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Schutzscheibe rettet Maschinenbediener

Polycarbonat nimmt 20-mal mehr Energie auf als Panzerglas
Schutzscheibe rettet Maschinenbediener

Polycarbonat bietet derzeit den besten Schutz vor herumfliegenden Teilen in Werkzeugmaschinen. Allerdings lassen Kühlschmierstoffe und Co. den Werkstoff schnell altern. Um das Rückhaltevermögen lange aufrecht zu erhalten, müssen PC-Scheiben entsprechend geschützt werden.

Von unserem Redaktionsmitglied Haider Willrett

Das Positive für uns war, dass unser Schutzfenster gehalten hat“, beschreibt Jürgen Seyffert seine Empfindungen, als er von einem schweren Unfall mit einer Drehmaschine hörte. Eine Spannbacke hatte sich bei hoher Drehzahl aus dem Backenfutter gelöst und die Schutzkabine völlig zerstört. „Wie man uns sagte, hat der Bediener überlebt, weil das Sicherheitsfenster die einzelnen Metallelemente der zerstörten Kabine zusammenhielt“, ergänzt der Junior-Chef der Sege Sicherheitsfenster GmbH in Fellbach-Schmiden.
Entscheidend für die hohe Festigkeit der Schutzscheibe ist ein besonders schlagzäher Werkstoff: Polycarbonat (PC). Eine 12 mm dicke PC-Scheibe kann mehr als 20-mal mehr Energie aufnehmen als ein 26 mm dickes Panzerglas. PC gilt derzeit als der beste Werkstoff für Sichtscheiben, die sich in der Flugbahn weggeschleuderter Teile in Werkzeugmaschinen befinden.
Doch auch die Medaille Polycarbonat hat ihre Kehrseite: Wegen der geringen Kratzfestigkeit und der mangelnden chemischen Beständigkeit des Kunststoffs müssen die Scheiben beidseitig geschützt werden. Andernfalls nimmt die Rückhaltefähigkeit in kurzer Zeit deutlich ab. „Zudem werden die Scheiben milchig oder trübe und bieten keine ausreichende Sicht mehr“, erläutert Seyffert.
In Zusammenarbeit mit dem Berufsgenossenschaftlichen Institut für Arbeitssicherheit (BIA) in Sankt Augustin untersuchte Sege 1996 das Alterungsverhalten von Polycarbonat. Aus einer speziell für solche Versuche entwickelten Kanone beschossen BIA-Techniker die Prüfkörper mit Normprojektilen. Grundlage der Versuche war der Entwurf der Norm DIN EN 12415. Das Ergebnis: Regelmäßig mit Schmierstoffen und Silikon benetzte Scheiben verloren bereits nach neun Monaten etwa 40 % ihres Rückhaltevermögens. Nach zehn Jahren erreichten ungeschützte Polycarbonat-Sichtscheiben gar nur noch 20 % ihrer ursprünglichen Festigkeit. Ganz anders verhalten sich Sicherheitsfenster, die auf der Bearbeitungsseite von einem Einscheiben-Sicherheitsglas (ESG) und auf der Bedienerseite von einer Polyethylen-Folie geschützt sind: „Selbst nach 13 Jahren zeigten unsere Scheiben bei den Tests keine altersbedingten Schwächen“, sagt der Junior-Chef zufrieden.
Aufgrund der Testergebnisse empfahl der Verein Deutscher Werkzeugmaschinenfabriken (VDW) e. V., Frankfurt/M., ungeschützte Polycarbonat-Scheiben spätestens nach zwei Jahren auszutauschen. Scheiben, die vor dem Einfluss von Kühlschmierstoffen, Spänen oder Funken geschützt sind, trauten die VDW-Experten damals eine Lebensdauer von fünf Jahren zu.
Bei Sege glaubte man jedoch, dass beidseitig geschützte PC-Sicherheitsfenster über einen noch längeren Zeitraum das erforderliche Rückhaltevermögen bieten. Deshalb regte Jürgen Seyffert 1999 eine zweite Versuchsreihe beim BIA an: „Aufgrund dieser Tests revidierte der VDW seine Empfehlung und rät nun, geschützte Sicherheitsscheiben nach einem Zeitraum von zwölf Jahren zu überprüfen und bei Bedarf auszutauschen.“
Anhand eines Musters erklärt der schwäbische Tüftler den Aufbau eines Sicherheitsfensters. Entscheidend sei, dass an der Polycarbonatplatte keine Spannungen auftreten, „denn die reduzieren die Rückhaltefähigkeit des Materials“. Das ist auch der Grund, weshalb die Produkte der Fellbacher zwischen der ESG-Scheibe und der Polycarbonat-Platte einen Luftzwischenraum von 4 mm aufweisen. Der Verbund ist mit Hilfe eines speziellen Elastomers, das Polycarbonat nicht angreift, in einen Edelstahlrahmen eingebettet. „Durch die schwimmende Lagerung“, erklärt Seyffert, „konnten wir das Rückhaltepotenzial gegenüber reinem Polycarbonat noch einmal um rund 30 Prozent verbessern.“
In der langen Lebensdauer und dem großen Rückhaltepotenzial sieht er auch wichtige Argumente für Unternehmen, die ihre gebrauchten Maschinen umrüsten oder modernisieren wollen. Um den nachträglichen Einbau so einfach wie möglich zu gestalten, entwickelten die Fellbacher einen Wechselrahmen, der die Montage ihrer Fenster in allen gängigen Schutzhauben ermöglichen soll. Der z-förmige Rahmen ist bereits vormontiert und mit dem Sicherheitsfenster verbunden. Die komplette Einheit wird von außen in den Ausschnitt der Schutzhaube eingesetzt und mit einem Gegenstück auf der Innenseite der Haube verschraubt. Dieses System nutzte auch die ZF Friedrichshafen AG, die in den vergangenen beiden Jahren rund 500 Maschinen selbst nachrüstete.
Unbedingt achten muss der Monteur dabei jedoch auf eine ausreichende Überdeckung der Scheibe mit der umgebenden Blechkonstruktion. Da Polycarbonat unter der Wirkung großer Geschossenergien stark durchbiegt, kann die Schutzscheibe sonst aus ihrer Halterung gedrückt werden. Der erforderliche Überstand richtet sich unter anderem nach
– der Form, Größe und Dicke der Sichtscheibe,
– der Steifigkeit, der sie umgebenden Blechkonstruktion, sowie
– der aufzunehmenden Energie.
Dank des modularen Aufbaus ihres Systems sind die Schwaben überzeugt, Fenster unterschiedlicher Dicken für fast alle Einsatzbereiche zu wirtschaftlichen Konditionen anbieten zu können. Auch für die Hochgeschwindigkeitsbearbeitung (HSC) seien die Schutzscheiben geeignet, meint Seyffert: „Unser stabilstes Fenster hält Hundert Gramm schwere Geschosse mit einer Geschwindigkeit von bis zu Dreihundert Metern pro Sekunde. Dazu müssen jedoch zwei zehn Millimeter dicke Polycarbonatplatten hintereinander angeordnet werden.“
Seyffert glaubt, dass sich viele Maschinenbetreiber „nicht bewusst sind, welche Kräfte und Energien frei werden, wenn zum Beispiel eine Spannbacke an einer Drehmaschine wegfliegt“. Um zu demonstrieren was ESG aushält, legt er eine Scheibe auf den Teppichboden seines Büros. Dann lässt er einen Gummihammer mit Wucht auf die Scheibe knallen, doch das Glas übersteht den Schlag unbeschadet. „Solche Experimente und der Begriff Sicherheitsglas wiegen viele Unternehmer in einer trügerischen Sicherheit“, sagt er. Trügerisch, denn 10 mm dickes ESG hat lediglich ein Rückhaltevermögen von rund 30 J. Verglichen mit den 8000 J einer 12 mm dicken Polycarbonat-Scheibe ist das lächerlich wenig.
Industrieanzeiger
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