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Konstrukteur und Maschine sind intuitiv verbunden

Virtuelle Produktentstehung: Maschinenbau nutzt Potenziale noch nicht
Konstrukteur und Maschine sind intuitiv verbunden

Digitale Simulationstechniken und virtuelle Prototypen werden auch im Werkzeugmaschinenbau dazu verhelfen, die Time-to-Market zu verkürzen. Das Beispiel Gildemeister zeigt, was heute schon möglich ist.

Sven Hardt ist freier Journalist in Neuenhagen bei Berlin

Werkzeugmaschinen dreidimensional zu visualisieren, ist seit einigen Jahren üblich. Die beeindruckenden Bilder aus dem Computer veranschaulichen aber meistens Maschinen, die nach den klassischen Verfahren entwickelt wurden. Wie sieht es mit dem Einsatz Virtueller Realität (VR) in der Entwicklung der Maschine selbst aus? Bewegen sich auch die Entwickler schon im virtuellen Raum?
„Rein technisch ist das heute kein Problem mehr“, erklärt Florian von der Hagen vom Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (IWB) der TU München. Die Entwicklung sei sogar einfacher als beim Auto, wo der Einsatz von VR für die Konstrukteure längst zum Alltag gehört – denn die Werkzeugmaschine sei weniger komplex als ein Auto und habe auch keine Freiformflächen. Tatsächlich könnten die Wissenschaftler des IWB der Industrie virtuelle Entwicklungstechniken zur Verfügung stellen. Diese würden von den konservativen Maschinenbauern jedoch nur sehr zögerlich angenommen.
Laut Prof. Gunther Reinhart vom IWB setzt die Werkzeugmaschinenindustrie Simulationsmethoden heute nur unzureichend ein. Zeit- und kostenintensive Entwicklungen mit weit zurückgreifenden Optimierungsschleifen am realen Prototypen seien die Folge. Dagegen haben die Münchner den durchgängigen Simulationseinsatz von der Entwicklung bis zur Produktion auf die Werkzeugmaschinenindustrie abgestimmt und am Institut mit Erfolg durchgespielt.
Ihre wichtigsten Werkzeuge sind
– Mehrkörpersimulation (MKS),
– die Finite-Elemente-Methode (FEM) sowie
– die 3D-Simulation in Verbindung mit immersiven Projektionssystemen.
MKS simuliert dynamische Eigenschaften, die aus Massenwirkungen und physikalischen Effekten entstehen: Trägheitsreaktionen, Zwangskräfte in Lagern und Führungen, Antriebskräfte. FEM optimiert die Zerspanleistung anhand der Berechnung der statischen und dynamischen Spitzenlasten. Die immersive 3D-Projektion ist das, was aus Sicht der Maschinenbauinstitute als Virtuelle Realität zu bezeichnen ist. Außerhalb der akademischen Welt allerdings ist die Unterscheidung weniger scharf, und es werden gerne alle Simulationswerkzeuge in den VR-Topf geworfen. Die Bezeichnung virtuelle Produktentstehung sollte nach Ansicht vieler Wissenschaftler dem gesamten Prozess vorbehalten bleiben.
Ihr Hauptnutzen liegt für Dipl.-Ing. Christian Patron vom IWB weniger in den technisch bedingten Effizienzgewinnen. Wichtig ist vielmehr, dass möglichst viele, an einem Projekt arbeitende Entwickler auf Basis einer vereinheitlichten Plattform kommunizieren: „Ein von uns betreutes Projekt in der Abteilung Werkzeugbau bei BMW hat gezeigt, dass allein die regelmäßig stattfindenden Sitzungen im virtuellen Raum die Fehlerquote reduzieren.“
Bei VR-Entwicklung geht es also nicht nur um Visualisierung, sondern um konstruktive Eingriffe der Ingenieure auf virtueller Ebene. Die teure Hardware für VR-gestützte Entwicklung werden jedoch die wenigsten Unternehmen aus der Kaffeekasse bezahlen können. Für einen kastenförmigen 3D-Projektor, etwa den TAN VR Cube, muss man je nach Ausstattung zwischen 250000 und 2 Mio. Euro berappen – ohne die für den Betrieb notwendigen Hochleistungsrechner. Zwei-kanalige Holobenches wie sie beispielsweise die TAN Projektionstechnologie GmbH & Co. KG, Düsseldorf, anbietet, sind bereits ab etwa 85000 Euro zu haben. Diese Tische ermöglichen schon eine sehr gute 3D-Projektion, wie der europäische Marktführer für immersive Projektionssysteme mitteilt. Laut TAN kommen diese Systeme im Maschinenbau kaum zum Einsatz, obwohl sie geeignet und sinnvoll wären. Viele aufwendige und mehrfache Tests mit Probeaufbauten könnten entfallen. Ferner würden Maschinenkonstrukteure durch den Einsatz von 3D-Systemen genauere Daten erzielen, Fehler frühzeitig erkennen und beheben. Die gesamte Konstruktion würde somit besser abgesichert.
Dipl.-Ing. Uwe Rothenburg vom Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik (IPK) in Berlin sieht das größte Potenzial der VR in der Modellierung, „also darin, Bauteile und Konstruktionen direkt im virtuellen Raum zu verändern und auszuprobieren“. Das sei aber noch nicht ausgereift. Die meisten Anwendungen dienten dazu, Daten zu präsentieren oder auszuwerten.
„Simulationssoftware, etwa zur Berechnung von Kinematiken, steckt für die echte VR-Anwendung noch in den Kinderschuhen, ist aber möglich und auch sinnvoll“, so Rothenburg. „VR verbessert die Schnittstelle zwischen Konstrukteur und Computer.“ Die echte 3D-Visualisierung mache Konstruktionen überhaupt erst erfahrbar, und das erleichtere den Bau einer Maschine.
Die neue Interaktionsform in einem Cube könne die Entwicklungszyklen deshalb deutlich verkürzen. Der mit Datenhandschuhen ausgestattete Konstrukteur bewegt sich in der Box und bekommt so einen immersiven Eindruck von der Maschine: Er ist quasi in der Maschine drin. „So kann man einfach besser entwickeln als mit einer Maus vor dem PC-Bildschirm“, weiß Rothenburg.
Doch die Forscher am IPK wollen noch weiter gehen: Der Konstrukteur soll seine virtuelle Maschine nicht nur sehen, er soll sie auch spüren. „Wir nennen das multimodale Interaktion, die Einbeziehung aller menschlichen Sinne“, erklärt der Wissenschaftler. So könnte in nicht allzu ferner Zukunft eine Art Datenanzug mit Kraftrückkopplung die virtuellen Körper fühl- und greifbar machen.
Das IPK gehört seit September letzten Jahres zu den glücklichen Besitzern einer TAN VR-Cube und vermietet diese auch an kleine und mittlere Unternehmen. Die Höhe der Miete sei Verhandlungssache.
Wohl die spannendste Baustelle ist im Augenblick die Integration von Prozessen mit Hilfe hochkompatibler Datenaustauschformate. Denn Programme zur Simulation und virtuellen Entwicklung von Maschinen stehen auch dann noch am Anfang ihrer Entwicklung, wenn man den Aspekt VR im engeren Sinne außer Acht lässt. Und ohne Datenkonsistenz wird auch VR nicht mehr Fahrt aufnehmen.
Tatsächlich gilt die durchgehende Digitalisierung des Produktentstehungsprozesses als entscheidender Wettbewerbsfaktor der Zukunft. Aus diesem Grund arbeiten 51 Partner seit 1998 am nationalen Leitprojekt „Integrierte Virtuelle Produktentstehung“ (iViP). Das Projekt will mit Kompatibilitätsproblemen aufräumen. Eine offene Integrationsplattform soll bestehende, heterogene Systemwelten unterstützen. Der Datenaustausch erfolgt synchron auf der Basis Web-basierter Technologien. Jeder Konstrukteur steigt über einen vereinheitlichten Client problemlos in den Entwicklungsprozess ein.
Die Gildemeister AG in Bielefeld ist einer der iViP-Partner. Im Rahmen des Projekts soll dort der erste komplett digitale Werkzeugmaschinenprototyp entstehen. Für Dr.-Ing. Zhixu Liu, Teamleiter bei der Gildemeister Drehmaschinen GmbH und verantwortlich für die Entwicklung neuer Vertikaldrehmaschinen und Bearbeitungszentren, liegt der größte Vorteil in der Feinoptimierung des Maschinenverhaltens schon während der Entwicklungsphase. „Das war vorher nur am Prototypen möglich“, erklärt Liu. „Produktivität und Genauigkeit können jetzt schon im Computer optimiert werden. Damit entfällt die Zeit für den Bau und Umbau eines Prototypen.“
Liu ist außerdem überzeugt, dass virtuell entwickelte Maschinen besser und sicherer sind als konventionell konstruierte. Dabei hat Gildemeister noch keine eigene Software für die komplette Simulation mechatronischer Systeme – und nichts anderes ist eine Werkzeugmaschine – im Haus. Im Rahmen des iViP-Projekts vergeben die Bielefelder die Berechnungsjobs an die Tecnomatix GmbH, Neu-Isenburg, und die Siemens AG in Nürnberg, Bereich Automation and Drives. „Teilweise lassen wir die Berechnungen auch in Hochschulen durchführen“, berichtet Liu. Dieses Vorgehen reduziert Investitionskosten im eigenen Unternehmen und ermöglicht ein Testen im finanziell vernünftigen Rahmen.
Liu schätzt, dass ein mittelständischer Maschinenbauer etwa 20000 bis 50000 Euro in eigene Hard- und Software investieren muss, wenn er die neuen Simulationstechniken sinnvoll nutzen will. Gildemeister investiert zur Zeit zwischen 5000 und 15000 Euro pro neu entwickelter Maschine in Simulationen. Aus Kostengründen ist es den Bielefeldern außerhalb des iViP-Projekts noch nicht möglich, eine Maschine komplett virtuell zu entwickeln.
Mit VR nutzt der Konzern aber schon heute in Teilbereichen der Entwicklung deutliche Einsparpotenziale. Am überzeugendsten findet Liu die virtuelle Entwicklung bei der Simulation von Kinematiken sowie der Antriebsdynamik. „Drehmoment, Leistung und so weiter optimieren wir komplett virtuell, ebenso die mechanischen Eigenschaften einiger wichtiger Bauteile. Die Ergebnisse sind absolut positiv.“ Aber auch die Simulationen der NC- und PLC-Funktionen – weitere Bereiche eines mechatronischen Systems – bringen geldwerte Vorteile: So ließen sich etwa Kollisionen in Folge von Programmierfehlern frühzeitig erkennen.
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