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Logistikkosten um das 90fache reduziert

Serie Teil 2: Vater des Kleinladungsträgersystems erhielt DIN-Preis
Logistikkosten um das 90fache reduziert

Die Entwicklung einer Norm für Kleinladungsträger (KLT) hat den Materialfluss in der Automobilindustrie von Grund auf verändert. Millionen von Kunststoffkisten für kleine Bauteile pendeln zwischen den Autobauern und ihren Zulieferern hin und her. Sie ersetzen die früher üblichen Einwegverpackungen und reduzieren Lager- und Prozesskosten.

Sven Hardt ist freier Journalist in Neuenhagen bei Berlin

Scheinbar simple Ideen haben oft die größte Durchschlagskraft. Das gilt zweifellos für ein genormtes System blauer Kunststoffkisten, das die Materiallogistik der Automobilindustrie in den 80er-Jahren entscheidend vereinfacht hat. Die Kleinladungsträger (KLT) verdrängten die Flut der Einwegverpackungen für den Transport von Bauteilen. Grund genug für eine fünfköpfige Jury, den mit 15 000 Euro dotierten DIN-Preis „Nutzen der Normung“ im November 2001 an Dipl.-Kfm. Jürgen Herter zu verleihen, der die tollen Kisten in den 80-er Jahren als Obmann der entsprechenden Normausschüsse mitentwickelt hat.
Der Mannheimer ist ein alter Logistik-Hase. Er war bei der Freudenberg Dichtungs- und Schwingungstechnik KG, Weinheim, für die Vertriebslogistik zuständig und kannte das Chaos des Kleinteilevertriebs aus eigener leidvoller Erfahrung. Die Kunden kamen mit der aufwendigen Lagerhaltung für Einwegverpackungen oder individuelle KLT nicht mehr klar. Nicht nur der fehlende Platz machte Probleme. Auch der hohe Abstimmungsbedarf bei Lieferlosen und -intervallen sorgte bei den Einkaufslogistikern der Autobauer in den 80-er Jahren für hohe Adrenalinspiegel. Sie riefen nach einem genormten Kreislaufsystem, das die Kostenlawine abwälzen sollte.
„Just in time“ hieß die damals neue Parole. Verarbeiteten Deutschlands Autoschmieden 1975 noch 30 000 unterschiedliche Teile, so waren es 1990 bereits 151 000. Zulieferer und Hersteller hantierten mit 40 nicht kompatiblen Systemen von Kleinladungsträgern und setzten vorwiegend auf Einwegverpackungen aus Papier, Pappe oder Folien. Ein kompletter Irrweg, das wurde Mitte der Achtziger deutlich.
Der Verband der Automobilindustrie (VDA) zog die Notbremse und rief Ende 1986 das Projekt „Kleinladungsträger“ ins Leben, zunächst ohne die Zulieferer. Deren Vertreter intervenierten erfolgreich mit der Bitte um Zusammenarbeit. Kurz darauf übernahm das Deutsche Institut für Normung (DIN) die Koordination mit dem Ziel, eine Norm für KLT zu verabschieden. Alle Beteiligten arbeiteten fortan im Normenausschuss Transportkette des DIN zusammen. Zur gleichen Zeit entwickelte der französische Automobilverband Galia ein eigenes System. Zwischen den Verbänden war man sich einig: Beide Systeme sollten kompatibel sein. Ein Teil der Gruppe kümmerte sich um die Kommunikation mit den französischen Kollegen. Die DIN 30820-1 und -2 wurden im Februar 1991 veröffentlicht. Es sollte eine echte Erfolgsgeschichte werden.
Bereits 1988 starteten Ford, Mercedes-Benz und Volkswagen gemeinsam mit Freudenberg erste Pilotprojekte mit dem genormten Behältersystem. Anfang 1991 waren bereits mehr als 1,5 Millionen KLT im Einsatz. Das Ziel war klar: Die Zulieferindustrie und ihre Abnehmer mussten in die Lage versetzt werden, ein durchgängiges Behälterkonzept vom Teileherstellungsprozess bis zum Montageplatz zu realisieren. Die Lösung bestand in einer modularen Behälterfamilie. Die Kisten sind typen- und ausführungsgleich und insofern poolfähig. Das unvermeidbare Kommissionieren wird optimiert, die Qualitätssicherung verbessert.
Heute sind rund 25 Millionen genormte Kleinladungsträger im Umlauf. Das entspricht einem Investitionsvolumen von 125 Mio. Euro. Die Mehrkosten für die stabil gebauten Kunststoffkästen haben sich bereits nach sechs bis acht Umläufen amortisiert. Die Kisten überstehen mehr als 100 Umläufe unbeschadet, obwohl sie für nur zehn Runden konzipiert wurden. So werden Kosten um den Faktor 90 eingespart. Entsorgungskosten für die früher üblichen Einwegverpackungen sind hier noch nicht einmal berücksichtigt.
Doch die KLT sind nicht nur wirtschaftlich überzeugend, sie sind – eben weil sie so langlebig sind – auch sehr umweltfreundlich. Als Material der Kisten haben die Normer Polypropylen festgelegt. Dieser Kunststoff lässt sich nahezu vollständig recyceln. Ein weiterer ökologischer Pluspunkt: In den gestapelten KLT lagern Kleinteile absolut sicher. Maschinen zur Anbringung von Bereifungsbändern oder Schrumpffolien werden nicht mehr benötigt. Der Energieverbrauch sinkt. Die Arbeitssicherheit steigt. Mit ihrem Inkrafttreten erfüllte die KLT-Norm bereits die Forderungen der europäischen Verpackungsrichtlinie, die eine Minimierung der Verpackungsabfälle fordert.
Das System basiert auf dem international genormten Flächenmodul 600 mm x 400 mm. Es besteht aus acht verschieden großen, ineinander stapelbaren KLT mit maximal 50 kp Trag- und maximal 600 kp Auflast sowie ebenfalls genormtem Zubehör für die transportsichere Palettierung. Griffe, Löcher und Nuten sind mit den gängigen Handhabungssystemen kompatibel. Zwei genormte Kartentaschen bieten Platz für Informationen wie Barcodes und bilden die Schnittstelle zur Software moderner Materialflusssysteme.
Für die Kunststoffverarbeiter, die sich am Normungsverfahren beteiligten, hat sich das Engagement gelohnt. Die Ergebnisse des Normverfahrens stehen zwar jedem Interessenten offen, also auch jedem Spritzgießer. Dennoch wird der deutsche Markt von den beiden Unternehmen beherrscht, die von Anfang an mit im Boot waren. Die Stucki Kunststoffverarbeitung GmbH, Bad Salzuflen, heute Teil des Linpac-Konzerns, und die Georg Utz GmbH, Schüttorf, diskutierten mit Jürgen Herter und den Experten des VDA am runden Tisch, um die KLT-DIN zu entwickeln. Der Erfolg gab ihnen recht. Die DIN-Norm für KLT wurde zur Grundlage der europaweiten Normen EN 13199-1 bis -3, die seit Oktober 2000 gelten.
Die Transportkette als System zu begreifen, war die wesentliche Voraussetzung dieser Entwicklung. Ein System funktioniert nur, wenn alle eingesetzten Sachmittel systemkompatibel sind. Spätestens hier wird klar: Es geht bei dieser Norm eben nicht um ein paar blaue Kunststoffkisten mit Löchern, Griffen und Nuten. Vielmehr haben Herter und sein Team Informations- und Steuerungssysteme mit rechtlichen und kommerziellen Aspekten verknüpft. Ihre Entwicklung greift schließlich tief ein in die strategische Beziehung zwischen Zulieferer und Automobilhersteller. Eine komplexe Aufgabe, deren Erledigung Jahre benötigt. Dabei mussten die Planer auch die Beziehungen zu Nachbarsystemen wie Gütererzeugung oder Güterverwendung bedenken.
Das Beispiel verdeutlicht: Normung bedeutet immer auch notwendige Innovation. Das KLT-System hat die Lieferkette in der deutschen Automobilindustrie auf das Effizienzniveau gebracht, das ein globalisierter Markt erfordert. Ein Verzicht auf dieses Vorhaben hätte dagegen deutliche Wettbewerbsnachteile gebracht.
Was Normen bewirken
– Einsparungen liegen nachweislich zwischen dem 2- bis 12fachen der Normungskosten vor, etwa bei Typenreduzierung.
– Betriebswirtschaftlich wird der Nutzen auf den 5fachen Wert gegenüber den Kosten geschätzt.
– Die Anpassungskosten bei Nichtbeachtung der Normung sind außerordentlich hoch. Beispiel: Im europäischen Bereich sollte vor einiger Zeit in einer Grundlagennorm bei technischen Zeichnungen ein Oberflächenzeichen geändert werden. Für einen großen Industriebetrieb bedeutete dies, rund 10 Millionen technische Zeichnungen ändern zu müssen. Nimmt man nur eine halbe Stunde Arbeitszeit an, die für eine einzige Änderung erforderlich ist, lässt sich leicht ausrechnen, was diese Anpassung den Betrieb gekostet hätte – und natürlich alle anderen betroffenen Bereiche auch. Diese Entscheidung konnte in Brüssel rückgängig gemacht werden.
– Auf jährlich 700 Mio. Euro werden die Kosten der Europäischen Normung im Rahmen des CEN geschätzt. Dies entspricht einem Gegenwert von 5000 Vollzeit-Arbeitskräften.
– Der Nutzen der Normung liegt allein in Deutschland bei über 15 Mrd. Euro jährlichem Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt.
– Normung bewirkt ein Drittel des Wirtschaftswachstums.
– Normung stärkt den Erfolg von Unternehmen mehr als Patente und Lizenzen.
Quelle: DIN Deutsches Institut für Normung e. V.
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