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Der Trick, wie sich Getriebe selbst justieren

Beschichtung stellt das gewünschte Zahnflankenspiel ein
Der Trick, wie sich Getriebe selbst justieren

BMW hatte einen genialen Einfall: Bei der Montage eines zahnradgetriebenen Aggregats sollte für den Abstand zwischen den Zahnflanken eine Beschichtung sorgen – und sich anschließend verflüchtigen, um das Spiel freizugeben. Die Idee setzte ein Partner um, der anfangs nicht mal eine eigene Fertigung besaß, dafür aber sehr viel Know-how.

Von unserem Redaktionsmitglied Olaf Stauß olaf.stauss@konradin.de

Reinhard Ratzberger von der BMW Motoren GmbH in Steyr erinnert sich noch genau, wie er mit seinen zwei Entwickler-Kollegen das Problem der Zahnradgetriebe-Montage anpackte. Sehr präzise musste das Zahnflankenspiel sein, und dennoch sollte die Montage einfach vonstatten gehen. Brainstorming. Irgendwann stand die Idee auf dem Papier, ob nicht eine Oberflächen-Schicht das Spiel ausfüllen und die Zahnflanken auf Abstand halten könne. „Ich habe nach Beschichtern im Web gesucht und Mails verschickt: Können Sie sich vorstellen, ein Zahnrad so zu beschichten, dass die Schicht gleichbleibend dick ist und sich beim Einlaufen abreibt?“ Vorgaben für die chemische Zusammensetzung machte Ratzberger nicht. Nur die Anforderungen nannte er: Die Schicht muss ölverträglich sein und es dürfen sich keine großen Partikel lösen, damit nicht etwa ein Ventil verstopft wird.
Viele Beschichter antworteten. Von den zweien, die einen plausiblen Vorschlag lieferten, wählten die BMW-Entwickler die Platingtech Kollmann & Co. GmbH in Niklasdorf/Österreich aus – obwohl das junge Unternehmen damals, vor drei Jahren, nicht mal eine eigene Fertigung besaß. „Die hatten einen Keller, in dem Galvanikeinrichtungen standen. Das war eigentlich nur eine Versuchswerkstätte“, meint Ratzberger heute. „Aber Herr und Frau Kollmann waren so engagiert, dass wir ihnen die Lösung auch in kurzer Zeit zutrauten. Sie haben uns sofort im Detail beschrieben, wie sie es machen würden und die Zusammenhänge mit Mikro- und Makropartikeln genau erklärt.“ Nur anderthalb Jahre dauerte es, bis „Spacecoat“ inklusive Applikationstechnik einsatzreif war – pünktlich zum Serienstart des überarbeiteten 2-l-Vierzylindermotors mit Common-Rail-Einspritzung. Dieser Motor, bei dessen Montage an einer wichtigen Stelle auch Spacecoat zum Einsatz kommt, treibt das Mittelklassefahrzeug BMW 320d an. Seit 2002 sind in Steyr rund 150 000 Einheiten vom Band gelaufen. Ratzberger: „Die Beschichtungslösung hat die Erwartungen erfüllt. Wir haben keinerlei Probleme.“
Anderen Diesel-Vierzylindern ist der Antrieb in einem Punkt deutlich voraus: Er läuft ruhiger und leiser, ohne das typische Brummen. Das verdankt er der so genannten Ausgleichswelleneinheit, die das Ratzberger-Team entwickelte. Diese Ausgleichswellen werden von der Kurbelwelle mit angetrieben. Sie kompensieren mit ihren Unwuchtmassen die Massenkräfte, die durch die Kolbenumkehr in den Totpunkten auftreten und den Vierzylinder durchschütteln. Damit anstelle des Brummens aber nicht ein neuer Störeffekt auftritt, muss das Zahngetriebe zwischen Kurbelwelle und Ausgleichswellen annähernd spielfrei laufen. Warum, erklärt Ratzberger so: „Beim Zünden beschleunigt der Motor die Massenausgleichseinheit, beim Verdichten bremst er sie. Sind die Spiele nicht gering genug, liegt einmal die erste und einmal die zweite Zahnflanke an. Dieser Zahnflankenwechsel würde sich durch ein Rasseln bemerkbar machen.“
Genau das verhindert Spacecoat. Die Schicht ist (je nach Auslegung) zwischen 20 und 80 µm dick und weicht höchstens um ±5 µm vom Sollwert ab. Während der Montage verkörpert sie das Spiel: Die Zahnräder werden auf Tuchfühlung zusammengeschoben und bei definiertem Anpressdruck verschraubt. Nach etwa 1000 bis 1500 Umdrehungen auf dem Kaltprüfstand zerfällt die Schicht in ölverträgliche Partikel, die kleiner als 10 µm sind, und verschafft den Zahnflanken die nötige Luft. „Wenn der Motor ins Fahrzeug kommt, ist das Verdrehflankenspiel schon eingestellt“, erklärt Ratzberger. „Das überprüfen wir mit unseren akustischen Messungen.“
Zwar erhöht der Massenausgleich die Schleppleistung des Motors geringfügig. Dies aber sei „mehr als gerechtfertigt“ angesichts der Verbesserungen beim Fahrkomfort, heißt es bei BMW. Und dank Spacecoat verlängern sich die Montage-Zeiten nur um ein paar Sekunden. Die Alternative zur Einstellschicht wäre eine Einstellmaschine gewesen, die mit dem überarbeiteten Aggregat hätte zurechtkommen müssen. Ob mit Erfolg, ist nicht sicher: „So ohne weiteres hätte das keine Maschine gekonnt“, meint Ratzberger. „Jedenfalls wäre sie sehr teuer geworden.“
Auch die Lieferkette verlängert sich nur geringfügig: Platingtech beschichtet in Niklasdorf das Stirnrad, das zwischen Kurbel- und Ausgleichswellen sitzt. Die Werker der Schwäbischen Hüttenwerke GmbH in Bad Schussenried montieren es auf die mitangetriebene Ölpumpe und im Motorenwerk in Steyr erfolgt der Einbau in den Motor.
So einfach die Montage funktioniert, so aufwendig ist die Entwicklung gewesen. „Die Nächte sind nur so reingeflossen“, sagt Wolfgang Kollmann, der Platingtech gemeinsam mit seiner Frau Helga leitet, „aber es hat Riesen-Spaß gemacht.“ Mit dem großen Automobilpartner arbeiteten die beiden intensiv zusammen. Kollmanns beschichteten, BMW wertete die Proben aus und schickte die Daten zurück. Schnell merkten die Oberflächentechniker in Niklasdorf, dass Abreibmechanismen nur unbefriedigend funktionieren. Denn von der Schicht wird viel gefordert: Statisch muss sie großen Druck aushalten können, aber bei Bewegung soll sie sich sofort auflösen. Schließlich gingen die gewitzten Galvano-Experten dazu über, das Basismaterial eines Polymerverbunds durch nanoskalige Partikel gezielt zu stören, die wie Sollbruchstellen wirken. Kollmann erklärt: „Sobald sich die Zahnräder bewegen, zerfällt die Schicht wie Sicherheitsglas, auf das ein Stein fällt.“ Genau besehen ist Spacecoat ein Mehrschicht-Verbund. Er besteht aus einer modifizierten Phosphatschicht als Haftuntergrund und der eigentlichen Funktionsschicht mit speziellen Festschmierstoff-Partikeln.
Ein zweiter Knackpunkt der Entwicklung ist neben der Chemikalie die Applikationsmethode, um eine reproduzierbar dicke Schicht auf den Zahnflanken zu erhalten. „Ich glaube, wir haben gut zehn Verfahren getestet“, sagt Kollmann – bis sie schließlich einen eigenen Spraycoating-Prozess kreierten.
Den BMW-Auftrag bekam Platingtech just zur richtigen Zeit. 1994 waren der F+E- Ingenieur aus der Fahrzeugtechnik und die Galvaniktechnikerin von Mercedes überzeugt, dass die Oberflächentechnik ungeahnte Möglichkeiten bietet und das Zeug zur Querschnittstechnologie hat. Damals gründeten Helga und Wolfgang Kollmann ihr eigenes Unternehmen mit einem genauen Zeitplan. Drei Jahre arbeiteten sie als Consulter „mit Analyse-Set in der Klappbox“, um dann die Entwicklungsarbeit aufzunehmen. Ihr Ziel: Individuelle Schichtvarianten entwickeln und zur Serienreife führen. 1999 gewann Platingtech den Innovationspreis des Landes Steiermark. 2000 kam der BMW-Auftrag, Ende 2002 ging bereits die zweite Fertigungshalle für „Polymet“ in Betrieb, das nächste Platingtech-Produkt, und heute werden bereits 20 Mitarbeiter beschäftigt.
Die Patente für Spacecoat teilt sich Platingtech mit BMW, verfügt aber über die Nutzungsrechte. Anfragen von weiteren Automobillieferanten seien bereits eingegangen, berichtet Kollmann. Die Beschichtung hält er überall dort für interessant, wo „Getriebe mit einer hohen Stückzahl“ zum Einsatz kommen. Einer Vermarktung steht auch BMW nicht im Wege, wie Ratzberger betont: „Solange es uns nicht direkt schadet, haben wir nichts dagegen, wenn andere das auch nutzen wollen.“
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