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Auf Schalke kommen die Massen in Bewegung

Antriebstechnik: 300 m in 4 h erfordern Höchstleistungen
Auf Schalke kommen die Massen in Bewegung

Der Stolz der Gelsenkirchener Fußball-Fans ist die Arena Auf Schalke. Dach, Tribüne und der Rasen in seiner tonnenschweren Schublade lassen sich mit Elektroantrieben und Hydraulikpressen bewegen – wenn nicht ein Kieselsteinchen dazwischen kommt.

Von unserem Redaktionsmitglied Dr. Birgit Oppermann – birgit.oppermann@konradin.de

Man verliert einfach das Gefühl für die Dimension. „Wenn Sie sich im Stadion die Kamerabilder auf dem Medienwürfel angucken, haben Sie das Gefühl, die sind nicht größer als zu Hause auf dem Fernseher – aber sobald Sie Servicetechniker daran herumklettern sehen, Etage um Etage, wird erst klar, wie riesig das Ding ist.“ Solche Insider-Eindrücke hat Willibert Kamps in der Gelsenkirchener Arena Auf Schalke mehrfach sammeln können. Als Vertriebsingenieur des Bargteheider Antriebsherstellers Getriebebau Nord GmbH & Co. KG hat er das Stadion während der Bauphase immer wieder besucht.
Das bietet seit 2001 ein gigantisches Ambiente: 55 m hoch zwischen Boden und Dach, 38 000 m² Tribünenfläche mit Platz für 62 000 Besucher – beeindruckend wie eine gotische Kathedrale. Jedoch sind die Baumeister, was die Nutzung angeht, offener als ihre mittelalterlichen Kollegen: Das Fußballspiel steht klar im Vordergrund. Aber wer in der heutigen Zeit rund 183 Mio. Euro für so eine Halle ausgibt, macht sich beizeiten Gedanken, wofür man sie sonst noch verwenden könnte. Willkommen ist, was sich rentiert, seien es Sportveranstaltungen, Rockkonzerte oder Opern, Fernsehshows, Partei- oder Kirchentage, Aktionärsversammlungen, Firmenseminare, Produktpräsentationen oder Familienfeiern.
Eine Halle für alle demnach. Fußball ist aber draußen am schönsten, Smoking und Abendkleid hingegen vertragen keinen Regentropfen, und dem Rasen tun Hunderttausende Besucherfüße nicht gut. Deshalb entschieden sich die Planer für ein Stadion nach dem Cabrio-Prinzip, dessen 570 t schwere Dachteile sich in 30 min öffnen oder schließen lassen und Fußball bei jeder Wetterlage ermöglichen. In einer 11 000 t schweren, 118 m x 79 m großen Stahlbeton-Schublade gedeiht die Grünfläche, auf der am Wochenende drinnen die Bundesliga spielt. Unter der Woche fährt das Gras zum Sonnen und Wachsen nach draußen – auf eine Fläche, auf der sonst Autos parken. Die 300 m zwischen seinen angestammten Plätzen legt der Rasen auf 16 beschichteten Gleitschienen zurück.
Aber wartungsfrei? Lebensdauergeschmiert? Geschützt vor Schmutz? Fehlanzeige, ein Stadion ist keine Werkzeugmaschine. Abdeckungen für die Schienen gibt es zwar, aber die müssen immer wieder auf- und abgebaut werden. Und die Gleitflächen sind empfindlich gegen Kratzer, so dass sie vor jeder Bewegung des Rasens gereinigt und geölt werden müssen. „Ein Kieselsplitter kann verhindern, dass wir das Spielfeld planmäßig verschieben“, berichtet Ulrich Dargel, Technischer Leiter der Arena. Entsprechenden Aufwand bedeutete es, die Opernkulisse für eine Aida-Aufführung wieder zu beseitigen: Mit einer Menge feinsten Sandes hatte sich der Bühnenbereich vorübergehend in eine Wüstenlandschaft verwandelt. „Und wenn Sie mal am Meer waren“, sagt Dargel, „wissen Sie ja, wie das mit dem Sand so ist …“
Aber selbst solche Herausforderungen haben die Techniker im Griff. Bevor rund 9000 m² Rasen ihre vierstündige Fahrt beginnen, rückt die Putzkolonne an. Zuerst, um Fremdkörper zu entfernen, und zum Schluss, um das Öl wieder aufzunehmen. Das Patent für die Verschiebetechnik hat die Duisburger Schiess-Defriess Engineering Immobilien und Bauträger GmbH. Auf ihren Powerslide-Spezialgleitbahnen bewegen sich sonst schwere Teile von Tankern im Trockendock. Erste Erfahrungen mit einem ausfahrbaren Rasen sammelten die Duisburger beim holländischen Gelderland-Stadion in Arnheim, wo – wie in Gelsenkirchen – hydraulische Verschiebegeräte die Spielfläche an ihren Platz bringen: Vier Hydraulik-Pressen krallen sich am Boden fest, dann schieben die Zylinder die Schublade um 1,5 bis 2 m voran, ziehen ihre Presse nach, die sich wieder verkrallt – und so weiter, bis der Rasen angekommen ist. Mit Motor, Getriebe und Zahnkranz hingegen bewegt sich die Südtribüne. Sie ist zweigeteilt in Ober- und Unterrang. Um Platz für eine Bühne zu schaffen, fährt der untere Teil 16 m nach hinten und verschwindet unterm Oberrang.
„Wenn Sie mal einen Braunkohlebagger erlebt haben, sind Sie erstaunt, wie leise die Bewegung im Stadion vonstatten geht“, berichtet Vertriebsingenieur Kamps. Vier Kegelstirnradgetriebe und Elektromotoren mit einer Leistung von 7,5 kW bringen das Ungetüm voran. Das hohe Drehmoment war für Getriebebau Nord nichts Ungewöhnliches. „Vergleichbare Flachgetriebe eignen sich ohne Weiteres bis zu 100 000 Nm“, sagt Kamps, der beim Bau von Kranen, Rührwerken oder Förderanlagen so seine Erfahrungen gesammelt hat. Die Herausforderung Auf Schalke sei die Enge unter der Tribüne gewesen. „Damit sie sich sogar bewegt, wenn ein Antrieb ausfällt“,erläutert Kamps, „haben wir die erforderliche Kraft auf vier Antriebe verteilt.“ Und schlimmstenfalls nimmt die Hydraulik, die den Rasen bewegt, die Tribünenkonstruktion ins Schlepptau. Für den Technischen Leiter Dargel aber ist das stützenfreie Dach, 180 m breit und 235 m lang, der persönliche Favorit unter den Technik-Highlights: obwohl er nur einen Knopf drücken muss, damit es sich bewegt.
Industrieanzeiger
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