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So schnell kann doch kein Zahnriemen sein

Spritzgießmaschine: Lernfahrt optimiert das Entnahmegerät
So schnell kann doch kein Zahnriemen sein

Wenn nur eine geringe Masse zu bewegen ist, lässt sich ein hochdynamisches Entnahmegerät für Kunststoffteile mit einem Zahnriemen konstruieren. Damit es auch bei einer Beschleunigung von 8 g noch exakt positioniert, muss der passende Antrieb lernfähig sein.

Von unserem Redaktionsmitglied Dr. Birgit Oppermann

Eineinhalb Meter vor und wieder zurück in einer halben Sekunde, zwischendurch acht plus acht CD-Hüllen oder andere Kunststoffteile ansaugen und aus dem Spritzgießwerkzeug entnehmen – da kann ein Zahnriemen gar nicht anders, als Wellen zu schlagen. Dem Entnahmegerät macht das aber nichts aus, denn sein Antrieb hat gelernt, mit diesem Phänomen umzugehen.
Nur die erste Viertelstunde rüttelt es noch ein wenig an der Maschine, wenn sie eingefahren wird. „Nach dieser Lernfahrt wackelt nichts mehr, und das Entnahmegerät positioniert auf einen Zehntel Millimeter genau“, lobt Björn Stickan, leitender Entwicklungsingenieur bei der Bremer Andrive Antriebstechnik GmbH. Damit die Spritzgießmaschine mit möglichst kurzen Taktzeiten arbeiten kann, erreicht die Achse des Entnahmegerätes eine Geschwindigkeit von bis zu 8 m/s und beschleunigt mit bis zu 8 g. Dieser Dynamik sowie einer gewissen Ähnlichkeit mit einer Comic-Figur verdankt sie ihren Spitznamen: Bei den Bremern ist das Gerät als schneller Günther bekannt.
Damit der trotz Zahnriemen in den gut 15 min alles das lernt, was zum sicheren und ruhigen Positionieren erforderlich ist, haben ihm die Entwickler dezentrale Intelligenz mit auf den Weg gegeben. Dennoch soll er sich ohne besondere Ausrüstung in Betrieb nehmen lassen – „es ist eben immer noch ein Servo-Antrieb“, betont Stickan, „mit dem wir alle Vorgaben erfüllen.“ Dazu gehört, dass der Bremer Maschinenbauer Suhling Technik GmbH einen selbstzentrierenden Riemen mit Bogenverzahnung für die Konstruktion vorgegeben hatte. „Um so hohe Geschwindigkeiten zu erreichen, kam eigentlich nichts anderes in Frage“, fasst Suhling-Entwickler Gerhard Kropp zusammen. Kugelgewindetriebe seien zu langsam, bei einer Konstruktion mit Zahnstange und Ritzel hätte der schwere Motor mit verfahren müssen, und „bei einem Linearmotor hätten wir zwölf Kilo pro Schlitten mit beschleunigen müssen.“ Die jetzige Konstruktion bringt es hingegen auf insgesamt nur 20 kg – inklusive Schlitten, Energiekette, Umlenkrädern aus Kunststoff und einem Arm aus Kohlefaser. Im Vergleich dazu wäre auch eine Kette zu schwer gewesen, und Antriebsspezialist Stickan ergänzt: „Eine Kette längt sich bei diesen Geschwindigkeiten so sehr, dass wir das mit keinem Antrieb hätten kompensieren können.“
Die Schwingungen, die mit dem Zahnriemen entstehen, sind hingegen in den Griff zu kriegen. „Die Grunddaten für die Steuerung haben wir inzwischen vorliegen, so dass wir sie bei der Inbetriebenahme neuer Maschinen schon einspeisen können und nur noch an den speziellen Fall anpassen müssen“, berichtet Kropp. Welche Parameter beim Einfahren zu optimieren sind, haben die Antriebsspezialisten im Vorfeld ermittelt: Bei der Lernfahrt werden unter anderem Last und Trägheit der Maschine berücksichtigt und gespeichert. So passt die Steuerung ihre Vorgaben für den Antrieb solange an, bis das Anfahren und Stoppen ohne Schwingungen am langen Arm funktioniert.
In dieser kurzen Phase arbeitet das Entnahmegerät selbstständig und ändert dynamisch die Werte. Dieser Vorgang wird wiederholt, bis die Bewegung praktisch nicht mehr geregelt werden muss, sondern einfach gesteuert werden kann, lobt Stickan.
Für den Dauerbetrieb ist ein solches permanentes Optimieren zwar prinzipiell möglich, aber bisher nicht vorgesehen. „Das hielten wir für zu gefährlich“, sagt der Entwicklungsleiter, „Veränderungen bei der Entnahmefunktion sollten immer noch vom Servicetechniker bestätigt werden.“ Dass die Maschine lernfähig ist, kann der Wartungsfachmann aber dennoch für sich nutzen. „Wenn nach einem Jahr beispielsweise Verschleiß an den Führungen auftritt, lässt sich die Lernfahrt ohne Probleme wiederholen, um solche Veränderungen auszugleichen.“ Das Gleiche gilt, wenn die Vorgaben für die Produktion verändert werden.
Den Linearmotor haben die Messebesucher vergeblich gesucht
Nachdem der Hersteller Suhling das Entnahmegerät eingefahren hat, wird es komplett an die Anwender ausgeliefert: Sie produzieren sehr dünne Kunststoffteile und sind vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien, Belgien und der Schweiz angesiedelt. Auch auf hiesigen Messen haben die Geräte der Bremer bereits Aufmerksamkeit geweckt: „Es kamen Besucher, die ganz erstaunt den Linearmotor und die zugehörigen Kabel gesucht haben“, berichtet Entwickler Kropp und lächelt: „Dank des AntriebsKnow-hows, das in dieses Produkt geflossen ist, können wir es uns aber leisten, einen so dynamischen Antrieb mit Servos und Zahnriemen zu konstruieren“.
Im Prinzip lässt sich diese Idee inklusive der Lernfahrt laut Andrive-Mitarbeiter Stickan auch auf andere Maschinen übertragen, wobei auch größere Massen bewegt werden können: „Denkbar wäre so ein Verfahren zum Beispiel auch für große Schleifmaschinen oder hochdynamische fliegende Sägen.“
Nachgefragt: „Bei schnellen Bewegungen kann ein Zahnriemen die bessere Lösung sein als ein Linearmotor“
Riemen mit Miniaturzähnen gibt es bisher kaum. Trotz technologischer Probleme zählt Dr. Thomas Nagel, Zahnriemenspezialist am Institut für Feinwerktechnik der TU Dresden, die Miniaturisierung zu den Trends.
? Herr Dr. Nagel, welche Trends bestimmen die Entwicklung bei Zahnriemenantrieben?
!In den letzten Jahren haben die Hersteller sogenannte Hochleistungsprofile mit besonderer Verzahnung und verbesserten Materialien entwickelt. Auf die geringere Geräuschentwicklung und selbstführende Eigenschaften der Riemen haben beispielsweise die Entwickler von Pfeil- und Bogenverzahnungen ihr Augenmerk gelegt. Diese Zugmittel eignen sich für schnelllaufende Antriebe. Da keine Bordscheiben mehr erforderlich sind, kann die Gesamtkonstruktion kompakter ausfallen. Abgesehen davon rechne ich damit, dass die Hersteller die Materialien weiter verbessern werden – schon heute sind Spezial-Riemen als echte Alternative zu Ketten zu sehen.
? In welchen Gebieten machen die Zahnriemen anderen Antriebsvarianten Konkurrenz?
! Im Bereich Handling und Robotik laufen bereits einige Systeme erfolgreich mit Zahnriemen anstelle von Ketten oder Flachriemen. In der Lineartechnik wiederum ist der Hauptkonkurrent der Kugelgewindetrieb, der zwar sehr präzise sein kann, aber bei langen Linearantrieben aufwendige Konstruktionen erfordert, um die Schwingungen der Spindel zu vermeiden. Solche Zwischenlagerungen sind für Zahnriemen nicht erforderlich. Und was die Präzision angeht, leisten die Riemen Beachtliches: Fünf Hundertstel Millimeter sind bei der Wiederholgenauigkeit kein Problem.
? Inwiefern überschneiden sich die Einsatzmöglichkeiten von Zahnriemen und Linearmotoren?
! Mit Linearmotoren können Sie Beschleunigungen erreichen, bei denen ein Zahnriemen in Fetzen fliegen würde. Auch die Präzision eines Direktantriebs wird in Zukunft nicht mit einem Riemen zu erreichen sein. Aber nicht alle Anwendungen, die eine hohe Geschwindigkeit erfordern, fallen in den High-End-Bereich. Angesichts der Kosten und des Steuerungsaufwands bei Linearmotoren ist abzuwägen,ob Zahnriemen nicht die die bessere Lösung sind. In Kombination mit Servomotoren sind solche Zahnriemenantriebe im Handlingbereich schon als Standardlösungen anzusehen.
? Wo sehen Sie zukünftige Einsatzgebiete von Zahnriemen?
! Bisher sind Miniaturverzahnungen noch ein weißer Fleck auf der Landkarte der Getriebe. Ich vermute, dass das sowohl an Problemen technischer Art als auch an den bisher geringen Stückzahlen liegt. Aber bei dem generellen Trend zur Miniaturisierung werden zukünftig sicher mehr Einsatzmöglichkeiten entstehen. Auch heute gibt es schon sehr kleine Zahnriemen, die beispielsweise in Fotoapparaten verwendet werden oder in Präzisionsverstellgeräten. op
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