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Ein bisschen Schaf fliegt in jedem Airbus mit

Wollfilz schmiert Großgetriebe und dichtet Trocknertrommeln ab
Ein bisschen Schaf fliegt in jedem Airbus mit

Eines der vielseitigsten Materialien in der Technik ist Filz: Er schmiert, saugt, dichtet, poliert, dämpft, bremst oder streift ab. Und ständig tun sich neue Anwendungen auf.

Von unserem Redaktionsmitglied Olaf Stauß olaf.stauss@konradin.de

Was haben Merino-Schafe auf südafrikanischen und australischen Weiden mit unserer technischen Welt zu tun? Sehr viel. Ihre Wolle durchsetzt unsere Produkte geradezu. Teile aus Wollfilz sind im Airbus und in Klavieren ebenso anzutreffen, wie in Stahlwerken, Baumsägen, Maschinen und Anlagen. Die Vereinigte Filzfabriken AG in Giengen (VFG) verschickt sie an Abnehmer in über 80 Branchen. „Filz sitzt im Automobil an 70 Stellen, aber nirgends sieht man ihn“, sagt Xaver Gentner, Anwendungstechniker bei der VFG. Und weil die Teile hohe Ansprüche an Qualität und Maßhaltigkeit erfüllen müssen, bezieht die Filzfabrik auf der Schwäbischen Alb ihre Wolle aus ausgewählten Gegenden in Übersee, wo die Schafe das beste Futter finden.
Wer die „Filze“ besucht, wie in Giengen die 1858 gegründete Fabrik genannt wird, merkt sofort, mit welchem Rohstoff gearbeitet wird: Es riecht nach Schaf. Die Wolle wird „gewolft“ (aufgelockert) und gekrempelt, gefilzt, gewalkt, gereinigt und gefärbt. Durch Bohren, Stanzen, Drehen, Fräsen und Schleifen entstehen daraus maßgeschneiderte Bauteile.
Beim Filzen verhaken sich die Fasern unter Einfluss von Feuchtigkeit, Wärme und Reibung ineinander – wie bei einem Pullover, der zu heiß gewaschen wird. Transmissionen treiben die „Walken“ an, wie in alter Zeit. Sie stecken die rhythmischen Schläge am besten weg, erklären die Giengener. Keine Frage, Filz ist ein Werkstoff mit Tradition. Aber eben nicht nur. Seine Bedeutung geht darüber hinaus: „30 Prozent unseres Umsatzes müssen wir jedes Jahr neu generieren, weil unser Material substituiert wird“, erklärt Gentner. Viele „alte“ Produkte wie Musikkassetten-Filze verlieren an Bedeutung, ausgenommen Designer-Filze, die wieder in Mode sind. Dafür kommen ständig neue hinzu. Der Umsatz ist in den letzten Jahren fast kontinuierlich gestiegen und lag 2004 bei 18 Mio. Euro.
Eine neue Anwendung sind evolventenverzahnte Filz-Zahnräder mit Dicken bis zu 50 mm und Durchmesser bis 700 mm. Getränkt mit Öl, sollen sie die Dauerschmierung in Großgetrieben von Offshore-Windkraftanlagen übernehmen, indem sie einfach nur mitlaufen. Das Prinzip hat sich bei Fahrstühlen bewährt: Dort taucht der Schmierfilz beim Auf- und Abfahren immer wieder in Öl ein und befördert das Medium durch Kapillarwirkung zur Führungsachse. Auch die Autoindustrie interessiert sich für diese Speicherfunktion. Sie prüft derzeit Filzringe als Öl-Reservoir für Sinterlager. „Filz kann bis zum Dreifachen seines Eigengewichtes an Öl speichern“, sagt Xaver Gentner. Und diese Fähigkeit gilt nicht nur für Öl. „Warum läuft eine Motorsäge weiter, wenn sie überkopf gehalten wird?“ stellt er eine Denksportaufgabe. Jetzt nicht mehr schwer zu erraten: „Im Vergaserloch ist ein Filz integriert, vollgesaugt mit Sprit. Steht die Säge auf dem Kopf, gibt er den Kraftstoff an den Vergaser ab.“
Ein weiterer wichtiger Umsatzträger der VFG nutzt ebenfalls die Speicherfunktion: das Schlauchprogramm Linetec für die Rohr- und Abwasserkanalsanierung. „Das ist unser Boom-Artikel, bei dem wir zweistellige Wachstumsraten haben“, sagt Martin Lossek, Leiter Einkauf und Werbung. Die europäischen Kanalnetze sind weithin marode. Mit den Filzschläuchen lassen sich die Rohre reparieren, ohne das Erdreich aufzureißen. Dazu tränken die Sanierungstrupps die Liner vor Ort mit Harz und führen sie mit Wasser- oder Luftdruck ins Rohrnetz ein, wo sie sich an die Wandung anschmiegen und aushärten. Die Feinarbeit leisten kamerabestückte Kanalroboter. Ferngesteuert fräsen sie die Abzweige frei und kleiden sie passgenau mit harzgetränkten Hutmanschetten aus. Allerdings bestehen die Schläuche aus „Nadelfilz“. Hergestellt wird er nicht aus Wolle durch „Filzen“ sondern aus synthetischen Fasern durch „Vernadeln“. „Wollfilz würde bei der permanenten Nässe zu faulen beginnen“, erklärt Lossek.
Filze sind so unterschiedlich wie die Anwendungen, in denen sie vorkommen. Ihre Konsistenz reicht von flaumweich bis bretthart. Das Material lässt sich auf vielerlei Weise modifizieren – beispielsweise mottensicher machen, dekatieren (mittig falten), imprägnieren oder flammhemmen. In einer Broschüre wagt sich die VFG weit vor: „Sagen Sie nie, das kann ich vom Filz nicht verlangen.“ Was tatsächlich möglich ist, wird an den Wäschetrocknerdichtungen deutlich, bei denen sich die VFG als Marktführer sieht. „Wir beliefern fast jeden Wäschetrocknerhersteller in Europa“, betont Lossek. Diese Bauteile haben gleich mehrere Funktionen zu erfüllen: Sie müssen den Trockenraum mit 120 °C heißer und feuchter Luft nach außen abdichten, die fertigungsbedingten Maßabweichungen der Trommel ausgleichen und natürlich deren Drehbewegung ermöglichen.
Die meistgebaute Ausführung ist ein Filz mit einseitiger Gleitbeschichtung. Auf der Rückseite erhält er einen Schaumbelag durch Flammkaschieren und obendrauf eine Selbstklebeschicht für die Montage. Zuletzt wird das Filz-Sandwich in Streifen geschnitten und zur Ringdichtung zusammengenäht.
Befragt nach den typischen Werkstoffeigenschaften, lacht Gentner. „Filz ist der Werkstoff der tausend Möglichkeiten“, meint der Industriemeister, der seit 1989 bei der VFG arbeitet. „Das brachten sie mir damals gleich als erstes bei. Aber ich wage zu behaupten, dass es mehr als tausend sind.“ Erschöpfend erklären lässt sich der Werkstoff also nicht. Aber aufzählen, was er alles kann: Filz speichert, isoliert, filtert, schützt, polstert, dämpft/entdröhnt, transportiert und streift Schmutz ab. In Klavieren sorgt er für den richtigen Ton beim Saiten-Anschlag. In Stahlwerken übernehmen es Filze, große Stahlplatten auf den Förderbändern abzubremsen. In Großbäckereien befördern Filz-Bänder die Brötchen, weil der Teig wegen der Luftpolster im Filz nicht anhaftet.
Vielfach verhindern Filze, dass es an Reibstellen quietscht und kratzt, zum Beispiel dort, wo VW seine Airbags einbaut. Auch im Fahrwerk des Airbus wird ein verzahntes Filzringchen eingesetzt. Gentner kennt den Zweck nicht. Er vermutet aber, zum Abstreifen von Staub und Sandkörnern. Und in der Metallbearbeitung streifen Filze das späne- und schmutzdurchsetzte Öl von Metallteilen ab.
Um Einsatzpotenziale ist Lossek und Gentner daher nicht bange. „Unser Problem ist es eher, die Möglichkeiten des Werkstoffes bekannt zu machen“, sagt Martin Lossek.
Filz – Alleskönner in Autos, Maschinen und Klavieren
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