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Schwebend oder wie die Eisenbahn: Maschinen entstehen im Fluss

Fließfertigung: Jetzt kommt die Werkzeugmaschine aufs Band
Schwebend oder wie die Eisenbahn: Maschinen entstehen im Fluss

Schwebend oder wie die Eisenbahn: Maschinen entstehen im Fluss
Werkzeugmaschinen werden jetzt am Fließband gebaut wie Sportwagen. Dieser Wandel in der Fertigungsphilosophie zahlt sich bei den deutschen Vorreitern der Branche in barer Münze aus. Mit Know-how aus der Automobilindustrie geht es nicht nur schneller, sondern auch günstiger.

Von unseren Redaktionsmitgliedern Tilman Vögele-Ebering und Jens-Peter Knauer

Die Montagezeit fast halbiert, die Produktivität um ein Drittel gesteigert, die Flächenproduktivität sogar um zwei Drittel – so klingen die Erfolge einer neuen Fertigungsphilosophie im deutschen Werkzeugmaschinenbau. Hersteller wie Trumpf aus Ditzingen oder Gildemeister aus Bielefeld setzen auf Know-how aus dem Automobilbau: Sie fertigen ihre High-Tech-Produkte am Fließband.
Nach der althergebrachten Lehrmeinung dürfte es diese Erfolge gar nicht geben. Dr. Mathias Kammüller von der Trumpf GmbH & Co. KG in Ditzingen kennt die Einwände zur Genüge, warum das Prinzip der Fließfertigung sich eben nicht für den Werkzeugmaschinenbau eignen soll: Das Band sei nur etwas für große Stückzahlen. Es sei nur sinnvoll bei kleinen Maschinen. Und man könne kaum Kundenoptionen und Varianten berücksichtigen, da eine Werkzeugmaschine zu komplex sei. „Diese Argumente haben sich sehr lange gehalten”, räumt der Geschäftsführer Produktion ein, „aber sie stimmen nicht, wenn man bereit ist, seine Fertigungsphilosophie zu verändern.”
Bislang haben die Ditzinger rund die Hälfte der Fertigung im Konzern auf Fließfertigung umgestellt. Dr. Kammüller verweist darauf, dass das Werk den momentanen Auftragsschub ohne diese Fließfertigung gar nicht bewältigen könnte – sonst würden sie die Kunden mit unzumutbaren Lieferzeiten vergraulen. Der Geschäftsführer zeigt sich dabei besonders stolz darauf, dass es einerseits schneller und andererseits kostengünstiger geht.
Die Methode, wie die Maschine zur nächsten Montagestation kommt, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Fließband ist nicht gleich Fließband: Trumpf stellt im Stammwerk Ditzingen ein 25 t schweres Monstrum von den Dimensionen einer Doppelgarage auf eine Luftkissen-Plattform. An acht Montage-Stationen wird aus dem Maschinenrohling eine betriebsbereite Stanz-/Lasermaschine Trumatic 600 L.
Im Elf-Stunden-Takt schweben alle Maschinen per Luftkissen eine Station weiter. Die Werker koppeln dazu die armdicken Nabelschnüre zur Druckluft-, Gas- sowie Stromversorgung ab. Der Schaltschrank mit der Steuerung bleibt verkabelt und läuft auf Rollen nebenher. Die fertig montierte Trumatic 600 L fährt schließlich von Station 8 zum Standplatz für den Testlauf. Eine andere Methode hat Trumpf Austria im Werk Linz gewählt: Dort stehen kleine Biegemaschinen von den Dimensionen eines Kleiderschranks auf rollengelagerten Paletten und kommen alle drei Stunden an die nächste Station. Seit letztem Herbst fließt auch eine größere Maschinenfamilie in einer Montagelinie. Auf Schienen im Acht-Stunden-Takt.
Fertigungsphilosophie der Japaner pragmatisch umgesetzt
Die Fließfertigung ist Audruck einer japanischen Fertigungsphilosophie, die in der Automobilindustrie gang und gäbe ist. Auslöser, sich näher damit zu befassen, sei ein Workshop der SPS Management Consultants des japanischen Unternehmensberaters Hitoshi Takeda gewesen, erzählt Dr. Kammüller. Trumpf-Abteilungsleiter und -Meister hatten diese Veranstaltung besucht. Ursprünglich hätten die Mitarbeiter nur daran gedacht, Rüstzeiten zu verringern oder Arbeitsvorgänge zu standardisieren. „Dass die Fließfertigung einen so großen Einfluss haben würde, wurde uns erst später klar”, erinnert sich der Trumpf-Geschäftsführer, der schließlich die SPS, die ihren deutschen Sitz in Bochum hat, auch als Berater mit ins Boot holte.
Dreh- und Angelpunkt ist der Kaizen-Gedanke, der ständige Prozess des Verbesserns. Firmenintern hat Trumpf das komplizierte japanische Gedankengebäude auf zwei Prinzipien und drei Methoden zurechtgestutzt und in einem Programm mit dem Namen Synchro umgesetzt. „Um es vermittelbar und praktikabel zu machen, haben wir das Ganze vereinfacht”, begründet Dr. Kammüller. Das erste Prinzip „Verschwendung vermeiden” ist ein entscheidender Aspekt. Dabei soll alles unterlassen werden, was keine Wertschöpfung, keinen Kundennutzen bringt. Das Prinzip betrifft alle Unternehmensbereiche: Ein großes Vorratslager ist ebenso Verschwendung wie eine komplizierte, automatisierte Maschine, wo es eine einfache Montagevorrichtung auch täte. Das zweite Trumpf-Prinzip ist die kundenspezifische Just-in-time-Produktion. Das bedeutet
– Fließen: Es gibt keine Puffer und keine Bestände;
– Takten: Die Arbeit wird in eine bestimmte Reihenfolge gebracht und in Zeitintervallen synchronisiert;
– Ziehen: Der Kundenauftrag zieht die Fertigung, der Hersteller fertigt keine Losgrößen mehr, sondern der Auftrag setzt die Produktion in Gang.
Drei Methoden sorgen schließlich bei Trumpf dafür, dass der so genannte Einzelstückfluss klappt:
– standardisierte Arbeit,
– einfache Logistik,
– einfache, kostengünstige, intelligente Betriebsmittel.
Ähnliche Prinzipien gelten bei der Gildemeister AG. Im Deckel-Maho-Werk Seebach in Thüringen hat der Werkzeugmaschinen-Konzern seit einem Jahr seine erste Fließstraße in Betrieb. Günter Bachmann, Geschäftsführer der Deckel Maho Seebach GmbH, deutet auf die leeren, frischgestrichenen Wände in der großen Halle und erinnert sich: „Früher waren dort überall Regale – wie in einem Lager, dabei ist es doch eine Montagehalle.” Das Material kommt jetzt auf einem orangefarbenen Kommissionierwagen zum Montageplatz. Bachmann zieht einen der ordentlich aufgeräumten Wagen heran: „Darauf hat jedes einzelne Teil seinen festen Platz.” Wie der Komissionierwagen auszusehen hat, illustriert ein Musterfoto mit genauer Beschreibung.
Die meisten Maschinentypen in Seebach werden noch am Standplatz gefertigt. Der Geschäftsführer bezeichnet dies als virtuelles Fließband. „Dort fließt das Material und nicht die Maschine.“ Ein Stockwerk tiefer hat jede Maschinenfamilie ihre eigene Komissionierzone, wo die Wagen bestückt werden.
Auf der Fließstraße fertigt Gildemeister in Seebach einen Maschinentyp: die Universalmaschine DMU 35, ein kleines Modell, etwa so groß wie eine Umkleidekabine und so schwer wie ein Pkw. „So eine Straße ist überhaupt nicht aufwendig”, erklärt Bachmann und deutet auf die im Boden eingelassenen Schienen, „das soll kein technisches Wunderwerk sein.” Neun Maschinen stehen in einer Reihe an ihren Stationen. Zwischen den Maschinen liegen simple Metallstangen als Abstandhalter in den Schienen. Alle sieben Stunden koppeln die Werker die Wagen mit Eisenstangen aneinander, und eine elektrische Seilwinde zieht die Linie wie eine Eisenbahn eine Station weiter.
Im Blickfeld der Werker hängt ein Großbildschirm an der Wand, der die Produktionszahlen und die verbleibende Zeit bis zum nächsten Takt aufzeigt. Bachmann – und auch die Mitarbeiter, wie er betont – haben das System schätzen gelernt. Die Transparenz der Fließfertigung bringt sofort jeden Missstand zu Tage. Wenn es irgendwo klemmt, stimmt etwas am Prozess nicht. Das Vetrackte des Ganzen liegt nämlich darin: Fließt das Material einmal nicht, stehen alle Räder still. „Das Prinzip sorgt für eine ungeheure Disziplin”, sagt der Geschäftsführer, „und es zwingt uns deshalb, das Verfahren immer weiter zu verbessern.“
Bachmann schreitet durch die Halle in die Pausenzone. Neben dem Kaffeeautomaten hängen Info-Tafeln an der Wand, die über das Produktions- und Logistikkonzept „Pull” informieren: Verbesserungsvorschläge, Statistiken, Prinzipien. Denn informierte Mitarbeiter seien Voraussetzung dafür, dass die japanischen Prinzipien klappen.
Der Kaizen-Gedanke, der in der Automobilindustrie mittlerweile fest verwurzelt ist, entstand in den 50er-Jahren bei Toyota. Aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage war der Hersteller gezwungen, die wenigen Mittel so effizient wie möglich einzusetzen und ständig zu verbessern. Jahrzehnte später kam der Gedanke in die USA, dann nach Europa. Anfang der 90er-Jahre, als die deutsche Kfz-Industrie in die Krise abzurutschen drohte, lernten die deutschen Automobilhersteller schließlich, diese Fertigungsphilosophie in ihren Montagehallen einzusetzen.
Gildemeister hat sich dieses Automobil-Know-how vor drei Jahren in Gestalt von Dr. Raimund Klinkner als Produktionsvorstand ins Haus geholt. Der ehemalige Porsche-Manager berichtet von den anfänglichen Ängsten der Mitarbeiter: Dass ihnen, den Facharbeitern, die anspruchsvollen Arbeitsinhalte genommen werden könnten. Ein Problem, das übrigens genauso bei Trumpf auftrat und ähnlich gelöst wurde. Ein Großteil der Umsetzung kam nämlich aus der mittleren Führungsebene und aus der Ebene der Werker selbst. „Wir wollen den Mitarbeitern nicht die attraktiven Arbeitsinhalte nehmen”, versichert Produktionsvorstand Dr. Klinkner. Denn bei diesem Punkt hinke der Vergleich mit dem Automobilbau. Während in der Fahrzeugfabrik der Arbeitsinhalt manchmal nur wenige Minuten umfasse, betrage er im Werkzeugmaschinenbau einen halben bis zu einem ganzen Tag.
In punkto Flexibilität und Geschwindigkeit sei das Fließprinzip unschlagbar, versichert der Gildemeister-Manager. Auftragsschwankungen sind im Gegensatz zur Standplatzmontage kein Problem. Dr. Klinkner: „Bei der Fließfertigung benötigt der Hersteller nur ein gutes Arbeitszeitmodell und lässt das Band länger laufen.” Auch Varianten lassen sich in den Griff kriegen, wenn die Prozessqualität stimmt. „Wenn der Kunde beispielsweise eine Außenverhaubung in seinen Firmenfarben wünscht, ist das logistisch kein Problem”, versichert Dr. Klinkner. Kommt an Station 1 die Maschine an, löst sie einen so genannten Pull-Impuls aus. Fünf Tage später schließlich steht die sonderlackierte Verhaubung an Station 6 bereit. Nur absolute Exoten müssen ausgeschleust oder an einem Extra-Standplatz gefertigt werden.
Die Zahlen sprechen für sich: Durch das Programm „Pull” habe sich laut Dr. Klinkner die Produktivität im Konzern um 30 % verbessert. Durch die Fließfertigung für die DMU 35 schafften die Gildemeister-Strategen weitere 37 %, also zwei Drittel bei einem Modell.
Derzeit soll die Fließfertigung auch an den anderen Standorten eingeführt werden – aber nur mit den Modellen, bei denen es laut Dr. Klinkner sinnvoll erscheint. Er plane nicht, eine Maschine unter einer Stückzahl von 200 pro Jahr auf einer Straße produzieren zu lassen, auch keinen komplizierten Mehrspindler. Die 35 t schweren Fräsmaschinen, die Deckel-Maho in Pfronten fertigt, will er ebenfalls nicht auf Paletten oder Schienen wuchten lassen. „Losgröße 1 zu fertigen ist unsere Philosophie”, versichert der Manager, „aber der wollen wir uns mit Augenmaß annähern.”
Industrieanzeiger
Titelbild Industrieanzeiger 6
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