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Öl schmiert den Wirtschafts-Boom

Westkanada: Chancen für deutsche Industriebetriebe
Öl schmiert den Wirtschafts-Boom

Bodenschätze und Öl bescheren dem Westen Kanadas einen Boom. High Tech und Kapazität aus dem Ausland sind gefragt. Doch der Aufschwung findet weitgehend ohne den deutschen Mittelstand statt.

Von unserem Redaktionsmitglied Tilman Vögele-Ebering tilman.voegele@konradin.de

„Wir investieren hier über 10 Milliarden kanadische Dollar, in zwei Jahren läuft die Ölproduktion an“, sagt Réal Doucet. Der Senior Vice President der Canadian Natural Resources Limited (CNRL) steigt auf dem Privatflugplatz aus der Chartermaschine. Er deutet mit der Rechten auf Kräne und Stahlgerüste in der Ferne und lächelt bescheiden, was nicht recht zu der großen Summe, umgerechnet über 7 Mrd. Euro, passen will. „Wir werden viele Jahrzehnte hier arbeiten, dieser Boom hört so schnell nicht auf“, meint er. In zwei Jahren sollen 6000 Menschen in Mine, Baustelle und Raffinerie beschäftigt sein. 2012 erreicht der Komplex die volle Förderkapazität.
Im Norden der Provinz Alberta bei Fort McMurray liegt der Auslöser für einen Boom, der ganz Westkanada erfasst hat: Ölsand, ein Bitumen-Sand-Gemisch, das zu Schweröl weiterverarbeitet wird. Seit Alters her verwendeten die Ureinwohner die Masse, um Kanus abzudichten. Jetzt fördern 23 Firmen in über 50 Projekten Ölsand und weitere folgen. Innerhalb von 20 Jahren sollen 170 Mrd. kan-$ investiert werden. US-Amerikaner und Chinesen haben schon begehrliche Blicke auf das schwarze Gold geworfen und wetteifern um Pipelines.
„Die deutsche Wirtschaft kann von den Ölstaaten profitieren“, sagte Dr. Gerd Herx, Direktor der Bundesagentur für Außenwirtschaft (Bfai), Anfang des Jahres, als er die jüngste Studie präsentierte. Ausdrücklich nennt der Bfai-Chef Kanada als ein Land, das große Chancen für deutsche Firmen bietet. Doch die Blicke der deutschen Entrepreneure richten sich meist nach Russland und in die Golfstaaten.
Dies ist für die wenigen deutschen Unternehmer vor Ort schwer verständlich. „Der deutsche Mittelstand hat einfach Angst vor Kanada“, urteilt Jacobus F. Bouwman, deutscher Honorarkonsul mit Sitz in Calgary, „hier ist das Geld, hier lässt sich etwas bewegen, wenn man vor Ort ist.“ Sein Amtskollege Bernd Reuscher, Honorarkonsul und Unternehmer in Edmonton, pflichtet ihm bei: „Die Mittelständler in der Heimat fallen bei meinen Präsentationen fast vom Stuhl.“ Die Geschäftsmöglichkeiten seien unglaublich gut. „Es gibt hier einen großen Bedarf an deutscher Hochtechnologie.“
Kanada verfügt hinter Saudi Arabien über die größten förderbaren Ölvorkommen, die zwischen 180 und 315 Mrd. Barrel geschätzt werden. Mit dem steigenden Preis lohnt sich der Abbau des Ölsands im großen Stil. Steigt der Preis weiter, rechnet sich mit neuen Technologien der Abbau tiefer gelegener Schichten. Dann könnte das Volumen das von Saudi Arabien übersteigen, wie Justin Riemer betont, Executive Director der Wirtschaftsförderung Alberta in Edmonton. Die Brennstoffvorräte Kanadas könnten das Land 250 Jahre lang versorgen: Am Athabasca River in Alberta liegen Ölsandvorkommen, die etwa die Fläche Bayerns bedecken. Weiter westlich und im Norden des Landes gibt es große Gasvorkommen, die lange nicht erschlossen sind.
Diese Bodenschätze sind der Schmierstoff für einen Wirtschaftsboom, der sich hauptsächlich im Westen, in Alberta und British Columbia, abspielt. „Wir haben eine große Nachfrage nach verarbeitender Industrie und Zulieferprodukten aus der ganzen Welt“, betont Wirtschaftsförderer Riemer. Die Betriebe arbeiteten an der Kapazitätsgrenze. Die Rahmenbedingungen für Neuansiedlungen seien in Alberta glänzend, verspricht Riemer: niedrige Steuern, eine gute Infrastruktur in einer schuldenfreien Provinz. Vergangenes Jahr erhielt jeder Bürger per Scheck sogar 400 kan-$ (100 kan-$ = ca. 71 Euro) Steuern zurück. Die Regierung will langfristig Industrien fördern, die aus dem Rohöl hochwertige Weiterverarbeitungs-Produkte herstellen.
Ein großes Problem ist der Arbeitskräftemangel. „Wir benötigen in den kommenden drei bis fünf Jahren rund 100 000 Arbeitskräfte“, meint Riemers Kollegin Susan Henderson. „Ich muss Aufträge ablehnen, ich könnte sofort eine zweite Schicht in der Werkstatt einrichten, wenn ich die Mitarbeiter finden würde“, klagt beispielsweise Helmut Sontag, Geschäftsführender Gesellschafter der Metal Alloy Fabrication Ltd in Calgary. Der Deutschstämmige, der 1985 mit einer eigenen Bauschlosserei angefangen hat, beliefert heute die Industrie, die Bauindustrie und die Ölzulieferindustrie mit maßgeschneiderten Metallkonstruktionen. Derzeit beschäftigt er gut 40 Mitarbeiter, und nur die beiden Laserschneidanlagen laufen im Zweischichtbetrieb.
Ähnliche Sorgen hat John Cools, Produktionschef von Crown Energy Technologies aus Calgary, die mit 600 Mitarbeitern, die Ölbohrausrüstungen herstellt. „Bei uns darf jeder Überstunden machen soviel er will“, sagt der Manager, „wir schaffen es sonst nicht, die Aufträge abzuarbeiten.“ Gary Bosgoerd, Manager bei dem Ingenieur-Dienstleister Colt Engineering, kann sich ebenfalls vor Aufträgen nicht retten. „Wir suchen händeringend Ingenieure“, sagt er.
Dietmar Sedens, President von Domino Machine in Edmonton hat reagiert. Der Lohnverarbeiter, der knapp 100 Mitarbeiter beschäftigt, setzt auf Automation, um der Auftragsflut Herr zu werden. Gerade wurde ein neues Bearbeitungszentrum geliefert, ein weiteres ist bestellt. Der zuständige Maschinenbediener wird zukünftig zwei Anlagen simultan überwachen.
„Geld für Investitionen haben wir genug“, meint der Unternehmer gut gelaunt und klopft dem Vorarbeiter auf die Schulter, der gerade vom Service-Mann des Maschinenherstellers in eine neue Anlage eingewiesen wird. „Uns fehlen nur die Leute.“ Wirtschaftsförderer Riemer sieht in dem Verhalten einen Trend: „Der Arbeitskräftemangel führt bei uns dazu, dass die Nachfrage nach fortschrittlicher Verarbeitungstechnologie zunimmt.“
Abhilfe für den Arbeitermangel ist eingeleitet: Die Regierung hat vor kurzem ein Gastarbeiterprogramm genehmigt. Es soll Arbeitnehmern ermöglichen, befristet und unbürokratisch im Land zu arbeiten, ohne die strengen und langwierigen Einwanderungsprozeduren überstehen zu müssen. Auf Roadshows in Europa – in Deutschland in Essen, Leipzig und München – sind Anwerber unterwegs. Investiert eine ausländische Firma, darf sie ohnehin ihre Spezialisten mitbringen, wenn dies Technologietransfer beinhaltet, wie Alice Wong versichert, Expertin für Einwanderungsfragen bei der Provinzregierung in Edmonton.
Auch in der benachbarten Provinz British Columbia, deren Markenzeichen neben der Wirtschaftsmetropole Vancouver die Bergbauindustrie ist, profitiert man vom weltweiten Rohstoffboom, der die Preise für Bodenschätze in die Höhe treibt. Michael Track, Projektmanager beim Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, registriert ein großes Interesse an Investitionen in allen Industrie-Bereichen. Minen, die Anfang des Jahrtausends zeitweise schließen mussten, arbeiten heute hochprofitabel. Die ganze Wirtschaft profitiert von den so genannten Sekundär- und Tertiäreffekten.
Obwohl diese Minen Spitzenlöhne zahlen, müssen sie derzeit um ihre Spezialisten fürchten. So registriert man beispielsweise in der Highland Valley Copper Mine in Kamloops im Norden verstärkt Abwerbeversuche, wie ein Mineningenieur bestätigt. Im Visier sind Lastwagen- und Kranfahrer, die bis zu 30 kan-$ Stundenlohn plus Zuschläge verdienen. Ihnen werden verlockende Angebote unterbreitet: 10 $ mehr, Freiflüge zur Arbeit, freie Kost und Logis sowie ein dickes Handgeld. Das kann bis zu sechsstellig sein, wenn sich die Arbeiter für zehn Jahre beim neuen Brotherrn verpflichten. Die Absender dieser Angebote sind allesamt bekannt: die großen Ölsandfirmen.
Große Nachfrage nach Technologie aus der Alten Welt

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