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Materialica – verkanntes Genie bleibt innovativ

Werkstoffmesse in München: Gießlieren als neues Alu-Fügeverfahren
Materialica – verkanntes Genie bleibt innovativ

Trotz ungünstiger Konjunktur und leicht gesunkener Ausstellerzahl spielte die Werkstoffmesse Materialica ihre Stärken aus: Entwickler führten profunde Fachgespräche, zahlreiche Innovationen gaben Impulse.

Von unserem Redaktionsmitglied Olaf Stauß olaf.stauss@konradin.de

Die Besucher drängten sich um den Stand der International Product Sales (IPS) GbR aus Göppingen, wo Tonci Ujdur und seine Kollegen mit dem Bunsenbrenner hantierten. Sie führten das „Gießlieren“ vor, ein neues Fügeverfahren für Aluminium, das ohne Flussmittel, Entfetten und zu hohe Hitze auskommt. Den Namen kreierten die Erfinder aus „Gießen“ und „Legieren“. Kern ihrer neuen Methode ist die Alu- Legierung Al 75, die die IPS-Leute in Form eines Drahtes anbieten und die schon bei 380 °C schmilzt: Ujdur erhitzt die Alu- Fügeteile und prüft die Temperatur des Werkstücks mit dem Draht. Sobald dieser anschmilzt, die Teile also etwa 380 °C warm sind, trägt er den Zusatzstoff auf. Um die Oxidschicht aufzureißen, kratzt der IPS-Mitarbeiter mit einer Anreißnadel in der frisch benetzten Fügestelle. „Das genügt“, sagt er, „beim weiteren Erwärmen wird die restliche Oxidschicht vollständig unterwandert“. In der Serienproduktion kann anstelle der kratzenden Anreißnadel ein Laser oder Ultraschall verwendet werden. Die Diffusion beginnt ab etwa 420 °C, der Zusatzstoff Al 75 legiert das Grundmaterial an und es entsteht eine flächige Verbindung, die einer Schweißnaht ähnelt. Der Vorteil gegenüber dem Schweißen liegt vor allem in den Temperaturen weit unter dem Schmelzpunkt von Aluminium (660 °C). Die Werkstück-Legierung muss zum Fügen nicht bekannt sein.
Gießlieren lässt sich auch gut zum Reparieren verwenden, wie Ujdur an diversen Werkstücken vorführt: Beschädigte Gewindelöcher können beispielsweise ausgegossen und neu ausgedreht werden, Risse lassen sich schließen und Oberflächen nacharbeiten. Der verwendete Zusatzstoff Al 75 bietet eine Zugfestigkeit von 85 N/mm², für höhere Ansprüche steht Al 210 mit 210 N/mm² im Programm.
Die Menschentrauben, die sich vor dem auffälligen IPS-Stand bildeten, wünschten sich die Münchener Veranstalter für die gesamte Messe – und die Materialica hätte sie auch verdient. Denn das Wichtigste stimmte: Hochkarätige Fachleute besuchten die Stände. „Hier sind keine Nieten unterwegs“, sagte ein Aussteller, „sondern Entwickler und Konstrukteure, die mit konkreten Problemstellungen kommen“. Auf der Materialica wird gearbeitet. Auch die Ausrichtung als Plattform für „Product Engineering“ bewährte sich und traf das Bedürfnis der Besucher. Doch andererseits hätten der Messe mehr Aussteller als die 262 gut getan, die in einer Halle das gesamte Material-Spektrum abdeckten. Und die meisten Aussteller wünschten sich trotz guter Gespräche mehr Besucher als die 6200, die die Messe München zählte und immerhin sogar einen Zuwachs bedeuteten. Noch ist die Materialica im sechsten Jahr wie ein Teenager, der voller Möglichkeiten und Chancen steckt, aber sie noch nicht ganz frei entfalten kann – und zudem gedrückt wird von der Konjunktur.
Auch Neuheiten gab es genügend zu entdecken für diejenigen, die stöberten und gezielt danach fragten. Die Polymaterials AG, Kaufbeuren, will beispielsweise zusammen mit ihrem Maschinenbau-Partner in absehbarer Zeit einen 3D-Printer auf den Markt bringen, mit dem Entwickler schnell mal ein Teil ausdrucken können, so wie bisher ein Listing auf Papier. Das fürs Büro konzipierte Gerät basiert auf der Inkjet-Technologie und soll nicht teurer werden als ein handelsüblicher Laserdrucker. Die „Tinte“ aus speziellen Polymeren liefert Polymaterials. „Wir sind von der Technik und dem Markt überzeugt“, sagte Dr. Gerhard Maier, technischer Leiter des Kunststoffherstellers.
Die Rautaruukki Stahl GmbH aus Duisburg, erstmals auf der Materialica, präsentierte ihre ultrahochfesten Stähle Litac Ragal DPF mit Mindest-Zugfestigkeiten bis 1000 N/mm². Durch die Feuerverzinkung seien sie ohne Konkurrenz im Markt, meinte Automotive- Geschäftsbereichsleiter Dirk Sauer. Er hält die Nischenprodukte auch außerhalb des Automobilbaus für interessant, „beispielsweise zum Versteifen von Fenster- und Türprofilen“.
Aus der Oberflächentechnik meldete die Rudolf Hillebrand GmbH & Co. KG, Wickede, dass sie thermisch stabile Kunststoffe wie PA 6 in Großserien kratzbeständig und reibungsarm pulverlackieren kann. Das Unternehmen ist durch die Übernahme der schweizerischen Tribotech AG außerdem in der Lage, Gleitlacke aufzubringen, die zu niedrigen Reibwerten von bis zu 0,02 führen. Dabei handelt es sich um weiche Lacke, die Trockenschmierung für bewegte Teile wie Zahnräder, Türschließer, Schrauben oder Steuerbolzen ermöglichen. Sie überwinden die Haftreibung oder übernehmen die Funktion einer Einlaufhilfe. „Unser Know-how ist , Lacke so zu kombinieren, dass neue Anwendungen entstehen“, erklärte Produktmanager Uwe Horstmann.
Was Hillebrand mit Lacken tut, macht die Siegfried Schaal Metallveredelung GmbH & Co. in Sigmaringendorf mit Galvanik. Chrom-Schaal (so bezeichnet sich das Unternehmen selbst) gelingt es jetzt mit Hilfe einer Vorbehandlung, Spritzgussteile aus PA 6 glänzend oder matt zu verchromen, ohne dass „Orangenhaut“ entsteht. Neu ist auch die Möglichkeit, verchromte Oberflächen mit PVD zu beschichten und dann mit einem Anti-Fingerprint-Coating zu versehen. Fingerabdrücke haben kaum eine Chance und trotz Schutzüberzug bleibt die metallische Haptik erhalten.
Die Frenzelit-Werke GmbH & Co. KG, Bad Berneck, bietet die Vliese Hicotec an. Nicht die übliche Massenware, sondern Vliese mit Hochleistungs-Fasern, die dadurch zum Funktions-Bauteil werden. Hicotec gibt es zum Beispiel mit Aktivkohlefasern für die Reinraumfiltration. Oder als Rohstoff für Langfaser-verstärkte Kunststoffe: Lagerschalen aus diesem Material können beispielsweise vor dem Spritzgießen in die Form eingelegt werden, so dass das Polymerteil durch einen einzigen Zusatzschritt eine Funktionsoberfläche erhält. Das Besondere an Hicotec: Der Entwickler kann Gedanken in verschiedenste (Faser-)Richtungen spinnen. Der Anstoß dazu ging sogar von einem ganz und gar nicht-technischen Produkt aus: Er kam von einer Sondermaschine zum Fertigen von Kokos-Vliesen für Baumsetzlinge.
Alle diese Innovationen gibt es auf der Materialica zu finden, allerdings auf wenigen Quadratmetern untergebracht und gut versteckt. Dahinter steckt ein Plus, aber auch ein Minus: Warum sind die Neuheiten so wenig plakativ herausgestellt, so verborgen? Klaus Dittrich, seit Februar für die Messe zuständiger Geschäftsführer, sieht die Materialica „im Kern gut positioniert“, erkennt aber dennoch Optimierungsmöglichkeiten. „Es gibt ein Potenzial für noch mehr Aussteller. Und das Marketing können wir durch Instrumente des Customer Relationship wie etwa einen Newsletter verbessern.“
Eine hochinteressante Neuerung hat sich Dittrich schon dieses Jahr einfallen lassen, die in der Branche – auf lange Sicht – vieles bewegen könnte. Mit dem Materialica Design Award lockte er 44 Designer nach München, die ihre Arbeiten auf einem „Design Boulevard“ mitten in der Halle zeigten. Ausgewählt wurden sie vom Kooperationspartner IF International Design GmbH, Hannover, aus 152 eingereichten Beiträgen. Der Preis war die Messebeteiligung. Zwei Welten begegneten sich, die einander fremd sind, obwohl sie beide in der Technik arbeiten: Hier die pragmatischen Ingenieure, die gerne über Fakten reden. Dort die Designer, die zurückhaltend empfehlen, ein Produkt erst einmal wirken zu lassen. Wieder bietet die Materialica einen Nährboden für Neues, der fruchtbar werden kann für die Branche. Aber auch für die Werkstoffmesse selbst? Bei der Preisverleihung jedenfalls blieben die rund 400 anwesenden Designer unter sich, griffige Synergien stellen sich nicht auf Anhieb ein.
Durch die parallel veranstaltete Ceramitec, internationale Leitmesse für die Keramikindustrie, fand die Materialica unter besonderen Rahmenbedingungen statt: Der wissenschaftliche Begleitkongress Materials Week konzentrierte sich diesmal ganz auf die Keramik. Die Task GmbH, Dresden, die Anwender über den Keramik-Einsatz berät, war auf 242 m² mit ihrem bisher größten Stand vertreten, vielleicht dem größten überhaupt auf der Materialica. Geschäftsführer Dr. Michael Zins: „Wir haben 1000 Einladungen verschickt, aber alleine kann die Keramik die Messe nicht machen.“ Auf dem Task-Stand zeigten etliche Keramikanbieter Flagge mit eigenem Personal. Der aus sieben Fraunhofer-Instituten bestehende Verbund „Hochleistungskeramik“ (HLK) schloss sich daran direkt an. Mit Demonstratoren wollen die Keramiker von sich reden machen. Ein Beispiel ist das „Bügeleisen des 21. Jahrhunderts“, das seit der letzten Materialica zum Gespräch geworden ist. Geplant ist, die kratzfeste Keramiksohle weiterzuentwickeln und mit Heizleitern direkt zu erwärmen, die im Siebdruck aufgeprägt werden. Dies spart Energie und ermöglicht eine genauere Temperaturregelung.
Materialica-Fazit: Noch immer ist die Werkstoff-Messe ein zartes, aber edles Pflänzlein. Bringt die Industrie es nicht eines Tages richtig zum Blühen, verzichtet sie auf einen wichtigen Impulsgeber.
Bügeleisen von morgen hat heizbare Keramiksohle
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