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Baden-Württemberg steigt aus

Studie Fraunhofer ISE: Wie erneuerbare Energien die Atomkraft ersetzen können
Baden-Württemberg steigt aus

Noch vor Fukushima legte das Fraunhofer ISE eine Studie vor, nach der die baden-württembergischen Atomkraftwerke bis 2022 durch erneuerbare Energien ersetzt werden können. Inzwischen ist das Konzept brandaktuell. Es setzt auf einen möglichst hohen Anteil an lokaler Stromerzeugung.

Die langfristigen Folgen der Katastrophe von Fukushima sind noch immer nicht absehbar. Doch die Diskussion über die Zukunft der Atomkraftwerke in Deutschland ist spätestens seit dem Desaster von Japan in vollem Gange. Schon Monate vor dem Unglück hatte das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE ein Konzept erarbeitet und der (alten) Landesregierung vorgelegt, das zeigt, wie ein Energiemix basierend auf erneuerbaren Energien in Baden-Württemberg aussehen kann.

Zentrale Erkenntnis der Untersuchung ist, dass die vier Atomkraftwerke Neckarwestheim 1 und 2 sowie Philippsburg 1 und 2 sukzessiv im Zeitrahmen der bisherigen Laufzeiten bis zum Jahr 2022 durch erneuerbare Energien ersetzt werden können. Zugleich können auch Kohlekraftwerke deutlich zurückgefahren werden. Die Wissenschaftler vom Fraunhofer ISE berufen sich dabei auch auf eine Potenzialstudie zu erneuerbaren Energien in Baden-Württemberg aus dem Jahr 2001. Bereits mit den damals vorhandenen Technologien ließe sich der Anteil des regenerativ erzeugten Stroms auf über 50 % steigern. Dies stimmt mit dem aktuellen „Energiekonzept Baden Württemberg 2020“ der alten Landesregierung in den wesentlichen Zielen überein.
Die Studie des Fraunhofer ISE zeigt nun zwei Wege für die nachhaltige Umstellung der Stromversorgung auf. Zum einen den ökologisch orientierten Pfad mit einem schnellen Ausstieg aus der Steinkohle bis 2025 und der verstärkten Nutzung der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplung, zum anderen ein ökonomisch orientiertes Szenario, das die Steinkohle noch bis circa 2045 zulässt. Beide Szenarien legen den Ausstieg aus der Kernenergie bis 2022 nach dem bisherigen Atomausstiegsgesetz von 2002 als Rahmenbedingung fest. Zudem zielen beide Wege auch auf einen möglichst hohen Anteil an lokaler Stromerzeugung durch Investitionen in Photovoltaik, Windenergie und Biomasse.
Der baden-württembergische Anteil an der Stromerzeugung soll dabei deutlich erhöht werden. Gleichzeitig ist beim netto importierten Strom eine drastische Reduzierung vorgesehen – bislang deckte dieser bis zu 30 % des Gesamtbedarfs von etwa 80 Terrawattstunden (TWh). In beiden Szenarien ist die Energieversorgung jederzeit sicher und finanzierbar – und basiert bis 2050 vollständig auf erneuerbaren Energien sowie auf der Kraft-Wärme-Kopplung. Die Untersuchung geht von einer kontinuierlichen Reduzierung des Atomstroms um durchschnittlich 2,5 TWh pro Jahr aus, was einen Ausstieg bis Anfang der 2020er Jahre ermöglicht.
Bereits 2010 waren de facto lediglich drei Atomkraftwerke des Bundeslandes am Netz, da Neckarwestheim 1 nur wenig Strom produziert hatte. Auch die Stromerzeugung der Steinkohle kann jährlich reduziert werden, um 0,75 TWh bei einem ökonomisch orientierten Szenario und 1 TWh bei einer stärker ökologischen Orientierung. Ein Ausstieg ist dann zwischen 2025 und 2045 realistisch.
Der Versorgungssicherheit und einer stärkeren lokalen Erzeugung werden die Studienergebnisse durch Ausbauen der Stromerzeugung aus Sonne und Wind gerecht. Ein Zubau bei der Photovoltaik (PV) und eventuell auch bei solarthermischen Kraftwerken in südlichen Ländern wie Spanien von durchschnittlich 1,5 TWh/Jahr – dies entspricht einem jährlichen Zuwachs an installierter Leistung von etwa 1,5 GW – erlaubt es bereits 2020, gut 25 % des Bedarfs durch Solarstrom zu decken. Der Zubau in Baden-Württemberg lag 2010 bei 1 GW, in Bayern bei 2,4 GW, so dass das gesteckte Ziel von 1,5 GW pro Jahr erreichbar sein sollte.
Ab 2025 kann der Zubau dann sogar auf 0,5 TWh/Jahr reduziert werden. Die konstant fallenden Preise für die Photovoltaik machen diese Technologie jedes Jahr preiswerter und bereits in wenigen Jahren wirtschaftlich. Die sogenannte „Grid-Parity“, also die Gleichheit des Preises für Haushaltsstrom und PV-Strom, wird mit der nächsten Absenkung der EEG-Vergütung am 1. Juli 2011 erreicht sein. Für Industriestrom wird dies zwischen 2014 und 2016 erwartet.
Durch die günstiger werdenden PV-Module wird sich zunehmend auch die Nutzung von Dächern mit östlicher oder westlicher Ausrichtung lohnen. Diese Entwicklung erhöht das bis dato konservativ geschätzte Potenzial der Photovoltaik nochmals erheblich. Gleichzeitig wird Ende der 2020er Jahre das bislang vor allem von der Windenergie gekannte Repowering einsetzen: Neue Anlagen mit höheren Wirkungsgraden ersetzen dann die alte Technik und nutzen die Flächen besser aus. Durch den Zubau der Photovoltaik vermeidet Baden-Württemberg nicht nur Geldabflüsse für fossile oder nukleare Energieträger ins Ausland, sondern profitiert mit seinen zahlreichen Anlagenbauern besonders durch eine hohe lokale Wertschöpfung und neu geschaffene Arbeitsplätze.
Die Windenergie wurde in Baden-Württemberg bisher stark vernachlässigt. Das lokale Potenzial ist acht Mal größer als das bisher genutzte. Auch in Offshore-Windparks in der Nord- und Ostsee sollte weiter investiert werden. Hier hat die EnBW mit dem Bau des Windparks Baltik 1 und weiteren geplanten Anlagen bereits einen guten Weg eingeschlagen. Der Beitrag der Windenergie könnte bis 2040 jährlich um 1 bis 1,5 TWh erhöht werden. Die regionale Verteilung der Windkraftanlagen hilft, lokale Schwankungen der Stromproduktion auszugleichen. Auch die Kraft-Wärme-Kopplung, Pumpspeicherkraftwerke und das voll ausgeschöpfte Potenzial bei Wasserkraft und Biomasse werden dazu beitragen, Schwankungen auszugleichen. Die Kernenergie eignet sich nicht als Brückentechnologie, da sie schlecht regelbar ist und somit die wetterbedingten Schwankungen der erneuerbaren Energien nicht ausgleichen kann.
Die eigentliche Brückentechnologie in ein regeneratives Energiezeitalter ist die teils mit Biogas, teils mit Erdgas betriebene Kraft-Wärme-Kopplung. Ein moderater jährlicher Zubau bis 2020 kann dezentral Industrie und Wohngebäude mit Wärme versorgen sowie Schwankungen beim regenerativ erzeugten Strom ausgleichen. Um den überschüssigen Strom aus Sonne und Wind zwischenzuspeichern, sind große Pumpspeicherkraftwerke oder andere Speicher notwendig. Zudem müssen durch den Ausbau von Hoch- und Höchstspannungsnetzen leistungsfähige Kapazitäten geschaffen werden, um große Strommengen verlustarm und weit transportieren zu können. Dabei kann Solarstrom in sonnenreichen Zeiten windarme Tage im Norden ausgleichen und umgekehrt. Auch eine flexiblere Tarifgestaltung der Strompreise wird helfen, Nachfrage und Angebot besser aneinander anzupassen.
In Baden-Württemberg gibt es also ausreichend Potenziale bei den erneuerbaren Energien, um die Stromversorgung ohne Kernkraft und langfristig auch ohne Steinkohle nachhaltig zu gestalten. Jedoch lassen sich konkrete Handlungsempfehlungen nur dann bestmöglich erarbeiten, wenn es aktuelle und belastbare Daten gibt.
Die Studie des Fraunhofer ISE empfiehlt daher nicht nur eine dringend notwendige Aktualisierung der Potenzialuntersuchung erneuerbarer Energien in Baden-Württemberg. Sondern auch, Szenarien aufzustellen, die von einem weiter steigenden Anteil erneuerbarer Energien ausgehen und gleichzeitig die Verbrauchsentwicklung für die kommenden Jahrzehnte simulieren. Erst dann können die Handlungsempfehlungen präzisiert werden. Sicher ist: Baut das Land die Energieforschung weiter aus, wird es durch eine Umstellung auf eine effizientere Energieversorgung und durch Exportchancen besonders profitieren.
Professor Bruno Burger Abteilungsleiter Leistungselektronik beim Fraunhofer ISE, Freiburg

„Das größte Potenzial hat die Solarenergie“

Nachgefragt

Herr Professor Burger, die Energie-Studie des ISE erstellten sie vor Fukushima. Ist sie bereits überholt?
Keineswegs: Der Atomausstieg ist ja jetzt bis 2022 beschlossen und genau das hatten wir zugrunde gelegt.
Sie wollen auch die Windkraft stark ausbauen. Wird dies nicht die momentanen Stromnetze überfordern im Blick auf Transport und Regelfähigkeit?
Natürlich müssen die Netze ausgebaut werden. Aber es ist ein riesiger Unterschied, ob man einige Kilometer in der Mittelspannungsebene ausbauen muss oder eine komplete Nord-Süd-Trasse legt. Deswegen plädieren wir für möglichst räumlich verteilte Systeme und einen hohen Anteil an lokaler Erzeugung.
Im Südschwarzwald gehen die Wogen hoch wegen des geplanten Pumpspeicherwerks Atdorf. Ist dieses nötig?
Ja. Nicht unbedingt jetzt, aber in zehn Jahren, wenn wir die erneuerbaren Energien ausgebaut haben werden. Und so lange dauern die Planungen, Raumordnungsverfahren, Genehmigungen und der Bau.
Kritiker sagen, die Energiewende wird sehr teuer werden. Stimmt das?
Am Anfang wird sie zunächst teuer werden, weil wir die Netze vorbereiten und das ganze Energieversorgungssystem umstellen müssen. Aber langfristig wird die Stromversorgung für uns billiger, weil wir unabhängig von Rohstoffen werden. Wir brauchen dann kein Uran mehr, später auch keine Kohle mehr. Und wir produzieren keine weiteren radioaktiven Abfälle, für die wir Zwischen- und Endlager bereitstellen müssen. Also im ersten Schritt wird es teurer, im zweiten Schritt aber billiger.
Werden vom forcierten Ausbau der Photovoltaik nicht primär die chinesischen Anbieter von billigen PV-Modulen profitieren?
Hier müssen wir eine gemischte Rechnung aufmachen: In Baden-Württemberg gibt es eine florierende Industrie, die Anlagen zur Fertigung von Solarzellen nach China exportiert, damit PV-Module produziert werden. Die Module werden dann wieder importiert und vom hiesigen Handwerk installiert. Wir verdienen also im ersten Schritt mit den Maschinen und im dritten Schritt wieder mit der Installation.
Und die Industrie: Muss sie sich durch die erneuerbaren Energien (EEG) nicht auf höhere Strompreise gefasst machen?
Gerade die energieintensive Industrie klagt zur Zeit über zu hohe Strompreise. Fakt ist aber, dass die Preise seit drei Jahren sinken und heute auf dem Stand von 1995 sind. Hier beziehe ich mich auf Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums. Und das verdankt die stromintensive Industrie den erneuerbaren Energien. Denn zum einen ist sie befreit von der EEG-Umlage. Zum anderen sinken die Strompreise an der Leipziger Strombörse durch die verstärkte Einspeisung von erneuerbaren Energien. Die Photovoltaik liefert zurzeit während der Verbrauchsspitze über Mittag bis zu 13 GW. Das entspricht der Leistung von bis zu zehn Kernkraftwerken.
Die Bundesregierung will noch AKWs als Reserve vorhalten. Brauchen wir das?
Nein. Momentan sind 13 von 17 Kernkraftwerken ausgeschaltet und trotzdem funktioniert die Energieversorgung. Zwar wird zurzeit verstärkt importiert, aber nur, weil das billiger ist als aus der Kraftwerksreserve zu produzieren. os
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