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Kunststoff erobert das Automobil

Duromer-Heckklappe von BMW integriert Spoiler und Antennen
Kunststoff erobert das Automobil

Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte: Während sich die Stahlbranche nach den spektakulären Audi-Projekten A8 und A2 über Jahre hinweg auf Aluminium als Hauptgegner einschoss, haben die Kunststoffhersteller ihre Positionen zielstrebig ausgebaut.

Klaus Vollrath ist Fachjournalist in Rees

Beim Automobil avanciert Kunststoff mehr und mehr zum gleichberechtigten Konstruktionswerkstoff: „Im Bereich der Karosserie heißt die Lösung Werkstoffmix“, erklärten die beiden BMW-Ingenieure Joachim Wehner und Anja Maier bei der Vorstellung des Konzepts der neuen 6er-Baureihe von BMW. „Die Rohkarosserie ist eine Mischbauweise aus Stahl-, Aluminium- und Kunststoffteilen.“ Die vorderen Seitenwände (Kotflügel) des neuen Fahrzeugs bestehen aus Kunststoff ebenso wie die Heckklappe und die Verdeckklappe der Cabriolet-Ausführung. Lohn des Thermoplasteinsatzes im Vorderwagenbereich sind rund 4 kg Gewichtseinsparung.
Das darf nicht darüber hinweg täuschen, dass die Kunststoffe im Automobilbau einem knallharten Wettbewerb mit den Metallen ausgesetzt sind, die ihrerseits mit sehr engen Toleranzen verarbeitet werden können. Es ist durchaus möglich, dass Kunststoffe erobertes Terrain wieder verlieren. Das zeigt das Beispiel der Heckklappe des A-Klasse-Modells von Daimler-Chrysler, das beim Nachfolgemodell wieder von Polymeren auf Stahl umgestellt wurde. Zahlreiche Vorträge und Exponate auf dem VDI-Kongress „Kunststoffe im Automobilbau“ im Frühjahr machten jedoch klar, dass sich die Kunststoffseite davon nicht abschrecken lässt. Sie arbeitet intensiv an neuen Verfahren und an Verbesserungen ihrer Werkstoffe. Die auf der Mannheimer Tagung vorgestellten Projekte lassen erahnen, dass Kunststoff weiteres Terrain hinzugewinnen wird.
Welcher Aufwand manchmal getrieben werden muss, um die Fertigungstoleranzen bei großen Spritzgießteilen einzuengen, verdeutlicht gerade das Beispiel der Seitenwand des 6er-Coupé von BMW aus Noryl GTX (PPA+PA). Die Genauigkeitsanforderungen an das Spritzgießwerkzeug waren so hoch, dass die Schieberpositionen erst nach Aufheizen des Werkzeuges auf 120 °C eingestellt werden konnten, um Toleranzen von maximal 0,03 mm zu erreichen – bei Werkzeuggewichten von 17 t keine Kleinigkeit. Wichtig war außerdem die genaue Kontrolle der Granulatfeuchte vor dem Spritzgießen und das Temperieren und Konditionieren der Teile nach dem Prozess, damit sie vor dem Lackieren nicht nachschwinden. Spezielle Transportbehälter sorgen dafür, dass dieser Zustand bis zu zehn Tage erhalten bleibt, bevor die Teile am Fahrzeug verbaut werden. Insgesamt, so das Fazit der Projektverantwortlichen, wird die Fertigung so komplex, dass der Einsatz nur bei kleineren Stückzahlen wirtschaftlich sinnvoll erscheint. Die BMW-Fachleute sprechen daher von notwendigen Verbesserungen auf der Werkstoffseite, etwa ein Anheben der Temperaturbeständigkeit auf ein Niveau, das eine Online-Lackierung ermöglicht (Durchlauf durch die KTL-Phase). Wichtig sei weiter, die hohe Feuchteabhängigkeit zu beseitigen. Zur Zeit wird ein PA+ABS-Blend mit 8 % Mineralfüller untersucht.
Im Unterschied zum Vorderwagen bevorzugten die BMW-Ingenieure bei der Heckklappe eine Duromer-Lösung. Nur mit dieser Werkstoffwahl war es möglich, den Spoiler gleich mit anzuformen und elektronische Komponenten wie Antennen zu integrieren. Die Gewichtsersparnis gegenüber einer Stahlausführung betrug in diesem Fall rund 10 %.
„Wir waren sehr erfolgreich, die Temperaturbeständigkeit unserer Werkstoffe zu steigern“, berichtet John Carrington, Global Marketing Direktor von GE Advanced Materials Automotive, einem Geschäftsbereich des GE-Plastics-Konzern. Mit Ultem XHT verfüge GE über einen Thermoplasten mit einer Dauertemperaturbeständigkeit von 247 °C. Er eigne sich beispielsweise sehr gut zum Herstellen von Drosselklappen-Gehäusen, die rund 50 % leichter sind als vergleichbare Metallausführungen. Auch andere Anbieter machen klar, dass Kunststoffe keine Angst mehr vor Hitze und Chemikalien haben und immer mehr Metalldomänen erobern. Auf dem Mannheimer VDI-Kongress war unter anderem ein modernes Dieselaggregat von PSA Peugeot Citroen zu sehen, das mit zahlreichen Polymer-Komponenten ausgestattet ist: darunter die Gehäuse von Dieselpumpe und Thermostat, Kühlmittelschläuche, Kraftstoff- und Luftleitungen. Weiteres Highlight war die erste Lkw-Ölwanne aus hoch wärmebeständigem Ultramid (PA 6.6 mit 35 % Glasfaser) für einen Actros. Das günstige Dämpfungsverhalten des Materials verringert als positive Nebenwirkung die Lärmemissionen. Auch Ryton-PPS-Kunststoffe tauchen inzwischen häufig im Motorraum auf, etwa in Brems-, Kühl- und Kraftstofffördersystemen, aber auch im Bereich der Elektrik. Beispiele dafür sind Bürstenhalter und Glühbirnen-Sockel.
Der neue Smart forfour hat eine Nase ganz aus Kunststoff. Die Ingenieure wählten ein Konzept, bei dem der offene Rohbauvorderwagen „nahezu alle Crash-relevanten Kräfte durch Zusammenwirken von Quer- und Längsträgern aufnimmt“, wie Alexander Pothoven von der Smart GmbH, Böblingen, verrät. Dies machte es möglich, bei der Vorderstruktur auf eine Stahlverbundkonstruktion zu verzichten. Der Frontendträger konnte als Kunststoffkonstruktion ohne Stahlverstärkung ausgelegt werden. Dessen Komponenten müssen beim standardmäßigen ODB-Crash mit 64 km/h lediglich 1,5 % der Aufprallenergie aufnehmen – für den Rest ist der Rohbauvorderwagen zuständig (ODB = offset deformable barrier: Frontaufprall auf Barriere mit 40 % Überdeckung). Die Vorteile sind Einsparungen von 30 % bei den Investitionskosten und von 10 % beim Gewicht: Der Träger aus PP mit 40 % Glasfaserverstärkung wiegt nur 5 kg, das Frontend-Modul nur 14 kg. Ein weiteres Highlight des forfour ist seine Motorhaube aus reinem Kunststoff-Verbund.
Sogar das Hightech-Material CFK schickt sich zum Sprung ins Automobil an (CFK = Carbonfaserverstärkter Kunststoff). „Bei der Verfahrenstechnik wurde auf Qualität, Reproduzierbarkeit und Automatisierung in der Produktion geachtet“, sagten Michael Bechthold von Daimler-Chrysler und Paul MacKenzie von McLaren Composites, als sie Fertigungstechnologien der CFK-Karosserie des neuen Mercedes-Benz SLR McLaren vorstellten. Fazit: Einige getesteten Herstellprozesse sollen das Potenzial haben, CFK-Anwendungen aus der Renner-Nische in die Kleinserie zu bringen.
Der Trend zu immer größeren Scheiben zwingt die Automobilbauer, nach Alternativen für Glas zu suchen. Nicht nur aus Gewichtsgründen: Schwere Scheiben im Dachbereich verschieben den Fahrzeugschwerpunkt nach oben – mit negativen Auswirkungen auf die Fahrsicherheit. „In Nischen wie der Sicherheitsverscheibung von Polizeiautos hat sich Polycarbonat bereits etabliert“, sagt Dr. Falk Ullmann von Daimler-Chrysler und zeigt damit die Richtung an, in der entwickelt wird.
Das wasserklare Polycarbonat (PC) hat gegenüber Glas einen Gewichtsvorteil von rund 50 %, weist eine hohe Schlagzähigkeit auf und lässt sich gut formen. Nachdem Nachteile wie unzureichende Kratzfestigkeit und Witterungsbeständigkeit unter anderem durch kratzfeste Lacksysteme überwunden werden konnten, hat PC einen regelrechten Siegeszug in Scheinwerfern und Rückleuchten vollzogen. Spätestens die Einführung des Smarts mit seiner PC-Scheibe im hinteren Seitenbereich im Jahr 1998 weckte das Interesse von Fahrzeugherstellern und namhaften Lieferanten. Mit den bisherigen Entwicklungsergebnissen scheinen die Kfz-Hersteller aber nicht zufrieden zu sein. Technische Defizite sehen sie noch bei der Enteisung, der Scheibenwischerbeständigkeit und dem Schutz vor Infrarot-Strahlung. Zudem wird gefordert, den höheren Materialpreis durch Integrieren zusätzlicher Funktionen wie Führungselemente, Stege oder Klebeflansche zu kompensieren.
Daimler-Chrysler und PSA Peugeot Citroen kündigten eine gemeinsame Initiative an. Zusammen mit interessierten Lieferanten sollen Tests, Fertigungsverfahren und QS-Methoden entwickelt werden, um den Kunststofflösungen zur Wettbewerbsfähigkeit mit Mineralgläsern zu verhelfen.
Industrieanzeiger
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