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Nanopartikel als trojanische Pferde

Nanoskalige Silicone machen Lacke hart und hitzebeständig
Nanopartikel als trojanische Pferde

Wie Nanoteilchen funktionieren und was sie vermögen, wird an den nanoskaligen Siliconen deutlich, die der Wacker-Konzern einsetzt: Sie machen Autolacke immun gegen Steinschlag selbst bei tiefsten Temperaturen. Und Kunststoffe überstehen beim Löten kurzzeitig 250 °C.

Christof Bachmair ist Pressesprecher der Wacker-Chemie GmbH, München

Klirrende Kälte. Ein Auto fährt mit hohem Tempo auf der winterlichen Landstraße. Plötzlich schleudert es ein kleines Steinchen hoch, das mit ungebremster Wucht auf den Autolack trifft. „Ein normaler Lack hätte da keine Chance“, sagt Dr. Jochen Ebenhoch, Projektleiter für „nanoskalige Silicone“ bei der Wacker-Chemie GmbH, München. „Denn Eigenschaften wie Witterungsbeständigkeit und Steinschlagfestigkeit bei tiefen Temperaturen lassen sich bei den üblichen Pulverlacken nur sehr schwer realisieren – der Lack verliert in der Kälte seine Zähigkeit. Er wird spröder, und der Aufprall des Steinchens führt schnell zur Ausbreitung von Rissen.“
Ganz anders verhält es sich bei dem Material, das Wacker Silicones in der zweiten Jahreshälfte 2004 auf den Markt brachte: Den Lacken sind winzige Siliconteilchen beigemischt, die auch bei tiefen Temperaturen die Steinschlagfestigkeit verbessern können. Diese nanoskaligen Silicone besitzen Durchmesser zwischen zehn und mehreren hundert Nanometern. Sie sind damit hundert- bis tausendmal kleiner als der Durchmesser eines Haares. Schon weniger als fünf Gewichtsprozent genügen, um die Eigenschaften des Lacks stark zu verbessern: „Risse würden entweder gar nicht erst entstehen oder, wenn sie entstünden, sofort an einem solchen Nanopartikel gestoppt. Denn dieses Teilchen fängt die beim Aufschlag des Steinchens freiwerdende Energie ab“, erklärt Ebenhoch.
Doch dies ist nur ein Beispiel für die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der nanoskaligen Silicone, die Wacker unter dem Namen Genioperl auf den Markt gebracht hat. Siliconelastomere sind generell sehr stabil gegen hohe Temperaturen und auch bei -40 °C noch weichelastisch, wenn andere Kunststoffe längst spröde geworden sind. Der Grund liegt in ihrem Grundgerüst, das nicht auf Kohlenstoff basiert, sondern auf Silicium und Sauerstoff – ganz ähnlich dem Quarz. Damit verstärkte Kunststoffe, beispielsweise Karosserieteile, geben mechanischen Belastungen nicht so schnell nach: Sie brechen und reißen wesentlich seltener.
Zu diesen an sich schon sehr positiven Eigenschaften der Silicone kommt noch der Vorteil der Nanoskaligkeit. „Für uns ist insbesondere interessant, dass die Oberfläche der Teilchen im Verhältnis zu ihrem Volumen deutlich ansteigt, je kleiner sie werden“, sagt Ebenhoch und fügt hinzu: „Da viele Eigenschaften durch die Oberfläche bestimmt werden, können wir dem Anwender eine Vielzahl von maßgeschneiderten Lösungen anbieten – einfach dadurch, dass wir die nanoskaligen Silicone fast beliebig chemisch verändern und Stoffen wie Lacken, Harzen oder Lösungsmitteln beimengen.“ Selbst wenn die winzigen Teilchen nur wenige Gewichtsprozent des Endprodukts ausmachen, können sie dessen Eigenschaften stark beeinflussen – dank ihrer insgesamt sehr großen Oberfläche und weil sie im Endprodukt homogen verteilt sind.
Eine derzeit sehr aktuelle Anwendung ist das bleifreie Löten. Weil das Metall Blei giftig ist, hat die EU beschlossen, dass (abgesehen von einigen Ausnahmen) ab 1. Juli 2006 nur noch Produkte in den Handel kommen dürfen, die kein Blei mehr enthalten. Dies betrifft die gesamte Industrie mit Produkten vom Handy bis zu den elektrischen Leiterplatten im PC, Auto oder Kühlschrank. Beim Löten wurde Blei bislang deshalb verwendet, weil es den Schmelzpunkt von Lötmetallen um 20 bis 30 °C auf mindestens 230 °C absenkt. Das ist nötig, damit die in den Baugruppen verwendeten Lacke, Klebstoffe oder Epoxidharze nicht unter den hohen Temperaturen leiden. Will man ohne Blei löten, braucht man Werkstoffe, die Temperaturen um 250 bis 260 °C aushalten.
Genau hier kommen die neuen Silicone ins Spiel. Ebenhochs Team hat so genannte Core-Shell-Materialien entwickelt, nanoskalige Hybridsysteme aus einem elastomeren Siliconkern und einem hitzebeständigen Mantel aus einem polymeren Acrylat. „Diese winzigen trojanischen Pferde verleihen dem Kunststoff genau die Eigenschaften, die unsere Kunden haben wollen“, erklärt Ebenhoch. Das Siliconelastomer im Kern gibt ihm die nötige Elastizität und Temperaturfestigkeit. Die Mantelschicht verbessert die homogene Verteilung und die chemische Anbindung zum Werkstoff und sorgt dadurch für gute mechanische Eigenschaften und eine ansprechende Optik des Werkstücks. „Der Trick mit der organischen Hülle erlaubt uns eine besonders flexible Einstellung der Endeigenschaften – ob nun eine besondere Viskosität gewünscht ist oder eine hohe Kompatibilität mit anderen Stoffen.“
Die ganze Bandbreite der möglichen Einsatzgebiete nanoskaliger Silicone ist noch gar nicht zu überschauen: Bisherige Ideen reichen von neuen Kunststoffen, die den hohen Temperaturen beim kathodischen Tauchlackieren standhalten, bis zu hochtemperaturbeständigen und tieftemperaturzähen Klebstoffen für die Automobil- und Flugzeugindustrie.
Zusammen mit Forschungsinstituten, Universitäten und innovativen Industriepartnern will Wacker die Materialien weiter optimieren und ausloten, welche neuen Anwendungen noch denkbar sind. Die Ausgangsbasis ist sehr gut: „Da wir die Entwicklung der Technologie seit Jahren intensiv vorantreiben, haben wir inzwischen ein breites Patent-Portfolio, auf das wir weiter aufbauen werden“, betont Ebenhoch. „Wacker ist derzeit das weltweit einzige Unternehmen, das nanoskalige Siliconelastomere anbietet – und für viele Einsatzgebiete gibt es dazu keine echten Alternativen.“
Dazu kommt, dass Wacker mit den Genioperl-Produkten eventuelle Probleme durch Stäube elegant umgeht, wie sie beim Verarbeiten herkömmlicher Nanopulver entstehen können: Ausgeliefert werden die Produkte nicht in Nanometergröße, sondern als normale Pulver mit Teilchendurchmesser um 50 µm (in der Dicke eines Haares). Erst wenn sie, etwa durch einen Extruder, im flüssigen Werkstoff verteilt werden, trennen sie sich in die nanoskaligen Partikel auf. Sie werden also erst im dispergierten Zustand im Lack, Harz oder Lösungsmittel zu den Siliconpartikeln mit den fantastischen Eigenschaften.
Nanopartikel bilden sich erst im Extruder aus
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