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All inclusive – Kombilösungen nach dem Prinzip von Taylor

Komplettbearbeitung: Liegezeiten werden deutlich reduziert
All inclusive – Kombilösungen nach dem Prinzip von Taylor

Teile mit Kombinationswerkzeugen auf nur einer Maschine drehen, schleifen, fräsen und laserbearbeiten: Der Komplettbearbeitung sind technisch kaum Grenzen gesetzt. Werkstücke in einer Aufspannung zu fertigen ist präzise, transparent und produktiv.

Dr.-Ing. Marcus Mey ist Technologieberater in Hannover

Die Komplettbearbeitung gehört aus maschinentechnischer Sicht bereits zum Stand der Technik. Mit angetriebenen Werkzeugen, zusätzlichen Achsen, Gegenspindeln und anderen technischen Einrichtungen kann der Anwender heute in nur einer Aufspannung Werkstücke einbaufertig herstellen. Selbst kubische Bauteile lassen sich durch geschickte Wahl der Aufspannflächen an allen sechs Seiten bearbeiten. Zudem können Produktionszellen werkstückbezogen nachbearbeiten, also beispielsweise wuchten, teilmontieren, entgraten, prägen oder waschen.
Im Gegensatz zu den komplexen Vollautomaten früherer Generation mit unzähligen Achsen können moderne Kombi-Maschinen auch sekundäre Arbeitsschritte innerhalb der Prozesskette über die Bewegungshauptachsen ausführen. Beispiel hierfür sind die Vertikaldrehmaschinen, die wegen ihrer Handlingsfähigkeiten auch als „Pick-Up-Spindeln“ bezeichnet werden. Als Pionier dieser Technik gilt die Salacher Emag Maschinenfabrik GmbH (Halle 20, Stand C20), bei welcher die Komplettbearbeitung rotationssymmetrischer Bauteile mittlerweile zum Kerngeschäft gehört. So können die vom Hersteller als Produktionszellen bezeichneten Anlagen in einer Aufspannung nicht nur drehen,fräsen und schleifen, sondern auch Aufgaben wie Wuchten oder Beschriften bewältigen.
Die Bearbeitung eines Werkstücks durch Drehen, Bohren, Fräsen und Schleifen ist keineswegs neu, sondern seit jeher eine der klassischen Verfahrenskombinationen der mechanischen Teilefertigung. Bis in die 90er-Jahre waren Rundtaktmaschinen und Transferstraßen die Stückzahlträger der produzierenden Industrie, wobei sich die einzelnen Stationen effizient betreiben ließen. Das System basierte auf der Theorie der Taylor’schen Arbeitsteilung: Durch sequenzielle Produktion mit nacheinander geschalteten Einzelprozessen reduziert sich die Fertigungszeit eines Bauteils rechnerisch auf die Taktzeit eines Arbeitsschrittes. Auch bei kleineren Losgrößen ist die Arbeitsteilung noch heute weit verbreitet. So erfahren die Werkstücke in der klassischen Werkstattstruktur mit getrennten Technologiebereichen in einzelnen, aufeinanderfolgenden Arbeitsschritten eine stufenweise Wertschöpfung.
Doch jedes noch so gute Prinzip hat auch seine Tücken: Die eigentliche Schwierigkeit bei der Arbeitsteilung liegt darin, einen kontinuierlichen Materialfluss aufrechtzuerhalten, frei nach dem Prinzip „One-piece-flow“. Dass selbst kleine Störungen oder Abweichungen im Plan fatale Auswirkungen auf die Pünktlichkeit haben können, weiß schließlich jeder Bahnfahrer nur zu gut. Auch hier sinkt die Wahrscheinlichkeit termingerecht am Ziel anzukommen erheblich, wenn mehrmaliges Umsteigen notwendig ist. Da können wenige Minuten über eine Verspätung von mehreren Stunden entscheiden.
Eine arbeitsteilig aufgebaute Werkstatt mit „chaotischem“ Auftragsfluss erfordert demzufolge einen gewaltigen logistischen Aufwand, um ausgelastet zu sein und lange Liegezeiten zwischen den Stationen zu vermeiden. Was bei Einzelteilen und in Montagebereichen technisch noch vertretbar ist, wird bei der Fertigung von mittleren bis großen Stückzahlen zu einem erheblichen Kostenfaktor: das Handling und der Transport der Werkstücke.
Wird hingegen getreu nach Taylor mit „gerichtetem“ Auftragsfluss in einer Insel oder Linie gefertigt, sind logistische Aspekte eher unbedeutend. Im Gegenzug müssen aber alle Kapazitäten und Taktzeiten optimal aufeinander abgestimmt werden, um die gesamte Anlage zufriedenstellend und wirtschaftlich zu betreiben. Auch wenn dies bei einem einzelnen Werkstück gut gelingt, kann bei einer Variante des gleichen Bauteils alles wieder ganz anders aussehen.
Bei großen Stückzahlen werden lange Liegezeiten teuer
Spannvorrichtungen und zeitintensives Rüsten sind Faktoren, die einen Prozess darüber hinaus verteuern. Diese hauptzeitparallel auszuführen, verringert zwar deren negativenEinfluss auf die Taktzeiten, ändert aber nichts an dem Aufwand als solchem. Da kommt der gegenwärtige Trend zur Komplettbearbeitung gerade passend, werden hier doch die Umspannvorgänge auf ein Minimum reduziert und gleichzeitig die Durchlaufzeiten gesenkt. Mit der Flexline der Chiron-Werke GmbH aus Tuttlingen (Halle 12, Stand B18) können bis zu acht Maschinen gleichzeitig von nur einer Person bedient werden. So lässt sich in Großserie eine Teilevielfalt ohne Umrüsten produzieren. Der Transport und das bestandserhöhende Zwischenpuffern von Teilen entfallen weitgehend. Trotz eines geringeren Logistikaufwands ist das System besser ausgelastet.
Mit großen Anstrengungen vorangetrieben wurde die Komplettbearbeitung in einer Aufspannung anfänglich bei den Bearbeitungszentren, Ende der 80er-Jahre auch bei den Drehmaschinen. Auf der Basis von Baukastensystemen entstanden so aus einzelnen Modulen hochproduktive Drehzellen, mit denen heute ein breites Teilespektrum hergestellt werden kann.
Inzwischen beleben zahlreiche Dreh-Fräszentren wie etwa die Swedturn 2000 des schwedischen Herstellers SMT Machine AB, Västeras (Halle 21, Stand B34), als eigenständige Maschinengattung den Markt, nicht nur für Sonderbauteile. Da rund 90 % aller Drehteile weitere Bohr- oder Fräsoperationen erfordern, ist die große Nachfrage nach dieser Kombination nachvollziehbar.
Wesentliche Einspareffekte ergeben sich auch dort, wo es um die Substitution teurer oder langsamer Sonderverfahren geht. So macht das NC-gesteuerte Zirkularfräsen auf modernen Maschinen rotationssymmetrische Konturen und Bohrungsqualitäten von IT7 möglich, was für viele Anwendung ausreicht. Aufwendiges, mehrstufiges Bohren mit anschließendem Fertigreiben können so vollständig wegfallen.
Individuelle Werkzeuge bohren in einem Schritt auf Fertigmaß
Moderne Kombinationswerkzeuge, wie beispielsweise die Produkte der Schweizer Heule Werkzeug AG aus Balgach (Halle 6, Stand C66), erlauben heute, je nach Bedarf vor- und rückwärts zu bohren, zu fasen, auszuspindeln und planzusenken. Individuell konstruierte Stufenwerkzeuge mit speziellen Schneidplatten erzeugen komplexe Bohrungsgeometrien in einem Schnitt bis auf Fertigmaß.
Abgesehen von verfahrenstechnischen Unverträglichkeiten, wie beispielsweise der Integration von klassischen Härteprozessen, gibt es für die Komplettbearbeitung nur wenige technologische Grenzen. Über lange Zeit legten die angewandten Verfahren eine Arbeitsteilung fest. Mit modernen Hochleistungswerkzeugen ließen sich die Grenzen jedoch erheblich ausdehnen, so dass sich die einzelnen Verfahren mittlerweile stärker überlappen. Durch die Weiterentwicklung der CBN-Schneidstoffe hat beispielsweise das Hartdrehen seinen Einsatzbereich weiter ausgedehnt, auch wenn die durch die Schneidkante eingebrachte Spiralisierung der Oberfläche problematisch bleibt. Viele Aufgaben im Übergangsbereich sind heute technologisch durch Hartdrehen oder alternativ auch durch Schleifen möglich. So lassen sich etwa harte Präzisionsteile mit beiden Verfahren fertig bearbeiten.
Aus Sicht des Anwenders bleibt eine Verfahrenskombination eine Frage der Kosten des Gesamtprozesses. Um ausreichende Rationalisierungspotenziale auch im Umfeld des Prozesses zu nutzen, sollte bei der Komplettbearbeitung im Vordergrund stehen, die Prozesskette auf eine Maschine zu verkürzen. Für einen direkten Verfahrensvergleich sind dabei neben der reinen Bearbeitungszeit aber immer auch die direkten Werkzeugkosten relevant.
Von Industrie und Forschung wurde in den letzten Jahren eine Vielzahl interessanter Kombinationslösungen prototypisch entwickelt und als Neuheit auf dem Markt angeboten. Dazu gehören dieKombination von Drehen und Schleifen. Die DMU60L der Bielefelder Gildemeister AG (Halle 19, Stand A01) hingegen vereint Fräsen und Laserbearbeiten in einer Maschine. Wie bei vielen Techniktrends zeigten die Anwender als eigentliche Zielgruppe anfangs jedoch starke Zurückhaltung. Nur ein Teil der Lösungen stieß unmittelbar auf ein breites Marktinteresse.
Entscheidend bleibt die Wirtschaftlichkeit des Gesamtprozesses
Verwunderlich ist dies nicht. Für die Anwender ist, ungeachtet der technischen Besonderheiten, noch immer die Wirtschaftlichkeit des Gesamtprozesses entscheidend. Und die ist auf Grund der deutlich höheren Kosten einer Kombi-Maschine erst bei anstehenden Neuinvestitionen und entsprechenden Marktpreisen gewährleistet. Daher suchen selbst die von Absatzschwankungen stark betroffenen Zulieferbetriebe in der Praxis eher den kostengünstigen Weg.
Dabei liegt der Fokus primär auf den im Prozess verwendeten Vorrichtungen und Werkzeugen. Beim Fräsen gehören die vierte und fünfte Achse immer häufiger zur Standardausstattung oder zumindest zur vorrangigen Ausbauoption. Dank verbesserter CAD/CAM- und NC-Programmiersysteme mit integrierter Simulation sind fünfachsige Bearbeitungen heute auch im Produktionsalltag sicher zu beherrschen. Schwierig bleibt es hingegen, Werkstücke an allen sechs Seiten zu bearbeiten. Gelungen ist dies beispielsweise der Airbus Deutschland GmbH in ihrem Werk in Varel. Dort werden komplizierte Bauteile für Flugzeugtüren trotz vieler Außenflächen komplett in einer einzigen Aufspannung gefertigt.
Eines ist bei Herstellern und Anwendern jedoch unumstritten: Die Komplettbearbeitung bedeutet nicht nur eine höhere Produktivität durch eine verkürzte Prozesskette auf dem Weg bis zum Fertigteil. Vielmehr bringt die eindeutige Zuordnung eines Auftrags zu genau einem Arbeitsplatz erheblich mehr Transparenz in die Fertigung.
Der Aufwand des Anwenders, Aufträge zu verwalten, Belegungen zu planen und die Aufträge zu verfolgen, reduziert sich deutlich oder erübrigt sich im Idealfall fast vollständig. Dies bietet enorme Vorteile: Entscheidungskompetenzen verlagern sich in die ohnehin schon vorhandenen Fertigungsteams. Hier kann endlich auch ohne komplizierte Planungssysteme am Ort des Geschehens entschieden und optimiert werden.
Welche Produktivitätssteigerungen sich alleine durch kürzere Durchlaufzeiten, geringere Bestände und die gewonnene Transparenz im Auftragsbestand ergeben, weiß man spätestens, wenn der Kunde wieder mal unerwartet mit einem zusätzlichen Auftrag droht.
Potenziale und Grenzen der Komplettbearbeitung
Pro:
– präzise Werkstücke, da auf Umspannen verzichtet werden kann
– reduzierte Durchlaufzeiten bei geringem Rüstaufwand
– ausgelastetes System durch Senken von Logistik und Umlaufbeständen
– längere Programmlaufzeiten ermöglichen eine Mehrmaschinenbedienung Contra:
– höhere Maschinenkosten rechnen sich nicht immer
– verfahrenstechnische Unverträglichkeiten begrenzen den Einsatz
– mehr Achsen führen zu komplexeren Maschinen
– die 6-Seiten-Bearbeitung bleibt noch immer schwierig
– geringfügig höhere Taktzeiten
Prinzip der Taylor’schen Arbeitsteilung
1895 entwickelte Frederick W. Taylor (1865-1915) sein Konzept der wissenschaftlichen Betriebsführung, um die Produktion zu rationalisieren. Dazu zerlegte er die Produktionsprozesse in ihre einzelnen Arbeitsschritte. Überflüssige Bewegungen und versteckte Pausen wurden akribisch erfasst und schließlich eliminiert. Erst durch dieses auf Arbeitsteilung und Fließprinzip beruhende Konzept war eine effiziente Massenfertigung möglich. Heute erreichen allerdings die vom Kunden bestellten Jahresstückzahlen eines Produktes nur selten die Größenordnung der Massenfertigung. So fällt es dem Anlagenbetreiber schwer, Spezialmaschinen auch mittel- bis langfristig dauerhaft auslasten zu können. Bei modernen Maschinen für die Komplettbearbeitung haben sich daher die Hersteller zum Ziel gesetzt, mehrere Verfahren zu kombinieren und so die Zahl der Einzelschritte auf ein Minimum zu reduzieren.
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