Wankverhalten je nach Kundenwunsch unterschiedlich auslegen. Diese Schnittstelle bietet die Möglichkeit, Faserverbund-Stabilisatoren anzubinden und so weiteres Gewicht zu sparen – bis zu 50 % etwa im Falle des CFK-Stabilisators. Die Hinterachse ist aus Stahl und Kohlefaser-Kunststoff-Verbund konstruiert. Kombiniert wird sie mit Leichtbau-Dämpfern. Diese sind durch Einsatz von Aluminium und kunststoffumspritzten Dämpferlagern sowie konstruktive Optimierungen um 25 % leichter als herkömmliche Dämpfer. „In Summe zeigen wir mit dem Innovationsträger unsere Gesamtkompetenz für den Pkw“, resümiert Vorstandschef Sommer.
Eine ähnliche Strategie ist auch beim Stuttgarter Zulieferer Bosch zu beobachten. So verkündete der Leiter der Entwicklung für Elektrische Fahrzeuge und Hybrid-Technologien, Dr. Ingo Ramesohl, auf der IAA: „Mit unseren Stärken in Elektronik und Sensorik sehen wir gute Chancen, die Zukunft des Autos wesentlich mitgestalten zu können.“ Damit Hybrid- und Elektrofahrzeuge mehr Kraftstoff einsparen und so höhere Reichweiten erzielen können, schauen die Bosch-Ingenieure nicht nur auf den Antrieb. Mit dem iBooster haben sie beispielsweise einen elektromechanischen Bremskraftverstärker entwickelt, der den Bremsbefehl des Fahrers situationsabhängig unterstützt und nach eigenen Angaben eine nahezu vollständige Rekuperation der für den Bremsvorgang nötigen Energie ermöglicht. Der Trick dabei ist, dass das Auto mittels der E-Maschine durch die Umwandlung der Bewegungsenergie in elektrischen Strom abgebremst wird. Verzögerungswerte von bis zu 0,3 g werden ausschließlich über die elektrische Maschine erreicht. Dies deckt alle im normalen Straßenverkehr üblichen Verzögerungen ab. Muss dann doch einmal stärker gebremst werden, erzeugt der iBooster den zusätzlich erforderlichen Bremsdruck auf klassischem Weg über den Hauptbremszylinder. Der Fahrer merkt von dem harmonischen Zusammenspiel von Generator und Bremse nichts, das gewohnte Pedalgefühl bleibt vollständig erhalten.
Für die Bremsunterstützung hat Bosch im iBooster einen Elektromotor integriert, der über ein zweistufiges Getriebe die Verstärkung „On Demand“, also situationsgerecht, steuert. Der bislang vom Verbrennungsmotor direkt oder über eine Vakuumpumpe aufwendig und permanent erzeugte Unterdruck ist damit überflüssig. Schon dies allein spart Kraftstoff, und darüber hinaus lassen sich verbrauchsreduzierende Funktionen wie Start/Stopp oder Segeln, bei denen der Motor zeitweise abgeschaltet wird, noch umfassender nutzen.
„Die Elektrifizierung des Antriebsstrangs schreitet in großen Schritten voran. Das heißt, Motor-Start-Stopp-Systeme werden zum Standard, die Wiedergewinnung von Bremsenergie wird auch auf der Straße zu einem Thema und die Zahl der Hybridmodelle nimmt zu“, bekräftigt Prof. Peter Gutzmer, Vorstand für Forschung und Entwicklung beim Branchenriesen Schaeffler. Deshalb habe sein Unternehmen gleich mehrere Entwicklungen angestoßen, um die Technik zu verbessern. Sie reichen von der generellen Optimierung der Komponenten, um die deutlich gestiegene Anzahl der Start-Vorgänge meistern zu können, bis hin zu neuen Lösungen für Start-Stopp-Systeme – von berührungslosen Sensoren, optimierten Lagern und speziell beschichteten Bauteilen über elektromechanische Nockenwellenversteller bis hin zu Druckspeicherventilen sowie Schlüsselkomponenten für Riemenstartergeneratoren und permanent eingespurten Startern.
Die zunehmende Elektrifizierung des Antriebsstrangs kompensiert nach Ansicht von Schaeffler die prinzipbedingten Schwächen des Verbrennungsmotors. Neben bedarfsgesteuerten elektromechanischen Nebenaggregaten beginnt das mit der zunehmenden Leistungsfähigkeit von Start-Stopp-Systemen. Sie entwickeln sich zusehends zu Systemen, die den Übergang in hybrides Fahren ermöglichen. Unterhalb des weiter zunehmenden Segments der Hybridfahrzeuge eröffnet sich durch 48-V-Lösungen ein weiteres Feld. Fahrzeuge mit diesem zweiten Niedervolt-Bordnetz können bereits einige, bislang einzig von Hybridfahrzeugen bekannte Fahreigenschaften bieten: Dazu gehören elektrisches Anfahren sowie das sogenannte Boosten im Fahrbetrieb und Stauschieben im Stop-and-go-Verkehr, aber auch die Rekuperation beim Verzögern. Und gegenüber dem klassischen 12-V-Netz bieten 48-V-Produkte auch eine Leistung von bis zu 12 kW. Hier hat Schaeffler neben leistungsfähigen Aktuatoren, beispielsweise für Fahrwerksanwendungen zur Niveauregulierung und Wankstabilisation, auch Hybridmodule und mehrgängige Antriebselemente im Portfolio.
Egal ob Hybrid- oder Elektrofahrzeug mit Range Extender: Die neuen Antriebskonzepte entwickeln nicht genug Abwärme, um den Fahrzeuginnenraum zu beheizen. Hier setzen die Lösungen von Eberspächer aus Esslingen an. Mit einer neuen Generation von Hochvoltheizern verspricht der Spezialist für Fahrzeugheizungen, für das richtige Klima im E-Mobil zu sorgen. „Unser aktueller PTC Coolant Heater weist wesentliche Optimierungen in Bezug auf Bauraum, Gewicht und Funktion auf“, betont Geschäftsführer Dr. Klaus Beetz.
Bei rund 2,4 kg Gewicht und einer Heizleistung von 7 kW hat das neue Modell ein Einbauvolumen von etwa einem Liter und lässt sich nach Angaben des Unternehmens einfach in den Wärmekreislauf integrieren. Zudem ist es als flexibles Baukastensystem aufgebaut: Die Heiz-, Elektronik- und Befestigungsmodule sind in verschiedenen Varianten erhältlich und erlauben eine schnelle kundenspezifische Anpassung. Eine neu entwickelte Zirkulationskammer, durch die die zu beheizende Flüssigkeit strömt, steigert laut Eberspächer die Effizienz. So soll die Wärmeübertragung über die Heizrippen den Wirkungsgrad des Gesamtsystems auf rund 90 % anheben.
Die Beispiele zeigen, dass die Elektromobilität sich inzwischen zu einem – wenn auch derzeit noch kleinen – florierenden Wirtschaftszweig der deutschen Automobilindustrie entwickelt hat. Noch ist der Markt auf einem niedrigen Niveau, verzeichnet aber hohe Zuwachsraten. Laut VDA haben sich die Verkäufe von elektrisch angetriebenen Fahrzeugen seit 2007 jährlich verdoppelt. „Mit den richtigen Rahmenbedingungen könnte die Zahl der verkauften Elektrofahrzeuge in den kommenden Jahren deutlich erhöht werden“, sagt VDA-Präsident Wissmann. Als Beispiel nennt er unter anderem Steuererleichterungen für Elektrofahrzeuge im Firmenwagensegment. „Die Elektromobilität ist weder im Sprint noch im Alleingang zu bewältigen. Die Herausforderung besteht darin, eine nachhaltige und wirtschaftlich konkurrenzfähige Lösung zu finden, die den Ansprüchen unserer Kunden genügt“, ist Matthias Wissmann überzeugt.
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