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Schwingungen den Kampf angesagt

Adaptive Strukturen wehren sich aktiv gegen Störungen
Schwingungen den Kampf angesagt

Die Adaptronik befreit mechanische Konstruktionen von ihrem passiven Dasein: Anstatt nur Kräfte zu übertragen, können die Systeme zukünftig aktiv gegen Schwingungen vorgehen. Bei Papierwalzen hat sich dieses Funktionsprinzip schon bewährt.

Von unserem Redaktionsmitglied Olaf Stauß

Als Laie verstehe ich wenig davon – aber ich habe ein starkes Gefühl dafür, dass das von hoher Bedeutung für die Zukunft ist, was Sie hier entwickeln“, sagte Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe in seinem Grußwort zum „Adaptronic-Congress 2000“ in Potsdam. Mit seinem Statement dürfte er die Sicht der Veranstalter nur zum Teil getroffen haben. Für sie hat die Zukunft schon begonnen: Adaptive Systeme zur Schwingungsbekämpfung werden bereits industriell eingesetzt und sogar in Serie produziert. Wie sie prinzipiell funktionieren, ließ sich Stolpe bei seinem Rundgang an einem Demonstrationsobjekt zeigen: Auf einer Hantel mit eingebauter kleiner Plattform steht ein Glas Wasser. Weil die Hantel mit einer Schwingung beaufschlagt ist, vibriert die Wasseroberfläche stark. Auf Knopfdruck beruhigt sie sich sofort – obwohl der Schwingungserreger aktiv bleibt. Wie ist dies möglich?
Die Ingenieure haben parallel zur Hantelmasse einen Piezoaktuator angebracht. Angeregt durch ein elektrisches Signal erzeugt er eine Gegenschwingung und bringt so die Plattform in Ruhe. Dieses einfache Modell zeigt das ganz Neue an adaptiven Systemen, auch „Smart Structures“ genannt: Sie wirken nicht mehr nur passiv wie bisherige mechanische Strukturen. Vielmehr wehrt sich die Hantel gegen die Schwingung mit Hilfe des integrierten Aktuators. „Adaptiv“ (lernend) wird sie, indem sie sich auf Störungen einer größeren Bandbreite selbstständig einstellt. Zukünftige Konstruktionen lassen sich so viel leichter gestalten. Um Schwingungen zu bekämpfen, müssen die Entwickler nicht mehr mit Dämpfungmodulen oder Versteifungen arbeiten, die das Gewicht erhöhen. Professor Holger Hanselka vom Lehrstuhl für Adaptronik an der Universität Magdeburg sieht daher eine „Revolution“ auf die Technik zukommen: „In zehn oder zwanzig Jahren wird der Maschinenbau ohne die Adaptronik nicht mehr auskommen. Sie wird Bestandteil jedes Produktes sein.“
Lösungen zur Schwingungsreduktion sind bisher die Aushängeschilder der Adaptronik. Schon seit zwei Jahren arbeitet ein aktives System in der Papierfertigung bei der Voith-Sulzer GmbH & Co. KG in Heidenheim. Es baut störungsbedingte Eigenschwingungen von gegeneinander laufenden Walzenpaaren ab, bevor sie sich aufschaukeln können. Die Eras GmbH, Göttingen, konzipierte dafür ein System aus Wegsensor, adaptivem Regler und einem Linearmotor, der als Aktuator zwischen den Walzenlagern eingebaut ist. Es hat sich im Einsatz bewährt. „Teuer und noch nicht störungsfrei“ betont zwar Dr. Martin Kustermann, Produktverantwortlicher für Streichaggregate bei Voith-Sulzer. Dennoch zieht er eine positive Bilanz: „Ich bin hundertprozentig überzeugt davon, dass die Technologie eines Tages die Serienreife erreichen wird. Denn hier fahren wir einen Prototypen unter härtesten Einsatzbedingungen. Die Anlage läuft 365 Tage rund um die Uhr.“
Mit einer anderen Anwendung ist Eras in die Kleinserie gegangen. Die Göttinger haben im letzten Jahr sechs Notarztwagen mit aktiv schwingungsentkoppelten Krankenliegen für Babies ausgeliefert. Sie konnten nachweisen, dass die Systeme den Anforderungen an den Krankentransport besser gerecht werden als passiv gedämpfte Systeme. Besonders bei niedrigen Frequenzen bieten sie einen höheren Schutz. Demnächst soll der Preis auf das Niveau konventioneller Konzepte sinken (rund 15 000 Mark), und davon erwarten die Anbieter einen Durchbruch am Markt auch für den Transport von Erwachsenen.
Zusammen mit der Deutschen Bahn AG packt Eras ein weiteres Projekt an. Seit etwa zwei Jahren rüstet die Bahn ihre ICE-Züge wieder mit Vollstahl-Rädern aus. Sie bieten höchste Sicherheit, verursachen aber Anregungen, die von sensiblen Fahrgästen trotz starker Schwingungsdämpfung als störend wahrgenommen werden können. Ver-ursacht wird dies durch die unvermeid-liche Unrundheit der Räder, die während einer Laufleistung von mehreren 100 000 km noch zunimmt. Um den Komfort zu verbessern, erhielt Eras die Möglichkeit, auf dem Rollenprüfstand der Bahn die Schwingungen mit einem aktiven System zu mindern. Die Ergebnisse waren so gut, dass die Bahn den Auftrag gab, den Lösungsansatz weiterzuentwickeln.
Neben der Schwingungsisolation, wie sie Eras betreibt, bietet die Adaptronik vielversprechende weitere Anwendungsmöglichkeiten. Politiker wie Manfred Stolpe verlassen sich nicht nur aufs Gefühl, wenn sie Zukunftstechnologien wie die Adaptronik fördern. Das Bundesforschungsministerium rechnet mit einem Plus an 25 000 Arbeitsplätzen und einer Wertschöpfung von weltweit rund 120 Mrd. DM in den nächsten fünf Jahren.
NACHGEFRAGT
? Ist Adaptronik mehr als Regelungstechnik?
!Die Entwicklung geht von den Materialien aus. Tragende Werkstoffe sollen merken, wenn sie sich verformen und über ein elektrisches Signal selbst Verformungen erzeugen können. Dafür wird die Regelungstechnik als Instrument benötigt. Das Ergebnis sind Schichtwerkstoffe, die aus Struktur- und Funktionswerkstoffen aufgebaut sind.
? Können Sie ein Anwendungsbeispiel nennen?
! An Hautfeldern wie zum Beispiel einem Autodach treten immer störende Schwingungen auf. Unser Ansatz ist es, gezielt Funktionswerkstoffe einzusetzen, die diese Dynamik des Daches erfassen und die Schwingung über eine Gegenschwingung auslöschen. Dazu muss eine regelungstechnische Einheit ein Gegensignal errechnen.
? Was hat denn der Maschinenbau davon?
! Die Adaptronik wird eine Basistechnologie werden, die früher oder später jeder Konstrukteur beherrschen muss. Heute legt er seine Strukturen gemäß Pflichtenheft optimal aus und überlegt anschließend, wie Störungen zum Beispiel durch Schwingungen unterdrückt werden können. Zukünftig ist hier ein integrierender Ansatz von Nöten, der gleich in aktive Systeme mündet.
? Wie kann sich der Mittelstand an dieser Entwicklung beteiligen, die doch immense Kosten verursacht?
! Zunächst sind vor allem die großen Unternehmen und staatliche Forschungseinrichtungen in der Pflicht. Aber der Mittelstand muss die Entwicklung genau beobachten und rechtzeitig einsteigen. Vermutlich verläuft sie ähnlich wie früher bei den CAD-Systemen: Am Anfang haben nur die Großen solche Lösungen angeschafft. Aber heute ist selbst im kleinsten Maschinenbau-Betrieb ein CAD-System implementiert.
Industrieanzeiger
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