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Ehrenwerte Erfinder nutzen Schwächen anderer fürs eigene Patent

Patentumgehung: Schlupflöcher in Schutzrechten des Wettbewerbers retten die F+E-Investitionen
Ehrenwerte Erfinder nutzen Schwächen anderer fürs eigene Patent

Ehrenwerte Erfinder nutzen Schwächen anderer fürs eigene Patent
TEG-Abteilungsleiter Stefan Kohn möchte Mittelständler beim Patentmanagement unterstützen, damit ihre Ideen „nicht an Wettbewerbspatenten zerschellen“ (Bild: TEG) Um eine gute Idee zu vermarkten, müssen Erfinder auch ähnliche Lösungen mit Schutzrechten absichern. Dass sich Kosten und Nutzen dabei die Waage halten, stellt ein Patentmanagement sicher (Bild: TEG)
Stoßen kleine und mittlere Unternehmen nach jahrelanger Forschungsarbeit auf bestehende Patente, stehen ihre Entwicklungskosten auf dem Spiel. Wie man solche Patente umgeht und eigene Ideen vor der Umgehung schützt, wissen Experten der Stuttgarter Fraunhofer-Technologie-Entwicklungsgruppe.

Chris Krüger ist Fachjournalist in Stuttgart

Wo Innovationen erwünscht sind, müssten auch Patente willkommen sein. Doch so mancher mittelständische Unternehmer mag angesichts der Patentfülle alles andere als Lobgesänge anstimmen. Denn ein Schutzrecht, das ein anderer vor ihm anmeldet, könnte langwierige Entwicklungsarbeit zunichte machen und das eigene innovative Produkt oder Verfahren blockieren. In Zahlen ausgedrückt: Zwar meldet das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA), dass deutsche Unternehmen 2004 mit über 48 300 Neuanmeldungen um gut 3 % gegenüber dem Vorjahr zugelegt haben. Andererseits werden aber allein in Deutschland jährlich rund 6,2 Mrd. Euro für Doppelentwicklungen zum Fenster hinausgeworfen.
Wer zu spät merkt, dass ein anderer schneller war, kann zwar noch eine Lizenz für das bestehende Patent erwerben. Doch anders als größere Unternehmen und Konzerne können oder wollen sich kleine und mittlere Unternehmen (KMU) das oftmals nicht leisten.
Friedel Herbert Schwartz, Geschäftsführer der Düsseldorfer MTS Mess-Technik Schwartz GmbH und Chef von 47 Mitarbeitern, bringt die Lage der Kleinen auf den Punkt: „Das Problem ist, dass es eine Unmenge an Patenten gibt und der Freiraum für eigene Ideen damit ständig schrumpft.“
Die Düsseldorfer beispielsweise hatten Ideen für ein neues Messgerät entwickelt, das in der Prozessindustrie Partikel zählt. Patente in den USA und Japan schränkten die Umsetzung aber erheblich ein. So versuchten sie, mit einer Beratung durch die Stuttgarter Fraunhofer-TEG weiterzukommen. Mit Erfolg, denn inzwischen hat MTS ein Sensorsystem entwickelt, das nicht nur patentierfähig ist, sondern seinen Kunden durch neuartige Lösungen sogar Wettbewerbsvorteile verspricht. „Herkömmliche Sensoren erkennen, dass da ein Partikel ist und können ihn als `ziemlich groß´oder `ziemlich klein´ identifzieren“, erläutert Firmenchef Schwartz. „Mit unserem System, das ein anderes Auswerteverfahren benutzt, ist jetzt die Größe exakt zu messen und sogar eine Form zu erkennen.“
Dieses Beispiel zeigt nach Ansicht von Stefan Kohn, Leiter der TEG-Abteilung Innovationsmanagement, sehr gut, was ein umfassendes Patentmanagement bewirken kann. Kohn will verhindern, dass aussichtsreiche Zukunftsentwicklungen „an Wettbewerbspatenten zerschellen“, und bietet daher mit seinen Mitarbeitern die beratende Dienstleistung an – und zwar gerade für KMU.
Ein Teilbereich der Beratung ist die Patentumgehung, die F+E-Investitionen retten soll. Dass der Begriff etwas anrüchig klingen könnte, lässt Stefan Kohn nicht gelten: „Patentumgehung ist in keinerlei Hinsicht unlauter.“ Ganz im Gegenteil: Es gehe darum, das aktuelle Entwicklungsniveau zu nutzen, das Vorhandene zu optimieren und auf dieser Basis ein verbessertes Produkt zu generieren. „Das Ganze ist im Grunde nichts anderes als ein Innovationsprozess“, betont Kohn.
So einfach das auch klingt: Mit einem Fingerschnipp ist noch kein Patent umgangen oder eine Technik weiterentwickelt worden. Die Stuttgarter Ingenieure bedienen sich dazu einer Ideenfindungstechnik, der so genannten morphologischen Analyse. Entwickelt hat diese der Schweizer Astrophysiker Fritz Zwicky 1965 am California Institute of Technology in Pasadena. Dabei werden die wichtigsten Parameter eines Produkts oder einer Leistung auf einer Achse eingetragen. Eine weitere Achse zeigt die unterschiedlichen Varianten, in denen diese Merkmale auftreten können. Aus der Kombination jeder Variablen einer Kolonne mit jeder möglichen Variante der anderen ergibt sich eine Vielzahl von Lösungsansätzen. Diese zweidimensionale Matrix wird in der Wissenschaft als Morphologischer Kasten bezeichnet. Er führt die Entwickler anhand der geforderten Eigenschaften zu einem Gesamtprofil, das ein neues Produkt kennzeichnet.
Bei einer Patentumgehung allerdings kehren die Innovationsspezialisten das Verfahren um und zerlegen Patente in ihre Parameter. So grenzen sie Teilaspekte ab, verändern Merkmale systematisch – und hoffen, möglichst nahe an ein Lösungsoptimum heranzukommen. „So erkennen wir Schwachstellen eines Patents und können sie auf dem Weg zu einer neuen Lösung eliminieren“, sagt TEG-Mitarbeiter Guido Noack.
Wenn die Stuttgarter dieses Verfahren zusammen mit einem Kunden anwenden, sehen sie sich als Moderatoren und Zulieferer von Know-how. In mehreren Workshops ermitteln sie zunächst die Anforderungen, die mögliche Anwendungen an ein neues Produkt stellen. Dann erörtern sie, an welchen Stellen ein bestehendes Patent die weitere Entwicklung blockieren könnte. Um alle diese Informationen zu sammeln, recherchieren sie in Datenbanken, beschaffen Patentschriften oder Fachliteratur und analysieren auch die Produkte der Wettbewerber. TEG-Abteilungsleiter Stefan Kohn: „Aus all dem ergibt sich ein erstes Bild davon, wie ein neues Produkt idealerweise aussehen würde.“ Ob die neue Idee hält, was sie verspricht, testen die Stuttgarter wiederum mit Analyse-Methoden, einer Marktrecherche oder einer Lead-User-Befragung.
Erst dann wird der erwähnte Morphologische Kasten eingesetzt: Er hilft, ein Produkt zu entwickeln, das
  • erstens der Aufgabenstellung entspricht,
  • zweitens technisch machbar und
  • drittens ökonomisch sinnvoll
ist – und der Kasten zeigt Wege, bestehende Patente zu umgehen.
Bei solchen Workshops legen die TEG-Experten Wert auf einen lockeren Rahmen: Der bringe manchmal erst die Kreativität in Schwung, und es tauchten völlig neue Produktideen auf. Auch Mess-Technik-Chef Schwartz pflichtet bei: „Entscheidend war für uns die externe Sicht. Die Fraunhofer-Ingenieure haben die kreative Brücke zu einem Produkt gebaut, dessen Schutz sich lohnt.“
Mit dem Verfahren der Patentumgehung lassen sich aber nicht nur Schutzrechte aushebeln oder eigene Entwicklungen vorantreiben. Damit lässt sich auch das Geschäft sichern. Dies betrifft vor allem KMU, die nahezu ihre gesamte Tätigkeit auf einer Kernkompetenz oder Technologie aufbauen. Um so ein Alleinstellungsmerkmal zu schützen, brauchen sie ein umfassendes Patentmanagement. Es kann also notwendig werden, mögliche Umgehungsstrategien zu erkennen und gleich mitpatentieren zu lassen.
So hat beispielsweise die junge, innovative Dyna-Tech Leichtmetall-Räder GmbH die Dienste der Fraunhofer-TEG in Anspruch genommen, um ihre Technologie umfassend zu schützen. Deren Alleinstellungsmerkmal ist eine besondere Luftführungstechnik. TEG-Mitarbeiter Guido Noack: „Weil die Automobilindustrie Interesse zeigte, war eine breitere Absicherung des Patents gegenüber etablierten Radherstellern dringend erforderlich.“ Daher wurden alle Schlupflöcher für eine systematische Patentumgehung untersucht, auch mit Hilfe von Aerodynamik-Experten der Fraunhofer-Gesellschaft. So wurde nicht nur die Radfelge analysiert, sondern als willkommener Nebeneffekt ergaben sich sogar Ideen für Produktweiter- entwicklungen sowie neue Anwendungsfelder.
Dass die ganze Sache bezahlbar bleibt, soll gerade den KMU als Anreiz dienen. Kohn erläutert: „Mit unserem Dienstleistungsangebot kommen wir auf Kosten zwischen 15 000 und 20 000 Euro – angefangen bei der Vorbereitung und Organisation der Workshops, über das Generieren von Umgehungslösungen und Machbarkeitsanalysen bis zu den Recherchen und juristischen Beratungen und der Patentanmeldung.“ Hier ist die Fraunhofer-TEG jetzt eine strategische Allianz mit dem Patentanwaltsbüro Mammel & Maser eingegangen. Dessen Experten helfen beispielsweise dabei, Patentschriften auch von ihrer juristischen Bedeutung her zu „übersetzen“. Oder sie sichern Umgehungslösungen hinsichtlich ihrer patentrechtlichen Eigenarten ab.
Wenn zwar der Wille zum Patentmanagement vorhanden ist, es aber dennoch auf der finanziellen Seite klemmt, könnte Unterstützung von der Bundesregierung in Anspruch genommen werden. Dem innovativen deutschen Mittelstand will Bundesjustizministerin Brigitte Zypries helfen, die beklagt, dass nur etwa 30 % der Unternehmen Patente strategisch nutzen. Das sei zu wenig, und der Zugang zum gewerblichen Rechtsschutz müsse verbessert werden. Abteilungsleiter Kohn rät: „Schon heute können KMU für die Patentkosten bis zu 50 Prozent Zuschuss bekommen.“ Den entsprechenden Antrag stellt die Fraunhofer-TEG für ihre Kunden im Rahmen der Beratungsdienstleistung gleich mit.
Patentumgehung ist in keiner Hinsicht unlauter
15 000 Euro Gesamtkosten sollen für KMU erschwinglich bleiben

„Entwickler reden jetzt nicht mehr über Probleme, sondern über Lösungen“

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Nachgefragt

Das Patentumgehungsprojekt hat die Entwicklungsarbeit bei MTS von Grund auf verändert und wirkt über die dreimonatige Dauer hinaus.
Ist Patentumgehung aus Ihrer Sicht etwas Anrüchiges?
Nein. Jede Lösung, die sich ein Mensch ausdenken kann, besteht aus verschiedenen Komponenten. Wenn man jede Komponente auf Alternativen abklopft, kommt man zu neuen Lösungen, die eigene Patente rechtfertigen.
Wie haben Ihre Mitarbeiter auf das Projekt reagiert?
Es hat sich nach drei Monaten im Projekt wirklich etwas getan: Die Entwickler reden nicht mehr über die Probleme, sondern über mögliche Lösungen.
Was haben die Fraunhofer-Ingenieure anders gemacht?
Sie haben alle Schwierigkeiten umgekehrt: Wenn es rechtsherum nicht geht, versuchen wir es eben linksherum. Mit ihren ausgesprochen analytischen Fragen und den interdisziplinären Ansätzen ließen sich Blockaden in der Entwicklung sehr gut auflösen.
Hat das Projekt nachhaltige Veränderungen ausgelöst?
Wir haben die Analysemethoden der TEG um Fragen ergänzt, die sich stark auf unsere Anwendungen beziehen, und arbeiten in unserem neuen Applikationszentrum nur noch mit diesem erweiterten Morphologischen Kasten.
Fühlen Sie sich noch durch Patente geschützt, nachdem Sie die Strategien zur Umgehung kennengelernt haben?
Wir haben wohlweislich auch mögliche Weiterentwicklungen unserer Idee durch Patente geschützt. Das verursacht natürlich zusätzliche Kosten. Diese aufzufangen, ist eine Frage der Strategie. Wir vermarkten unser Produkt entsprechend und können unsere Sensoren durch Weiterentwicklungen natürlich auch besser an die Anwendung eines Kunden anpassen. op

Keine Patent-Blockade für Joghurtbecher

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Das „Joghurtbecher-Problem“ ist das klassische Beispiel dafür, was eine Patentumgehung bringen kann: Ein Hersteller von Befüllungsanlagen sollte mit seiner Maschine Plastikbecher zuführen, entkeimen und befüllen. Anschließend musste ein Folien-Deckel aufgelegt und versiegelt werden. Der Knackpunkt war das Prüfen der Dichtigkeit. Ein bestehendes Blockade-Patent sah hierfür einen Taster mit Heizkopf vor. Er erwärmte das Luftpolster zwischen Füllgut und Deckel von außen. Dichte Deckel wölbten sich durch die Wärmeausdehnung nach oben, was der Taster erfasste. Nachteile dieses Verfahrens sind der technische Aufwand und die Zeit für das Erwärmen.
Das Umgehungspatent funktioniert rein mechanisch, indem die Becherwandung durch Stößel seitlich eingedrückt wird. Dadurch hebt sich ein dichter Deckel etwas an und löst am Signaltaster das „OK“ aus. So lässt sich die Qualität sogar unabhängig von der Konsistenz des Füllguts oder seiner Temperatur sichern. Die vereinfachte Technik ermöglicht darüber hinaus sogar niedrigere Taktzeiten.
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